Wie der DOSB in die Krise stolperte

Eine verheerende Bilanz und der Versuch eines Neustarts

Berlin, 21. September. „Die Zeit ist nicht stehen geblieben. Die allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen spülen neue Wertvorstellungen in die Sportbewegung hinein, der organisierte Sport hat eine Vergangenheit, die ihn verpflichtet, und eine Zukunft, vor der er Verantwortung trägt… Er beansprucht für sich die Anerkennung seiner gesellschaftspolitischen Leistung, seiner Gemeinnützigkeit und seiner Solidarität. Diesem Anspruch muss er gerecht werden.“ Das schrieb der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Sportbundes (DSB) Karl-Heinz Gieseler anläßlich des 50-jährigen Jubiläums des DSB. Zwei Jahrzehnte später sind die Sätze aktueller denn je. In diesen Tagen ist im deutschen Sport immer wieder der Satz zu hören: „Wir sind uns unserer Verantwortung bewußt.“ Das ist zu hoffen. Denn der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) steckt in seiner größten Krise, seit er 2006 in der Frankfurter Paulskirche mit großem Pathos aus der Taufe gehoben wurde.

Nun soll nicht nur eine achtköpfige Findungskommission, angeführt vom ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff – unterstützt von einer Düsseldorfer Personalagentur – einen honorigen Menschen als geeigneten Kandidaten oder Kandidatin für das Präsidenten-Amt des DOSB finden. Auch drei Arbeitsgemeinschaften (AG) mit den Aufgaben Inhalt, Struktur und Personal mühen sich nun seit einem Vierteljahr um einen Neuanfang des organisierten Sports und seiner Dachorganisation. „Wir müssen ja nun den DOSB nicht völlig in Asche legen, sondern wir wollen neue Leitplanken, eine Art Handreichung erarbeiten. Es gibt eine klare Satzung, in der die Rollen klar definiert sind. Das Präsidium als Aufsichtsgremium und der Vorstand, der für das operative Geschäft steht“, hatte Jörg Ammon, Präsident des Bayerischen Landessportbundes (BLSV), Sprecher der Landessportbünde und in dieser Eigenschaft einer der Koordinatoren des Neuanfangs, in einem Gespräch mit Sportspitze gesagt.

Zwischenstand

Ammon gab am Dienstag bei einer Online-Pressekonferenz zusammen mit seinen Koordinierungs-Kollegen, dem Basketball-Präsident und Sprecher der Spitzenverbände Ingo Weiss, sowie Uwe Tronnier, der die Sprecherin der Verbände mit besonderen Aufgaben, Barbara Oettinger vertrat, einen Zwischenstand der Reset-Bemühungen. Und zugleich erläuterte er den Zwölf-Punkte-Plan, den die AGs erarbeitet haben. Deren vorliegende Berichte sind nicht nur eine Analyse des Ist-Zustandes, sondern zeigen schonungslos Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit auf. Und beantworten auch teilweise die Frage, wie es überhaupt zu der Krise kam.

Ingo Weiss möchte nicht zurückschauen, sondern zukunftsorientiert sein, wie er am Dienstag sagte. Doch für einen Neustart ist gerade der Blick in die Vergangenheit des DOSB wichtig.

Fehler schnell sichtbar

Denn die Fehler und Versäumnisse des Konstrukts DOSB wurden schon bald nach der umstrittenen und nicht von allen gewollten Fusion von Nationalem Olympischen Komitee von Deutschland (NOK) und dem Deutschen Sportbund sichtbar. Kräfte bündeln, mit einer Stimme sprechen und vor allem den Spitzensport zu olympischen Höhen katapultieren – das waren die Ideen für die DOSB-Geburt. Ein ausgewiesener Fusions-Gegner und deren Wortführer – vor allem der widerspenstigen Wintersportverbände – war der damalige Skipräsident Alfons Hörmann. „Wir fordern die Verantwortlichen von DSB und NOK noch einmal eindringlich auf, gemeinsam mit dem Spitzensportverbänden und Landessportbünden eine sinnvolle und zukunftsorientierte Struktur zu entwickeln und den Fusionsprozess noch einmal tiefgründig ziel- und ergebnisorientiert zu diskutieren“, verlangte er damals.Warum er allerdings dann in dieser „Fehlkonstruktion“ Präsident wurde, müsste er nochmal erklären. Hörmanns Forderung erlebt eine Renaissance: Mit Spitzensport und Breitensport wieder auf zwei Gleisen zu fahren, wird jetzt ernsthaft diskutiert.

