Potas – ein trojanisches Pferd

Auf Reform-Anfang: Podestplätze garantieren Geld

Berlin, 25. September. Die gute Laune in Sportdeutschland war ohnehin derzeit schon im Keller. Zum absoluten Stimmungskiller wurde aber nun der Bericht der Potas-Kommission, der vor wenigen Tagen im Bundesinnenministerium (BMI) öffentlich vorgestellt wurde. Besonders bei den Verbänden, die sich in der Rankingliste aus ihrer Sicht auf dem völlig falschen Platz eingeordnet finden. Und dann war da noch die Nachricht hinter der Nachricht, die der eigentliche Paukenschlag war: Eine neue Formel, mit der nun Fördermittel berechnet werden sollen.

Wer genau hingehört hätte, was die VertreterInnen aus dem BMI und dessen Sportabteilung immer wieder sagten – auch wenn der noch zuständige Minister Horst Seehofer eher auf den Spaßfaktor im Spitzensport setzte -, hätte von der neuerlichen Entwicklung nicht ganz so überrascht sein dürfen. Ebenso wenig wie vom Zeitpunkt. Das Ranking trifft manche VerbandsvertreterIn ins Mark. Zumal unmittelbar nach den Olympischen Spielen in Tokio, von denen Team D mit der schlechtesten Bilanz seit 1992 zurückkehrte, rührte der Bericht dann doch in der offenen Wunde, die da heißt: Der Abwärtstrend im Medaillenspiegel geht weiter.

Staatssekretär Markus Kerber stellte zusammen mit der Sportabteilungsleiterin im BMI, Beate Lohmann, dem Vorsitzenden der Potas-Kommission, Urs Granacher, und dem Vorstand Leistungssport im deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), Dirk Schimmelpfennig, den Potas-Bericht vor. Und sagte gleich zu Beginn deutlich, dass „die Spitzensportförderung stärker an den Erfolgspotenzialen und damit an Medaillenchancen in den einzelnen Disziplinen auszurichten“ sei. „Das Ergebnis der diesjährigen Olympischen Spiele in Tokio zeigt, dass dies ein notwendiger und richtiger Schritt ist.“

Schreckgespenst

Potas ist nach wie vor bei Sportverantwortlichen umstritten. Sie halten es für überflüssig und ein bürokratisches Schreckgespenst, mit dem sie sich nicht abfinden können. Einst als Herzstück der Leistungssportreform vorgesehen, sollte Potas Verbände auf den Prüfstand stellen, um Stärken und Schwächen herausfinden, und daraus sollten die richtigen Schlüsse gezogen werden, um vorhandenes Potenzial erfolgreich (weiter) zu entwickeln.

Große Empörung, als damals die Cluster-Einteilung vorgestellt wurden, wo es ein Exzellenzcluster (Medaillenpotenzial), Potenzialcluster (Aufbau-, Struktur- und Individualförderung) gab. Und ein drittes Cluster für Verbände, die kein oder wenig Potential vorweisen können, sollte zunächst ohne Förderung bleiben. Nach einem Sturmlauf der Entrüstung wurde dann eine Basisförderung mit dem Argument „Vielfalt fördern“ zugestanden.

Schon vor dem offiziellen Startschuss am 8. Mai 2017, als die Potas-Kommission vom damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière installiert wurde, hagelte es Kritik, und ihre Arbeit wurde mit Argwohn begleitet. Die öffentlich viel zitierte gute Zusammenarbeit ließ hinter den Kulissen nicht selten zu wünschen übrig. Im DOSB machte man aus der Ablehnung von Potas kein Hehl und sprach gerne von „Papierraschlern“. Nach der Vorstellung des Zwischenberichtes 2019 schien Potas zumindest vom DOSB zum „Qualitätsmanagement“ degradiert worden zu sein. Und mit dieser Rolle konnte die DOSB-Familie offensichtlich gut leben.

Wiederbelebung

Doch wie sich nun zeigt: Vermeintlich Ruhiggestellte sorgen plötzlich wieder für Bewegung. Die Kommission hat sich ordentlich ins Zeug gelegt. Und so ist nicht nur Potas stärker denn je, sondern auch der ursprüngliche Sinn der Leistungssportreform scheint vor der Wiederbelebung zu stehen. 2016 hatten sich der DOSB und seine Mitgliedsorganisationen auf die Reform nur deshalb eingelassen, um mehr Geld vom Bund zu bekommen. An die Absprache – gestellte Aufgaben erst lösen, dann gibt es Geld -, hielt sich der Sport nicht. Das Geld kam, die Baustellen sind bis heute nicht fertig. Auslöser für die Reform war der Bundesrechnungshof. Der forderte ein objektives und transparentes Fördersystem. Schließlich gehe es ja um das Geld der SteuerzahlerInnen.

