Gibt es eigentlich ein Medaillen-Problem?

Im Sommer-Interview: Professor Lutz Thieme über die Leistungssportreform, PotAS, Vereine und fehlende Diskussionen

Berlin, 4. September. Auch in der Sommerpause wurde die Telenovela „Leistungssportreform“ fortgesetzt. Sportalltag und den Reform-Umsetzungsversuch müssen alle in den Verbänden auf unterschiedliche Art stemmen. AthletInnen und TrainerInnen sowie Verbandsverantwortliche wissen aber immer noch nicht, wie es tatsächlich weitergehen soll. Sportspitze hat nachgefragt. Diesmal bei einem Sportwissenschaftler: Professor Lutz Thieme  im letzten Sommerinterview dieses Jahres.

An der Hochschule Koblenz lehrt Professor Lutz Thieme  u. a. Sportmanagement und Sportökonomie. Aber er beschäftigt sich mit vielen Facetten des Sports – vom Verein über experimentelle Ökonomik im Sport bis zur neuen potenzialorientierten Fördersystematik für den deutschen Spitzensport. Thieme kann auch eigene Erfahrungen auf seinen Forschungsgebieten einbringen: Der 51-Jährige ist u. a. Vorsitzender des SSF Bonn.

Hätten Sie gedacht, dass die Reform von der Konzeption bis zum momentanen Umsetzungsversuch so chaotisch läuft?

Thieme: Ich habe es zumindest nicht für ausgeschlossen gehalten. Leistungssport ist auf individueller Ebene ein hoch komplexer Prozess mit vielen nichtlinearen Dynamiken und Rückkopplungseffekten. Organisationen, die derartige Prozesse planen, sind latent bedroht, an den von außen formulierten Ansprüchen zu scheitern. Traut man der planenden Organisation den gewünschten Erfolg nicht mehr zu, wird eine weitere Organisation geschaffen usw. Die nächste Stufe der Dynamik ist erreicht, wenn Organisationen entstehen, die nur noch vorhandene Organisationen koordinieren. Es entstehen sehr schnell Organisationsroutinen, die beim Ausrufen von Reformen gestört werden. Die Reaktionen fallen umso chaotischer aus, je unterschiedlicher die Reformziele von den betroffenen Organisationen wahrgenommen und interpretiert werden.

Woran liegt das Ihrer Meinung? Was läuft da verkehrt?

Thieme: Ich bin mir nicht sicher, ob das Problem, das gelöst werden soll, gesamtgesellschaftlich überhaupt existiert, und wenn es existiert, ob es gelöst werden kann. Ich kenne nur wenige Menschen, die den Platz Deutschlands im Medaillenspiegel oder die Anzahl der Olympiamedaillen für deutsche Athletinnen und Athleten als Problem bezeichnen würden. Und die, die es tun, haben zumeist irgendwie mit dem Leistungssport zu tun. Die häufig gehörte Behauptung von Sportfunktionären, Athletinnen und Athleten, dass die deutsche Öffentlichkeit Medaillen fordern würde, scheint mir auf der Wahrnehmung zu beruhen, dass bei Medaillenerfolgen natürlich Politikerinnen und Politiker, Medien und auch das Umfeld der Athleten etwas Glanz vom Erfolg abbekommen wollen. Daraus aber abzuleiten, dass die Öffentlichkeit Medaillen fordern würde, halte ich für einen Fehlschluss. Letztlich sind mir auch keine empirischen Ergebnisse bekannt, die in eine solche Richtung weisen.

Was geht dann da ab?

Thieme: Aber nehmen wir mal an, fehlende Olympiamedaillen wären ein gesellschaftlich breit akzeptiertes Problem. Dann wäre nach der Differenz zwischen der Zahl der Olympiamedaillen zu fragen, die Deutschland ohne jegliche Steuerung und jener Zahl mit optimaler Steuerung gewänne. Wenn man sich die internationale Literatur zu den Medaillenprognosen bei Olympischen Spielen anschaut, dann scheint mir diese Differenz, also die Steuerungsfähigkeit von olympischen Medaillengewinnen, nicht besonders hoch zu sein. Ich muss allerdings einräumen, dass viele andere diesbezüglich eine höhere Steuerungsphantasie besitzen als ich. Allerdings können die Steuerungsoptimisten auch nicht die Differenz zwischen Leistung und Erfolg auflösen. Leistung möge ggf. noch zu steuern sein, ob diese aber ausreicht, um den gewünschten Erfolg zu haben, ist abhängig von der Leistung der Gegner. Und die Leistung der Gegner entzieht sich naturgemäß der eigenen Steuerung.