Gras drüber

„So eine Krise, wie wir sie jetzt haben, hat der deutsche Sport nicht gewollt. Da sind wir versehentlich reingestolpert.“ Die Aussage eines deutschen Sportfunktionärs braucht Erläuterung. Der anonyme Brief aus der Mitarbeiterschaft habe zwar ein mittleres Erdbeben ausgelöst, aber viele hätten gedacht, dass man das aussitzen beziehungsweise händeln könne nach üblichem Muster: beschwichtigen und Gras drüber wachsen lassen. Aber diesmal habe das Krisenmanagement à la DOSB nicht funktioniert. Die Reaktionen von Präsident, Präsidium und Vorstand hätten eine ohnehin schon echauffierte Öffentlichkeit noch mehr aufgebracht. Und „dann hat sich das alles verselbständigt. Und jetzt sind wir da, wo wir sind.“

Ein Widerspruch

Krisenmanagement und DOSB – das ist ein Widerspruch in sich. Die Führungscrews haben mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie es nicht können. Gründungspräsident Thomas Bach zog den Unmut von VertreterInnen des deutschen Sports auf sich, weil er aus ihrer Sicht mehr in Lausanne an seiner Karriere bastelte, als sich in Frankfurt im Haus des Sports um die Anliegen und Sorgen des deutschen Sports zu kümmern. Das tat Michael Vesper als hauptamtlicher „General“ – sprich Vorstandsvorsitzender -, der als seine wichtigste Aufgabe sah, das Olympische – wie vorgesehen – nach vorne zu bringen. Das gelang weder Bach noch seinem Nachfolger Alfons Hörmann. Der deutsche Spitzensport steht nach den Spielen in Tokio schlechter denn je da – außer was die finanzielle Ausstattung angeht. Die Leistungssportreform ist unvollendet geblieben. Deutsche Olympiabewerbungen scheiterten grandios. Und der Breitensport blieb irgendwie auf der Strecke. Die internen Bestandsaufnahmen sind eine verheerende Bilanz mit Ansage.

Auf der to-do-Liste stehen Kinder-, Jugend- und Schulsport. Oder Talentsichtung in Vereinen. Oder Digitalisierung. Oder der Schutz vor Gewalt im Sport. Themen, die der DOSB seit Jahrzehnten angeblich im Blick und in Arbeit hat. Um die man sich aber offensichtlich nicht richtig gekümmert hat – zumindest auf der Führungsebene. Erst auf Nachfrage, warum eigentlich die Mitgliedsorganisationen nicht früher auf erkennbare Fehlentwicklungen reagiert haben, räumte Weiss „Versäumnisse der Verbände“ ein. Wobei er wohl hauptsächlich die Spitzenverbände meinte, von denen es sich die meisten ungern mit der DOSB-Führung durch widerspenstiges Verhalten verderben wollten. Anders als die Landessportbünde oder in den letzten Jahren auch die AthletInnen, die immer wieder mal laut ihre Unzufriedenheit mit dem DOSB kundtaten – auch wenn das am Ende ohne Erfolg blieb.

Abstellgleis

Gesellschaftspolitisch im Schlafwagenabteil hat sich der DOSB selbst aufs Abstellgleis gefahren. 90.000 Vereine, 27 Millionen Mitgliedschaften, die so gerne von den DOSB-Granden bemüht werden – hört keiner mehr und nimmt auch keiner mehr richtig ernst.

So spülte dann – ach du Schreck – die Pandemie die Versäumnisse der vergangenen Jahre plötzlich wieder nach oben. Das Interesse an Kindern und Jugendlichen wurde – im Doppel des DOSB und der Sportpolitiker des Bundestages – zur nationalen Aufgabe erklärt. Alle entdeckten ihr Herz für Kinder, die nun als Verlierer (neben Jugendlichen, Hotel- und GaststättenbesitzerInnen, UnternehmerInnen GeschäftsinhaberInnen usw.) der Pandemie ausgedeutet wurden. Betroffenheitsadressen beim Hearing des Sportausschusses, die Fachleute nur noch zum Kopfschütteln brachten. Denn: Probleme, die nun mit großem Kino beklagt wurden, waren schon vor der Pandemie da, aber interessierten kaum: Nicht nur der demographische Faktor zwingt schon seit langem viele Vereine zu Fusionen, wenn sie denn überleben und noch Teams in den Ligabetrieb schicken wollen. Ganztagsschulen, berufstätige Eltern in flexiblen und ständig verfügbaren Arbeitsprozessen – all das hatte auch auf die sportlichen Aktivitäten von Kindern, Jugendlichen und deren Familien einen erheblichen Einfluss. Schulsport – seit vier Jahrzehnten ein einziges Versagen der KultusminsterInnen, die nun plötzlich empört sind, dass Kinder wegen Covid 19 in Bewegungsstarre verfallen sind. Oder nicht mehr schwimmen lernen. Hören die sich auch selber mal zu? Angemessene Reaktionen des DOSB auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen waren in den letzten Jahren kaum zu erkennen. Landessportbünde und Einzelverbände haben dagegen einiges unternommen. Insgesamt scheint der DOSB, zumindest auf der Führungsebene von diesen Entwicklungen überfordert (gewesen) zu sein. Die AG Inhalt will deshalb wohl den Gestaltungsanspruch des DOSB eher einschränken, interpretiert man das Papier richtig. Die Rolle des Dachverbandes ist in deren Augen wohl die eines Koordinators.

