In Häuserschluchten joggende Asphaltcowboys

Berliner Sportvertreter und Politiker denken über Bewegungsräume in einer wachsenden Stadt nach

Berlin, 14. September. Sportlich gesehen, scheinen viele deutsche Städte in ständiger Bewegung: Jogger, Walker, Skater, Parkour-Läufer, Radler sind jeden Tag zu den unterschiedlichsten Zeiten in der Stadt unterwegs. In Parks tummeln sich Freizeitkicker, Volleyballer, Frisbeespieler neben Grillern und Chillern. Es gibt mittlerweile viele Möglichkeiten quer durch die Republik, ohne großen Aufwand direkt vor Haustür oder Arbeitsstätte mal abzuschalten, Erholung zu suchen und sich auszupowern. Unter dem Aspekt steigender Lebensqualität werden urbane Bewegungsräume immer interessanter – nicht nur für die Kommunen selbst, sondern auch für innovative Stadtplaner, Grünflächenverwalter und natürlich den  organisierten Sport. „Bewegungsräume in einer wachsenden Stadt“ ist das Thema einer Veranstaltung, zu der der Landessportbund Berlin am Montag (18. September, 16 Uhr) in die Gerhard-Schlegel-Sportschule im Priesterweg 4 in Berlin-Schöneberg eingeladen hat. Dort diskutieren Experten mit Entscheidungsträgern.

Thomas Härtel, Vizepräsident des Landessportbundes Berlin, hat eine Vision: Eine bewegte Stadt in vielen Varianten kann nicht nur Bewegungsmuffel in ihrem Lebensumfeld abholen, sie nicht nur für Sport interessieren, sondern sie überzeugen, dass Bewegung gut tut, sie animieren mitzumachen und vielleicht dann auch als Vereinsmitglied gewinnen. „Wir müssen umdenken“, sagt der passionierte Läufer. Es gibt Vertreter im organisierten Sport, vor allem in den Vereinen, die es zu überzeugen gilt, dass sie „neue Wege gehen müssen“. Etwa mit einem Lieblingsprojekt Härtels: Sport im Park.

Umdenken. Thea S. ist eine Frau, die umgedacht hat: die 58-jährige selbstständige Kauffrau war jahrzehntelang Mitglied in einem Sportverein, „aber nur selten aktiv vor Ort, weil ich einfach nur im Stress war: täglich im Büro, auf Dienstreise, Familie. Ich hatte keine Zeit – schon gar nicht für Sport. Wenn meine Kurse stattfanden, war ich noch am arbeiten. Oder todmüde.“

Ein Bandscheibenvorfall, einhergehend mit allgemeinem Erschöpfungszustand, und ein Besuch in China waren der Startschuss für die „neue bewegte Frau“. In Peking sah sie viele Leute, die zu allen Tageszeiten auf Plätzen und in Parks Tai-Chi-Übungen machten. Oder tanzten.

„Das is‘ es, dachte ich damals – es war für mich das Signal, umzudenken und gegen den Stress zu steuern. Seit vier Jahren bin ich nun nahezu jeden Morgen vor Arbeitsbeginn im Tiergarten und mache mit anderen Tai-Chi. Ich gehe entspannt in den Tag. Das hat mir viel gebracht.“ Sport in den Tagesablauf einbinden – das ist auch ein Ziel, das Härtel vor Augen hat. Und da ist er sich mit der zuständigen Berliner Senats-Innenverwaltung und deren Mitarbeiter für Sport, Bernd Holm,einig.