In Ihrer Eigenschaft als Professor für Sport-Ökonomie: Wenn Sie das dilettantische Umsetzen der Reform sehen, das ständige Hickhack zwischen den „Machern“ von BMI und DOSB, aber auch Ländern und Fachverbänden – würden Sie als Sponsor in den deutschen Spitzensport investieren?

Thieme: Ja, würde ich. Es sind die Athletinnen und Athleten bzw. die Mannschaften, deren Leistungen, Erfolge, Misserfolge uns faszinieren. Dies färbt wie in kaum einem anderen Bereich auch auf die sie begleitenden Sponsoren ab. Vor allem, wenn es medial erzählt und verdichtet wird. Es ist nicht das Leistungssportsystem als solches, das die Sponsoren interessiert.

Glauben Sie noch an eine erfolgreiche Umsetzung der Reform? Und wie wird die dann aussehen?

Thieme: Es liegt im Auge des Betrachters, was erfolgreich ist. Viele Sportfachverbände scheinen besonderes Interesse an höheren Bundeszuschüssen zu haben. Diese werden sicher steigen, wenn auch später und nicht im erhofften Maße. Dafür wird sich der Geldgeber Kontrollrechte deutlich über das bisherige Ausmaß hinaus sichern. Den Ländern wird es gelingen, ein paar Stützpunkte mehr zu erhalten als ursprünglich geschlossen werden sollten. Die Zahl der Olympiastützpunkte wird sinken, ohne dass daraus bedeutsame Effizienz- oder Effektivitätsgewinne entstehen. Und die Zahl der Olympiamedaillen wird weiter um das Mittel der letzten Olympiaden pendeln. Als Sozialwissenschaftler ist für mich die eigentlich spannende Frage, ob und wenn ja wer eine derartige Entwicklung zum Problem ausrufen wird.

Was kann die PotAS-Kommission, die ja bei vielen Fachverbänden nicht gerade auf Begeisterung stößt, beitragen, um doch noch voranzukommen? Oder teilen Sie die Zweifel der Kritiker, die sagen, methodisch kann man da nix hinkriegen?

Thieme: Die Idee, Potenziale statt aktuelle Erfolge als Maßstab der Förderung zu nehmen, ist mir erstmalig Ende der 1980er Jahre bei einer Vorlesung von Klaus Kupper an der damaligen Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) begegnet, der mit anderen daran wohl seit den späten 1960er Jahren geforscht hat. Die Idee ist also nicht neu. Allerdings gelang es meines Wissens bis heute nicht, valide Prognosemodelle zu entwickeln, die sich auch empirisch bewähren. Nun haben auf der Grundlage der IT-Entwicklung insbesondere Simulationstechniken und Prognoseverfahren im Zuge von Big Data in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Daher halte ich den Ansatz, mit Hilfe eines neuronalen Netzes Potenziale zu bestimmen, für durchaus vielversprechend.

Überrascht hat mich allerdings, dass nach 50 Jahren Potenzialforschung im Leistungssport plötzlich ein Jahr ausreichen sollte, um ein Verfahren zu haben, das nicht nur wissenschaftlichen Kriterien genügt. PotAS ist ja ein Ressourcenverteilungsmechanismus, dessen Ergebnisse von den Betroffenen als plausibel und legitim akzeptiert werden müssen. Aus meiner Sicht wäre es eine große Leistung, wenn die PotAS-Kommission tatsächlich ein einigermaßen valides Verfahren finden könnte, um Potenziale auf Ebene von Disziplinen abzuschätzen. Dies schon zu Beginn des Forschungsprozesses mit Verteilungsabsichten zu verbinden, macht die Aufgabe ganz sicher nicht leichter.

Sie sind auch Vereinsvorsitzender. Vereine spielen in dieser Reform keine Rolle, obwohl sie ja die erste Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche sind und sie zum Leistungssport hinführen. War es aus Ihrer Sicht ein Fehler, die Basis nicht mitzunehmen? Zumal ja auch immer weniger Vereine Leistungssport anbieten, weil er zu teuer für sie ist.

Thieme: Aus meiner Sicht wäre es hilfreich gewesen, Vereine, die sich zum Leistungssport bekennen und z.B. als Träger von Bundes- und Landesleistungsstützpunkten Verantwortung übernehmen, stärker einzubinden. Letztlich muss jede Leistungssportreform auch die Frage nach der Schnittstelle zwischen verbandlichem Fördersystem und vereinsbasierten Training beantworten. Diese Verbindung zwischen vorrangig eigenfinanzierten Vereinen mit den vereinsgebundenen ehrenamtlich Engagierten, mit den Übungsleitern, Trainern und teilweise vereinseigenen Sportstätten einerseits und dem weitgehend öffentlich finanzierten verbandlichen Fördersystem andererseits würde nur bei einer Separierung der Leistungssportstrukturen vermieden, wie es die DDR mit den Trainingszentren, den Kinder- und Jugendsportschulen und den Sportclubs praktiziert hat. Dass ein solches System heute auf breitere Akzeptanz stößt, kann ich mir nicht vorstellen. Insofern müssen Leistungssportplaner die dazu quere Eigenlogik der Sportvereine berücksichtigen. Ob es ihnen passt oder nicht. Tun sie dies nicht, werden sich noch mehr Sportvereine dem Leistungssport entziehen.

