Olympia-Bilanz: Hinterm Horizont geht’s weiter

Weiter ungelöster Problemberg für das IOC / Deutsche Bilanz auf den ersten Blick Erfolgsmagie

Berlin/Pyeongchang, 25. Februar. „Spiele neuer Horizonte“ waren die Olympischen Winterspiele in Südkorea, die am Sonntag zu Ende gingen, nach Meinung des Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach. Welche Horizonte das sind, ließ er offen. Oder doch nicht: Neue Horizonte (gibt es eigentlich mehrere?), so kann man den IOC-Präsidenten dann doch verstehen, sind in erster Linie neue Geldquellen. Ein Silberstreif in eigener Sache ist an diesen Horizonten jedoch nicht zu erkennen: Weder was die Bekämpfung von Doping, Gigantismus, Korruption oder was die mangelnde Mitsprache der AthletInnen angeht. Oder hat sich Bach an Udo Lindenbergs Lied „Hinterm Horizont geht‘s weiter, zusammen sind wir stark… Das kann nicht das Ende sein, sowas Großes geht nicht einfach so vorbei“ erinnert? Nun, wie dem auch sei: Die Südkoreaner waren freundliche Gastgeber, haben technisch und organisatorisch alles ziemlich gut auf die Reihe bekommen. Die Ausrichter haben sich das Lob verdient, im Gegensatz zum Veranstalter IOC. Was kommt also hinterm olympischen Horizont? Der Phönix aus der Asche bei den Spielen in Peking 2022?

Acht Stunden Zeitunterschied zum Beispiel zu Europa taten der Olympiastimmung in den entfernten Heimatländern nicht unbedingt gut – der Zeitplan, fernseh- und sponsorengerecht zugeschnitten, ließ viele auch sportinteressierte Zuschauer müde abwinken. Zusammenfassung ja, Rest nein. Jedenfalls bis zum Beginn des Eishockey-Krimis.

Aber der Reihe nach.

3000 AthletInnen aus 92 Ländern waren diesmal gemeldet, ein Rekord. Aber es wurde wieder einmal deutlich: Winterspiele sind eigentlich eine Veranstaltung für einen kleinen Nationenkreis mit elitären Teilnehmer-Gruppen, die die Siege unter sich ausmachen. Und die keine Spiele der Jugend der Welt sind. Warum? Viele TeilnehmerInnen haben schon aufgrund klimatischer Bedingungen mit Bob und Rodeln oder Biathlon und Curling keine gleichen Vorbereitungs- geschweige denn Wettbewerbsvoraussetzungen, auch wenn einige zwischendurch in Kanada, den USA oder Europa trainieren. Trotzdem verkörpern gerade diese StarterInnen von Südseeinseln oder aus Afrika wenigstens noch einen Hauch olympischen Spirits. Für sie gilt: Dabei sein ist alles! Dabei ist dieses Motto eine Sache des Standpunktes. „Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.“ Diesen Satz von Antoine de Saint-Exupèry werden Athleten besonders auch nach diesen Spielen anders sehen als die Funktionäre.

Wir wollen uns der Zukunft stellen“

Die Blickrichtung des IOC scheint nach den Winterspielen in Pyeongchang weiter auf „citius, fortius, altius“ im Bezug auf Kommerz, Medien und Wachstum gerichtet zu sein. Neue, lukrative Betätigungsfelder im Auge, altes am besten verdrängen oder aussitzen. Kritik an der Ressourcen-Zerstörung, an überzogenen Anforderungen an Veranstalter, die diese oft nicht nur beim Bau der Infrastruktur an finanzielle Grenzen bringt? Geschenkt. Was soll das Genörgel? „Wir wollen uns zusammen der Zukunft stellen“, so der Appell Bachs während einer emotionalen bunten Abschlussfeier in seiner nichtssagenden Rede. Wessen Zukunft bitte?

Wie zum Beispiel steht es in Zukunft um den Umgang mit dem Dopingproblem, ganz zu schweigen von dessen Lösung? Bis Sonntag kurz vor der Abschlussfeier taktierten das IOC und sein Präses herum, wie man denn nun mit den Russen umgehe. Was war da nochmal?