Nun also die neue Transformationsregel, die den deutschen Spitzensport auf den Kopf stellt. Was Dirk Schimmelpfennig so kommentiert. „Wenn man das System weiterentwickelt, ist das irgendwann zu akzeptieren.“

Die Akzeptanz des Sports hält sich in Grenzen, vor allem bei den 26 Sommersportverbänden, deren Potas-Werte beim Durchchecken für ein mäßiges Ranking sorgten. So landen Leichtathleten mit 80,73 auf Platz eins und die Basketballer auf dem letzten Platz. Nachvollziehen können das viele in der Sportfamilie nicht. Die vielgepriesene Transparenz hat schnell ein Ende.

Angefressen

Nicht nur Basketball-Präsident Ingo Weiss ist richtig angefressen und hält die Analyse „für eine Unverschämtheit“. Potas sei für Mannschaftssportarten nicht gemacht. „Was in Potas drinsteht entspricht nicht der Basketball-Realität.“ Wenn Sportwissenschaft auf Sportverantwortliche trifft, ist nicht selten babylonische Sprachverwirrung angesagt. Der Satz von Edi Friedrich, einst Turner, Trainer und später Sportdirektor im Bundesausschuss Leistungssport (BAL) im Deutschen Sportbund scheint noch immer bei vielen in der Sportfamilie zu gelten: „Wissenschaft akzeptieren wir da, wo wir es für richtig halten. Ansonsten haben wir Schubladen.“ Vielleicht liegt in dieser Haltung ein Grund, warum man nun im Potas-Fall kein überzeugtes Miteinander findet. Sportexpertise von seiten des DOSB fühlt sich vom Prinzip Zufall algorithmischer Berechnungen untergebuttert.

Das sehen BMI und sein Staatssekretär Kerber ganz anders: „Diese objektive, sportwissenschaftliche und sportfachliche Bewertung der Verbände und der von ihnen vertretenen Disziplinen bedeutet einen enormen Fortschritt: Sie sorgt für Transparenz, zeigt Stärken und Schwächen der Verbände auf und ermöglicht es dem BMI als Zuwendungsgeber, die Förderung stärker auf Disziplinen zu fokussieren, bei denen künftige Medaillengewinne zu erwarten sind.“ Ähnliches antwortete er schon schon 2019 Potas-Kritikern. Viele, die sich nun echauffieren, betonen, dass die sportfachlichen Eigenheiten bei den Attributen zu kurz kämen. Auch bei dieser Diskussion hat man ein déjà vu.

Eigentlich kehrt das BMI – und damit auch der DOSB – nun zur ursprünglichen Reform-Idee „Podestplatz“ zurück. Nur die zu fördern, die am Ende wohl auch Medaillen garantieren. Auf die Frage, ob man sich nun doch am britischen Modell – Spitzensport à la DDR light – orientieren wolle, umschifft Kerber die Klippe mit der Aussage, die Briten hätten ja nun ihre Förderung auf mehrere Sportarten ausgeweitet: Was soll uns das sagen?

Nicht ins Nirwana

Schon im März 2018 ließ der damalige stellvertretende Sport-Abteilungsleiter Ralf Göbel bei einer Pressekonferenz in Potsdam keine Zweifel aufkommen, dass man Steuergeld nicht einfach ins Nirwana streuen könne. „Der Bund hat außer der Außenrepräsentanz keinen Grund, Spitzensport zu fördern. Deshalb muss man schon darauf achten, auf welchem Platz man stehen muss. Es wird Verbände geben, bei denen die Unterstützung nicht mehr so aussehen wird wie vorher.“ Und den ewigen Nörglern gab er damals mit auf dem Weg, dass Spitzensportförderung ein Luxus- und kein Muss-Projekt einer Bundesregierung sei. Und Kerber sagt heute auf Nachfrage, man müsse vielleicht endlich auch mal darüber diskutieren, welchen Sport diese Republik haben wolle.

Von den etwa 250 Millionen Euro aus dem BMI-Sport-Etat fließen pro Jahr zirka 40 Millionen direkt an die Sommersportverbände. Die höchsten Förderungen bekam in den letzten Jahren mit rund fünf Millionen die Leichtathleten. Kleine Verbände wie etwa Gewichtheben bekamen immerhin noch um die 500 000 Euro.

Zwei Säulen

Während beim Zwischenbericht 2019 ausschließlich Verbandsstrukturen und Leistungsentwicklung bewertet wurden, sind nun auch die Attribute vorolympische Erfolge, Qualifikation für Olympische Spiele und Erfolge von Tokio in die Auswertung eingeflossen. In Berücksichtigung der Pandemie wurden „vorolympische Erfolge“ als einziges Attribut, das nicht von der Pandemie betroffen war, in der Gewichtung erhöht. Die Mittel werden über zwei Säulen verteilt.