Wie kann man das Verhältnis zwischen den Vereinen und der DOSB-Führung wieder mit konstruktiven Inhalten füllen?

Thieme: Systematisch muss der Blick des DOSB ja zunächst auf seine Mitglieder sowie seine Geldgeber gerichtet sein. Das sind nicht die Sportvereine, die ja nur indirekt über die Landessportbünde bzw. die Landesfachverbände, die wiederum Mitglied der Spitzenverbände sind, im DOSB vertreten sind. Insofern produziert die Mitgliedschaftsstruktur bereits eine Distanz zwischen DOSB und Vereinen. Diese vertieft sich zudem auf inhaltlicher Ebene. Das Augenmerk des DOSB auf seine Funktion als Nationales Olympisches Komitee sowie die damit verbundene Konzentration auf den Leistungssport findet bei der überwiegenden Mehrzahl der breitensportlich ausgerichteten Sportvereine keine Entsprechung. Natürlich bemüht sich der DOSB auch in anderen Feldern um Lobbyarbeit und kann dort durchaus mit Erfolgen, wie z.B. der veränderten Lärmschutzverordnung oder die Fördermöglichkeiten von Sportstätten bei Stadtentwicklungsprogrammen aufwarten. Allerdings sind diese Themen sehr abstrakt und werden in ihrer Bedeutung für die Vereine nicht unmittelbar erlebbar. DOSB und Vereine agieren weitgehend entkoppelt, man braucht einander eigentlich nicht, beobachtet sich aber gegenseitig.

War es ein Fehler, keine gesamtgesellschaftliche Diskussion zu führen? Fällt das den Protagonisten jetzt auf die Füße?

Thieme: Ich denke, ohne eine derartige Diskussion verliert der Leistungssport weiter an gesellschaftlicher Relevanz. Warum ist Leistungssport für diese Gesellschaft wichtig? Geht es nach wie vor um nationalstaatliche Repräsentation? Geht es um die Schaffung von Identität und Zusammengehörigkeit durch sportliche Erfolge? Geht es um die Schaffung von Vorbildern? Geht es um Symbole gesellschaftlichen Leistungswillens? Geht es um die Produktion einer Unterhaltungsdienstleistung? Geht es um die Unterstützung von hochbegabten Athletinnen und Athleten bei der Ausformung ihres seltenen Talents? Wer sagt, „von all dem ein bisschen“, der verkennt, dass mit jedem Aspekt ein weitgehend unterschiedliches Leistungssportsystem verbunden ist. Es wird jedoch schwer, eine gesamtgesellschaftliche Debatte zu führen, weil Leistungssport – mit Ausnahme des Männerfußballs – für viele Menschen kein zentrales Thema ist und erst relevant wird, wenn es z.B. in Form einer Olympiabewerbung droht, in den individuellen Alltag einzugreifen.

Zum Abschluss: Internationaler Spitzensport mit seinen für die Veranstalter (IOC, Verbände) gewinnbringenden Glamour-Events und allen Nebeneffekten wie Doping – ist das wirklich noch Sport? Oder nur unter der Kategorie Unterhaltungs-Show einzustufen? Nach Usain Bolt beginnt die verzweifelte Suche nach einem neuen Showman. Brauchen wir das?

Thieme: Zumindest fragen viele Menschen derartige Unterhaltung nach. Das finde ich durchaus legitim und nachvollziehbar. Sport als Unterhaltung konkurriert dann aber mit anderen am Markt angebotenen Unterhaltungsformen und bräuchte zudem nicht öffentlich subventioniert zu werden.

Für mich ist Unterhaltung jedoch nur ein untergeordneter Nebenaspekt von Leistungssport. Es geht vielmehr um die Möglichkeit, Kindern und Jugendlichen elementare Erfahrungen bei der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit Gegnern und Freunden im Wettkampf, mit Erfolgen und Rückschlägen, mit der Beschränktheit des eigenen Talents und den Grenzen der Leistungsfähigkeit, mit der Ausschöpfung des individuellen Potenzials sowie mit der Versuchung der Selbstschädigung bzw. der Schädigung anderer zu vermitteln. Es geht um die Herausbildung von Eigenverantwortung und die Wahrnehmung von Verantwortung für Dritte in Leistungswettbewerben, in denen bestimmte Regeln gelten. Es geht um pädagogische Prozesse, Bildung und Persönlichkeitsentwicklungen.