Schnell aus der Puste

Es reicht nämlich nicht, wenn man unter kommunaler Sportförderung das versteht, was der Journalist Wolfgang Reus einmal bitterböse schrieb: „Was heißt hier mangelnde Sportförderung? In allen Großstädten versucht man gute 100-m-Sprinter zu züchten, in dem man alle Busse, U-, S- und Trambahnen kurz vor der fahrplanmäßigen Abfahrt losfahren läßt.“ Dass es mit der Kondition vieler dennoch nicht zum besten steht, ganz schnell die Puste weg ist und man trotz trendiger Turnschuhe nach einigen Metern schon heftige Ermüdungserscheinungen hat – auch das sind Bilder vom modernen Großstadtmenschen, die man tagtäglich sieht. Sportlich, und vor allem fit und gesund geht anders. Dabei sind die Deutschen doch der Meinung, dass sie sportlich sind…

Noch immer ist der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) die größte Personenvereinigung in Deutschland, und er verweist immer wieder gerne auf seine 91.000 Sportvereine. Beim Thema Sport – und Stadtentwicklung ist der DOSB seit Jahren am Ball und leistet viel Lobbyarbeit. Das muss er auch. Christian Siegel beim DOSB u.a im Bereich Sportentwicklung tätig und für Sport und Stadtentwicklung zuständig, sieht in einer bewegten Stadt vor allem eine Chance für den Sport, neue Zielgruppen für den organisierten Sport anzusteuern. Denn zwar hat der DOSB mit 34 Prozent noch einen hohen Organisierungsgrad vorzuweisen, aber die Zahlen sind rückläufig. Warum? „Vereinssport findet dann statt, wenn ich nicht kann“, ist die häufigste Aussage einer nicht repräsentativen Umfrage unter berufstätigen KollegInnen, trifft aber ein Hauptproblem: Vereinssport ist an Hallen- und Platzzeiten gebunden, deshalb unflexibel, und passt bei vielen nicht mehr in den Stundenplan nicht nur Berufstätiger. Oder SchülerInnen. Oder Eltern. Die Lebenswelten und die Anforderungen, ob in Schule, Beruf oder Familie haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert: Auch der organisierte Sport müsse, so sagen Härtel und Siegel, von eingefahrenen Angebotsmustern abweichen – und sich zusätzlich neues einfallen lassen, um mit der Konkurrenz mithalten zu können. „Das eine tun, aber das andere nicht lassen“, bringt es Härtel auf einen Nenner, denn manche Funktionäre wollen davon nichts wissen. Überzeugungsarbeit ist angesagt.

Immer mehr Fitnessstudios

Vielleicht helfen Zahlen: Immer mehr Menschen treiben Sport in Fitnessstudios, die im vergangenen Jahr 530.000 Mitglieder zu ihren über zehn Millionen dazugewinnen konnten. Man kann kommen und gehen wann man will, manche bieten rund um die Uhr Öffnungszeiten an. Vor allem in der Gruppe der 27- bis 40-Jährigen kommen dem DOSB immer mehr Männer und Frauen abhanden. Die Lebens- und Arbeitswelt der BundesbürgerInnen verlangt zielorientierteres, zeitökonomischeres und flexibleres Agieren. Und das gilt noch mehr für die, die sich Imageanforderungen und Trends unterwerfen, die Erfolg mit Jugendlichkeit und gutem Aussehen gleichsetzen. Aber auch für die, die Gesundheit, Fitness und Leistungsfähigkeit mit dem Bild des modernen Stadtmenschen verbinden.

Zu mehr Lebensqualität in jeder Beziehung möchte auch der organisierte Sport beitragen. Und es gibt viele Beispiele in Kommunen, wo die Kooperation zwischen Sport und Politik für die BürgerInnen erstaunlich positive Beispiele zustande gebracht hat. Man erinnert sich an die guten alten Trimmpfade aus den 70er Jahren und richtet neue ein, schafft generationsübergreifende Spielplätze. Ein Paradebeispiel ist der Parksport, ein Projekt, das in Hamburg zur Internationalen Gartenschau 2013 initiiert wurde und nun zu Recht viele Nachahmer findet. Berlin will ebenfalls Parks als grüne Bewegungsräume mehr nutzen. Auch hier hat man bei der Internationalen Gartenausstellung versucht, dem Hamburger Projekt nachzueifern.