Für Säule eins mit zwei Dritteln der Fördermittel ist der Potas-Wert relevant. Bei Säule zwei werden das Abschneiden das DOSB und Verbände  bei den Spielen in Paris erwarten in die Waagschale gelegt. Damit können die Potas-Spitzenreiter mit Mittelaufschlägen rechnen, die anderen mit Abzügen. „Die Spreizung wird zunehmen“, sagt Kerber. Das heißt in der Praxis: Bis zu 30 Prozent Unterschiede könnten zwischen den einzelnen Sportarten auftreten. 38,9 Millionen Euro an direkter Verbandsförderung stellt das BMI diesmal zur Verfügung. Wer was bekommt wurde am Dienstag unmittelbar nach Veröffentlichung des Berichts beschlossen. Die Förderbescheide werden in den nächsten Tagen den Verbänden ins Haus flattern.

„Das Ergebnis des Deutschen Leichtathletik-Verbandes zeigt, dass das Ausbleiben der ganz großen Erfolge bei Olympischen Spielen nicht automatisch zu einem schlechteren Abschneiden bei der Potas-Evaluation führt“, sagt Granacher. „Da eben auch Qualifikationsleistungen und vorolympische Erfolge in die Wertung einfließen, werden die Erfolge in der Potenzialanalyse nicht nur durch das Abschneiden bei den Olympischen Spielen bestimmt.“

Auffällig sei auch, sagt Granacher, dass Verbände mit schwächeren Potas-Gesamtwerten sowohl in den Erfolgsattributen als auch in ihren Strukturen Defizite aufweisen. Er macht die Heterogenität der Spitzenverbände am Beispiel Schwimmen deutlich: Die Disziplin Freiwasserschwimmen Männer liegt auf Platz eins der Rangliste, Synchronschwimmen hat die Rote Laterne. Deshalb sollen künftig die Mittel nicht für den Fachverband insgesamt fließen, sondern für die einzelnen Disziplinen. Und es gibt deshalb auch ein Ranking für die Disziplinen und nicht nur für die Verbände.

Kompliziert

Nach wie vor ist Potas kompliziert: 130 Fragen, 36 Unterattribute und 13 Hauptattribute waren Grundlage, um das Ranking zu erarbeiten. Aus den Angaben der Verbände sollen Erfolgschancen erkannt und am Ende klare Kriterien für die Förderung abgeleitet werden, die in drei Oberkategorien eingeteilt wurden. Daraus errechnete sich der Potas-Wert, der Aufschluss darüber geben soll, zu welchem prozentualen Anteil die Verbände die Anforderungen erfüllen.

Die Analyse ist für die Öffentlichkeit schwer zu verstehen – Diagramme und Zahlen verwirren eher, als sie erhellen. Berechnungsinstrumente, wie man etwa auf das Ranking kommt, sind aus dem zugänglichen Bericht nicht herauszulesen. Aber mehr Transparenz und Infomationen braucht es – vor allem, weil weiter Ärger programmiert ist: Denn mancher Verband, für den das Budget kleiner wird, wird sich da laut melden.

Frank Schlizio, Leistungsport -Verantwortlicher beim Landesportbund Berlin und ausgewiesener Fachmann, tut sich mit einer Einordnung des Rankings schwer, weil ihm eben auch die Bewertungs-Infos fehlen. Die Kritik an dem neuen Ranking fasst er so zusammen: „Für viele ergibt sich natürlich ein schiefes Bild, weil es mit der konkreten Situation vor Ort nicht übereinstimmt. Es braucht nach wie vor mehr Transparenz und Nachvollziehbarkeit wie eine Bewertung zustande kommt. Momentan muss man vertrauen, dass da alles richtig läuft, wovon ich ausgehe.“

Professor Lutz Thieme von der Hochschule Koblenz ordnet es so ein: „Potas ist eine Art trojanisches Pferd für die Spitzenverbände. Zuerst harmlos und mit viel Geld dekoriert, dann ein mächtiger Hebel zur Anpassung und Ausrichtung für die Verbandsstrukturen entlang der Potas-Strukturen, weil es direkt und ohne weitere Verhandlungen auf das Fördervolumen durchschlägt.“ Das bedeutet?  Überraschungen bleiben nicht aus? Das Signal, das Potas nun sende, so Thieme, sei nicht misszuverstehen: Unsere Steuerungsinstrumente sind auf Medaillen ausgelegt.Und so gerieten auch Verbände in Handlungszwänge. Das heißt  auch, dass kein Delegationsleiter mehr sagen kann, Medaillen sind nicht so wichtig, Hauptsache wir  kommen alle wieder gesund nach Hause…..

Auch in Sachen Förderung bricht in Sportdeutschland nun offensichtlich tatsächlich eine Zeitenwende an: Das Motto lautet: Erfolg schlägt Vielfalt.