Zwei neue Dopingfälle im russischen Team. Mal abgesehen von der Frage, wie dämlich ein/e SportlerIn sein muss, verbotene Mittel einzuwerfen, wenn man schon ohnehin in heftigen Turbulenzen steckt, so stellt sich erst recht die Frage, ob und was sich der russische Curler Alexander Kruschelnitzki (Bronze im Mixed) und der Bobfahrerin Nadeschda Sergejewa (12. im Bob) gedacht haben, als sie die verbotenen Mittel eingeworfen haben. Ist der Ruf schon ruiniert…

Im Rotieren

Jedenfalls kam das IOC wegen des Duos mal wieder ins Rotieren und in die Bredouille. Wollte doch vor allem Bach die Russen, die wegen systematischen Dopings mit dem Großteil ihrer Mannschaft von den Spielen ausgeschlossen worden waren, bei der Schlussfeier wieder zulassen. Das Rumpfteam, das als Olympische Athleten Russlands (OAR) mit neutralen Klamotten und hinter neutraler Flagge am Start war, sollte bei der Schlussfeier wieder in russischen Nationalfarben gekleidet und eigener Fahne einlaufen dürfen. So die Überlegung. Was aber die beiden Ertappten gründlich vergeigten.

Die Causa Russland wird die olympische Familie noch weiter beschäftigen, das ist sicher. Auch wenn krampfhaft versucht wird, einen Schlussstrich zu ziehen. Das langjährige kanadische IOC-Mitglied, der ehemalige WADA-Präsident Richard Pound, wurde von seinen Kollegen nahezu abgestraft, als er öffentlich zu sagen wagte, dass er das Doping-Management des IOC ziemlich daneben findet. Keiner unterstützte ihn. Allerorten gab es Lob für Bachs Krisenlösung.

Pound ging aus Protest nicht zur Abschlussfeier. War auch gut so, denn Bachs Auftritt hätte ihn sicher wieder geärgert. Es hätte dem IOC-Boss gut angestanden, wenn er wirklich zu neuen Horizonten aufbrechen will, gegen  mangelndes Vertrauen und Glaubwürdigkeit etwas zu tun: Er hätte etwas zur Dopingproblematik und Lösungsansätzen sagen müssen. Aber hat das wirklich jemand erwartet? Dass das IOC Geradlinigkeit zeigt, zu Fehlern steht?

Bach wollte mit einem anderen Image glänzen: als „Friedenstaube“, und da vermasselt er sich doch nicht mit lästigen Themen und selbstkritischen Bekenntnissen die Feier. So setzte er den Sport mal wieder als Brückenbauer der Politik in Szene und feierte sich als Baumeister der Annäherung zwischen Nord- und Südkorea.

Immerhin fand er Worte des Bedauerns für die Akteure, die sich bei den Skicrossern und Freestylern im wahrsten Sinne des Wortes fast den Hals gebrochen haben. Menschen, Rekorde, Sensationen – das befördert das IOC doch gerne, auch wenn man dafür noch mehr als Knochenbrüche riskiert. Dabei müsste das IOC samt zuständiger Verbände schon beim Anlagenbau dafür sorgen, die einzelnen Sportler zu schützen – und sei es vor sich selbst.

Zynisch

So hört sich der Dank an die AthletInnen für ihren „Optimismus, den sie dem IOC gegeben haben“, und ihr Fair play zynisch an aus dem Mund des IOC-Präsidenten, der einst selbst Athletenvertreter war.

Es packt einen selbst Sarkasmus, erlebt man die, die sich gestern noch erschüttert und betroffen von Doping und halsbrechischen Stürzen zeigten, bei der nächsten Medaille in Rudel-Euphorie ausbrechen. Bedenkenträger war gestern, Jubel-Nudel ist heute.

Schon wieder die nervige Frage nach den „u. M.“ – unterstützenden Maßnahmen, wie das so schön verschleiernd in der ehemaligen DDR hieß, wenn man Athleten vollpumpte: Das Doping-Gespenst war auch in Pyeongchang mit am Start. Natürlich würde der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), Alfons Hörmann, gerne nur über die deutschen Erfolge sprechen. Aber auch er muss sich dem Problem stellen, das zwei Wochen lang in allen Facetten diese Spiele begleitete: Misstrauen allerorten – nicht nur gegen die Russen. Auch die Norweger gerieten in den Fokus, weil sie mit einer Menge Asthmapräparaten im Gepäck nach Südkorea anreisten.

Der Laie wundert sich? Asthmatiker? Kann der überhaupt so lange in der Loipe laufen? Der hustet und japst doch nur! Bei AthletInnen in der Loipe sind solche Mittel in Gebrauch. Auch Schwimmer greifen gerne mal zum Spray. Diese Medikamente sind eigentlich  verboten, dürfen aber bei medizinischer Indikation verabreicht werden. Dafür bekommt man dann eine Ausnahmegenehmigung, die TUE.

Und schon befindet man sich in einem Graubereich des Anti-Dopingkampfes.