Renaissance der Städte

Einfach ist es nicht immer, Vereine oder Verbände zu überzeugen, zu einer potenziellen Klientel zu gehen, anstatt darauf zu warten, dass sie zu ihnen kommt. Beschäftigt  man sich  mal näher mit  dem Thema, stellt man überrascht fest, dass “viele Vereine in Berlin schon  eine Alternative  anbieten  – nämlich Sport draußen, im Park oder auf der Wiese, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die sind da schon innovativ“, sagt Härtel. Auch Siegel freut sich, wenn er von neuen Initiativen und Aktionen hört. Die vielzitierte „Renaissance der Städte“ könnte auch eine des städtischen (Vereins-)Sports werden.

Will sich der Sport als moderner Dienstleister organisieren, dann muss er auch Parks oder sogenanntes „Begleitgrün“ bis hin zur normalen Straße als Sportraum nutzen. Ein soziales Miteinander gibt es in Parks und in Sportvereinen – und beides ist miteinander kompatibel.

Aber: „Wenn man im Sport über neue Bewegungsflächen redet, dann ist da schon eine gewisse Abwehrhaltung zu spüren“, sagt Härtel. Denn Sportraum ist für viele im organisierten Sport immer noch die genormte Halle oder der Platz. Alles andere wird argwöhnisch beäugt, weil man fürchtet, dass neue Bewegungsflächen auf Kosten von Sportstätten – von denen nicht nur in Berlin viele marode sind und im Sanierungsstau stecken – eingerichtet werden. Und weil man da vielleicht potenzielle Mitglieder verliert, wenn man weitere Möglichkeiten schafft, auch ohne Verein Sport zu treiben. Es ist ein Balanceakt nicht nur innerhalb des Sports, sondern auch in den Verwaltungen der Kommunen, organisierten und ungebundenen Sport unter einen Hut zu bringen, ohne alle gegen sich aufzubringen.

Old school

„Wir sind auf einem guten Weg“, sagt Siegel. Aber es gilt noch viele Hürden zu nehmen, denn nicht nur im Sport gibt es eine Abwehrhaltung. Auch bei Stadtentwicklern und Grünflächenplanern ist die nicht selten. Viele in den Verwaltungen halten an der „old school“ fest, und es ist schon bezeichnend, wenn man auf der Suche nach einem Gesprächspartner zum Thema Stadtentwicklung und Sport von der TU Berlin die Antwort bekommt: „Vielen Dank für Ihre Anfrage. Leider können wir Ihnen zu diesem Thema keinen Interviewpartner vermitteln.“

Viele Verwaltungsleute – ob Stadtentwickler oder Grünflächenämter – würden sich oftmals noch sehr schwer tun, neue Bedürfnisse des Sports und Sport treibender BürgerInnen umzusetzen, berichten Experten von ihren Erfahrungen mit kommunaler Planungsbürokratie, Ressort-Beharren und mangelnder Kooperationsbereitschaft. Und fordern auch hier ein Umdenken und „ganzheitlich gedachtes und nutzenorientiertes Fachwissen“. Beispiele aus Japan, wo Städte aus allen Nähten platzen, oder aus den USA zeigen, wie originell, effizient und nachhaltig auf knappem Raum grüne Sportoasen zwischen Häuserschluchten gestaltet werden können.

Wie umsetzen?

Im Koalitionsvertrag der rot-rot-grünen Berliner Regierung ist unter dem Titel „Sport in der wachsenden Stadt“ zu lesen: „Die wachsende Stadt hat auch einen wachsenden Bedarf an Sport- und Bewegungsflächen. Die Koalition bekennt sich klar dazu, dass die sportliche Infrastruktur mitwachsen muss. Das betrifft insbesondere die Planung von gedeckten und ungedeckten Sportstätten. Angesichts knapper werdender Ressourcen will die Koalition bei der Entwicklung neuer Stadtquartiere eine bewegungsaktivierende Infrastruktur schaffen. Dazu wird die Koalition einen Stadtentwicklungsplan Sport und Bewegung ausarbeiten, um Flächen für Sport, Spiel und Bewegung zu sichern und neue Flächen zu erschließen. Alle neuen Sportstätten sind als inklusive Sportanlagen herzurichten, dabei ist auch die älter werdende Bevölkerung zu berücksichtigen.“