Neue Herausforderungen

Der DOSB schlägt sich also weiter mit alten Problemen herum, während sich neue vor ihm türmen: Etwa die Klimakrise. Sie ist auch für den Sport insgesamt eine Herausforderung, für manchen Sportverband eine Überlebensfrage. In den siebziger und achtziger Jahren war der Deutsche Sportbund zusammen mit seiner Jugendorganisation in Umweltfragen der Vorreiter: „Wir haben keinen zweiten Globus im Kofferraum“ war damals das Motto. Jetzt ist er ein Trend-Follower, der ohne Nachhaltigkeit auf öffentliche Debatten aufspringt. Im gesamten Bereich Sportentwicklung sitzen MitarbeiterInnen, die Antworten auf Fragen der Zeit hätten, wenn man sie denn ließe.

Apropos: Der nicht organisierte Sport wächst. Welche Rolle hat dieser in dem von Präsident Alfons Hörmann propagierten Sportdeutschland? Auch darauf gibt es keine Antwort.

Nicht nur Jörg Ammon weiß, dass der deutsche Sport insgesamt und der DOSB im besonderen in Ex- und Implosionsgefahr ist. „Wir haben ein gemeinsames Ziel, das heißt: Sport für alle, und darauf arbeiten wir hin“, bekräftigte der Franke im Gespräch mit Sportspitze die Einheit des deutschen Sports.

Und deshalb betont er auch wieder bei der Pressekonferenz besonders die gute und partnerschaftliche Zusammenarbeit in den AGs, beschwört geradezu die Einheit des Sports. Und versucht nicht nur über Transparenz zu reden, sondern sie auch sichtbar zu machen, etwa wenn er über die Probleme rund um die Neu- oder Nachwahlen, Findungskommission und Kandidatensuche redet. Kein Schwafeln, Fakten. Auch wenn er die Frage nach der künftigen Gewichtung von Breiten- und Spitzensport dann salomonisch irgendwie umschifft, indem er erklärt, dass beide unverzichtbare Säulen des Sports sind.

Freundlicher Ton

Freundlicher Ton, klare Sachlichkeit und öffentliche Harmonie können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hinter den Kulissen immer wieder knirscht und kracht. So soll es zum Beispiel auch Ärger um die lange „Geheimhaltung“ der Namensliste für die Findungskommission gegeben haben. „Mehr und verbindlicher mit den Mitgliedern kommunizieren“ ist Punkt fünf in den AG-Empfehlungen – der kommt bei internen Kritikern gut an.

Von der Mitgliederversammlung am 4. Dezember in Weimar müsse ein Zeichen des Aufbruchs ausgehen forderte Uwe Tronnier. Ob das gelingen wird? Es kommt darauf an: Wie die AG-Vorschläge akzeptiert werden. Wie das KandidatInnen-Angebot für das Präsidentenamt ist – es könnte, wie Ammon sagt, eine Long- oder Shortlist geben – je nachdem, wie erfolgreich die Findungskommission sein wird. Es könnte aber auch noch einen Überraschungskandidaten geben, der wie Kay aus der Kiste springt. Aber wie gesagt – Einheit, Harmonie. Dann lieber keine Kampfabstimmung.

Wer geht, wer bleibt?

Eine Deadline – letzte Oktoberwoche/Anfang November – gibt es nun auch für die Präsidiumsmitglieder, die sich immer noch nicht erklärt haben, ob sie der Empfehlung der Ethikkommission folgen und ihren Platz räumen. Für einen Neustart wäre auch ihr Rückzug aus Sicht vieler unbedingt von Nöten. Und auch ein Zeichen von Verantwortung. Sozialwissenschaftler Lutz Thieme von der Hochschule Koblenz sagt auf Nachfrage dazu: „ Am schwierigsten scheinen mir Konstellationen mit einem weitgehend ausgeglichenen Verhältnis von neuen und etablierten Führungskräften zu sein, weil damit die Gefahr der Lagerbildung, einer gegenseitigen Verantwortungszuweisung hinsichtlich zurückliegender Entscheidungen und einer Blockade von neuen Ansätzen wächst.“

Die AGs haben auch die Abschaffung des Ressortprinzips im Präsidium vorgeschlagen. Das heißt jeder und jede ist für alles zuständig. Dafür braucht es eine Satzungsänderung. Von der Ressortaufgabe sind manche nicht so überzeugt. Wie auch davon nicht, dass man unter Zeitdruck eine Rundumerneuerung schaffen will, die sich irgendwie in Kleinteiligkeit verliert. Der große Wurf läßt weiter auf sich warten. Viele im Sport haben ihre Zweifel, ob der noch gelingen wird. Warum? Ein Verbandspräsident gab dieser Tage darauf die Antwort: „Wir wissen ja gar nicht, wo wir wirklich hin wollen.“ Vielleicht ist der 26. September da schon eine Art Wegweiser für den autonomen Sport. Oder auch ein High Noon.