Keinen einzigen

Natürlich musste sich nun auch Hörmann von JournalistInnen vor Ort dazu befragen lassen – die deutsche Überlegenheit der BiathletInnen ist manchen doch unheimlich.

Nehmen deutsche AthletInnen Asthmamittel? Da musste der DOSB-Präsident passen. Aber er war sich ganz sicher: Es gebe im deutschen Kader keinen Athleten, der mit einer medizinischen Ausnahmegenehmigung an den Start gegangen sei, „keinen einzigen“. Schon vor einer Woche hatte der DOSB-Chef sich für die Aktiven verbürgt: Sämtliche DOSB-Sportler sind „manipulationsfrei am Start“, zitiert ihn der Spiegel.

Und da ist es ihm dann doch lieber, nochmal auf die Russen zu kommen – und darauf, wie das denn nun weitergehen soll. Vor Rio und während Rio und noch vor einer Woche war Hörmann ganz auf der Eiertanz-Linie von Bach. Jetzt hört sich das anders an: „Ich habe bisher noch keine reumütige, um Entschuldigung bittende Haltung bei Russland erkennen können. Ich würde mir wünschen, dass der Beobachterstatus Russlands noch zwei Jahre bis Tokio aufrecht erhalten bleibt.“

Der geschäftsführende Bundesinnenminister Thomas de Maizière, begeistert über die deutschen Erfolge, sagte, es sei „ein wichtiges und richtiges Signal“ gewesen, die Suspendierung der Russen für die Schlussfeier nicht aufzuheben. „Ich erwarte jedenfalls nach dieser Entscheidung mehr denn je, dass Russland sich jetzt endlich mal klar positioniert, sich eindeutig zu den eignen Fehlern bekennt und Konsequenzen zieht.“

Nun wollen wir hoffen, dass da in keiner Richtung noch irgendetwas nachkommt – das Doping-Gespenst ist allgegenwärtig und überall. Und 15 000 Proben in Deutschland, die die Nationale Anti-Doping-Agentur durchzieht, womit sie „Deutschland zu einem der führenden Länder im Kampf gegen Doping gemacht hat“ (de Maizière), ist ein Beleg für alles und nichts. Gehen wir davon aus, dass bei den deutschen AthletInnen alles auch nichts ist.

Athleten-Währung

Dirk Schimmelpfennig, Vorstand Leistungssport und in Südkorea Chef de Mission, ist ein eher nüchterner Mensch. Aber der Medaillenregen (nach 19 in Sotschi sind es diesmal 31, davon 14 goldene, 10 silberne und 7 bronzene), für den die deutschen AthletInnen sorgten, versetzte ihn nahezu in Euphorie. Und wenn man die Platzierung noch dazu zählt, dann kann man das aus seiner Sicht gut verstehen. Nicht zuletzt auch unter dem Aspekt der umstrittenen Leistungssportreform, für die der DOSB-Präsident nun offensichtlich die Gunst der Stunde nutzen will, 60 bis 120 Millionen mehr pro Jahr in einigen Interviews fordert. Ob das so geschickt ist? Er weiß es besser. Jedenfalls in der „Berliner Morgenpost“. „Zuallererst muss sich jetzt die Politik sortieren, dann kann man Gespräche führen, zügig und klar.“ Genau das wäre die richtige Taktik. Und da kann man dann auch mit Zahlen um sich werfen.

Gute oder schlechte Taktik – egal: Im Deutschen Haus in Pyeongchang war Dauer-Party angesagt. Das kam jedenfalls bei den Daheimgebliebenen so an, die sich schon fragten, ob es denn genug Sektflaschen gibt. Oder man am Ende noch zu Selters greifen müsse.

Hörmann hatte vor den Spielen gesagt, ihm sei der erste Platz im Fair Play wichtiger als im Medaillenspiegel. Das glaubt man ihm nicht so recht. Im Gegensatz dazu sagt Schimmelpfennig, dass Medaillen nicht nur „der Maßstab dafür sind, dass man sagt, man ist wieder zurück unter den Spitzennationen“, sondern es wichtig sei „etwas Handfestes für die erbrachten Leistungen zu bekommen – und da sind die Medaillen sicherlich auch für die Athleten immer noch die Währung“.

Medaillen hin oder her: Für wirkliche Olympiastimmung haben dann erst die Eishockey-Spieler gesorgt. Denn bei RodlerInnen, BobfahrerInnen, Nordisch Kombinierten – läuft alles nach Schema F: Fast immer dieselben Protagonisten, die Wettbewerbe fast immer mit identischen Ablauf. Die Konkurrenz hält sich in Grenzen. Langeweile macht sich breit. Aber es sind halt die deutschen Medaillenbänke – seit Jahrzehnten. In die buttert man auch Geld. Und übrigens sind genau diese Sportarten gute Beispiele für Umsetzungsziele in der neuen Reform: Zentralisierung und Konzentration von Kadern und Trainingsstätten. Das letztere gilt auch für die SkispringerInnen, die bei diesen Spielen vor allem unter dem Zeitfenster und dem Zuschauermangel leiden mussten – und trotzdem ihre Leistung brachten.

Talfahrt gestoppt

Mit der Medaillenausbeute sah es seit 2002 nicht sehr rosig aus. Nun sei die Talfahrt gestoppt, ja man mische also nun wieder ganz vorne mit. Der „Ausrutscher Sotschi“ ist vergessen. Von den anderen Ausrutschpartien redet schon keiner mehr. Schneemagie und Winterzauber hat alle erfasst. Aber so stimmt das nicht: denn in drei Kernsportarten – Langlauf, Ski alpin und Eisschnelllauf – blieben deutsche Athleten auf der Strecke. Wobei die Alpinen noch das Pech hatten, dass Felix Neureuther und Stefan Luitz nicht teilnehmen konnten. Die Snowboarder hatten auch mit mehr Medaillen-Klimbim gerechnet.

Ach, noch mal zur Olympiastimmung: Hörmann behauptet, es sei super gewesen. Naja, mit den Zuschauern nicht immer. Aber beim Eishockey. Die Tribünen waren halbleer, aber der DOSB-Präsident sagt, da hätten ja Sponsoren Plätze gekauft. Um so schlimmer, wenn dann da keiner sitzt, wo die Sponsoren die Karten verschenken können. Hörmann beharrt auf Olympiafeeling beim Gespräch im ZDF. Wer täglich was zu feiern hat, entwickelt da wohl eine eigene Wahrnehmung. So richtig wach jedenfalls haben wir zu Hause vieles nicht erlebt, und morgens war müdes Abwinken angesagt. Den magischen Moment des Eiskunstlaufpaares Aljona Sawtschenko/Bruno Massot – noch verpennt. Bis dann die Eishockey-Spieler aufliefen. Nee, da rieb man sich schon die Augen. Was war nun los? Bundestrainer Marco Sturm (ein Name, ein Programm) und seine Mannen ließen einen staunen. Spätestens als sie ausgerechnet K A N A D A, wo schon jeder Eishockey mit der Muttermilch aufsaugt, aus dem Rennen warfen, freuten sich die Deutschen zu Hause mit. Warum? „Weil die sich reinhängen, fighten und nicht zicken und rummeckern“, fasste es ein Fan zusammen. Manche mögen sich an die Spiele 1976 in Innsbruck erinnert haben, als die deutschen Cracks Bronze mit dem legendären Pepitahut-Träger und Bundestrainer Xaver Unsinn holten. Einer war damals als Stürmer dabei: Franz Reindl, heute Präsident des Deutschen Eishockey-Bundes. Für ihn waren es sicher ganz besondere 60 Minuten gegen das favorisierte russische Team, das sich dann mit 4:3 in der Verlängerung durchsetzte. Ein Freund aus Kanada mailte heute Morgen: „Anerkennung für die Superleistung und den Klasse-Auftritt eurer Jungs.“ Das ist ihm, der ein Crazy Canuck ist, sicher nicht leicht gefallen, angesichts der Pleite, wo doch Kanada sich als die Mutter des… na ja, bohren wir nicht in der Wunde.

Nun aber noch eine Frage: Welchen Verdienst hat der DOSB an dieser Silbermedaille? Keinen. Es sind die renommierten und traditionellen Vereine und der Verband, die für diesen Erfolg mit guter Nachwuchsarbeit stehen. Das gilt auch für Sawtschenko/Massot, die Paarläufer, die sich als Zweier-AG quasi abgenabelt haben, um sich ihren Olympiatraum zu erfüllen.

Trotz aller nationalen Jubelarien – die Spiele von Pyeongchang zeigen, dass der Trend zum olympischen Spektakel nicht aufzuhalten ist, was besonders beängstigend bei den Snowboardern und Freestylern zu sehen war. „The show must go on“, koste es, was es wolle, ist das Motto, das die elitäre Rentner- und Businessgang, die sich IOC nennt, ausgegeben hat. Rette sich, wer kann. Oder leiste Widerstand: Richard Pound hat die AthletInnen dazu aufgerufen.