Liest sich gut. Doch bisher weiß man offensichtlich in der Senatsverwaltung noch nicht so genau, wie man dieses Bekenntnis inhaltlich in einem Plan gestalten und vor allem umsetzen soll. Dabei sollte man schon in die Puschen kommen: geht es mit dem Zuzug in der Hauptstadt so weiter, dann wird Berlin 2030 ein Vier-Millionen-Moloch sein. Schon heute sind klassische Sportanlagen knapp, und viele befinden sich in einem miserablen Zustand. Und in einer Stadt, in der Flächenkonkurrenz herrscht, wo Wohnraum knapp ist und knapper wird, muss auch der Sport sehen, wo er bleibt. Gesellschaftspolitisch will der Sport einen Beitrag zur sozialen und gesunden Stadt leisten. Was er ja kann, wie er schon bewiesen hat – etwa bei der Integration von Flüchtlingen.

Präventionsketten

Verwaltungsmann Holm jedenfalls sagt, einer der Hauptgründe, sich für eine bewegte Stadt einzusetzen, ist auch der Gesundheitsaspekt. Schon vor zehn Jahren hatte der Senat eine Umfrage gestartet, warum Berliner Sport treiben – die Gesundheit stand mit großem Abstand an erster Stelle. Und das hat sich bis heute nicht geändert. So findet sich im Koalitionsvertrag auch unter dem Stichwort Gesundheit der Sport wieder. Im Rahmen von „Präventionsketten“ sollen gesundheitsorientierte Sport- und Bewegungsangebote in den Bezirken besonders auch finanziell unterstützt werden. Die Aufgabe, der sitzenden Gesellschaft wieder Beine zu machen, lässt sich der Senat mit diversen Programmen aus verschiedenen Ressorts in diesem Jahr rund 800.000 Euro kosten.

Gesundheit als Motivationsschub – das wäre schon mal nicht schlecht. Doch auch im Sport erreicht man meist die, die es am dringendsten nötig hätten, kaum oder gar nicht: Es ist wie bei der Kultur ein Schichtenproblem. In großen Städten wie Berlin driften Stadtteile sozial, wirtschaftlich und stadtentwicklungsdynamisch auseinander.

In Kiezen mit großem Migrationsanteil kann man Kinder noch relativ leicht für den Sport und auch für den Verein begeistern. Aber wer gesundheitliche Prävention durch Bewegung oder einfach Inklusion für alle umsetzen möchte, der muss die Ansprache ändern. Und das gilt besonders auch für Sportvereine. „Man muss auf die Klientel zugehen. Wir haben zum Beispiel am Wochenende im Park neben den Grillern unsere Sportarten präsentiert und die Leute animiert mitzumachen. Wir haben ihnen gesagt, dass wir öfter hier sind und sie immer kommen können, wenn sie Lust haben“, erzählt der Abteilungsleiter eines Kampfsportvereins mit Gymnastik- und Ballsportabteilung. Eine Übungsleiterin aus Frankfurt am Main berichtet von dem Versuch, in Hinterhöfen vor allem ausländische Frauen zu animieren, etwas für sich und ihre Gesundheit zu tun. „Wir waren regelmäßig eine Weile da, viele guckten erst, was wir da an Übungen zeigten, manche machten am Fenster mit, andere kamen dann mal in den Hof. Mittlerweile sind wir im Park – mehr oder weniger regelmäßig – und versuchen Interesse zu wecken.“

Zurückerobern

Der Landessportbund Berlin verzeichnet einen Mitgliederzuwachs. Das, so sagen Experten, müsse man aber in Relation zu den Zuzugszahlen stellen. Aber sie stimmen auch zu, dass sich immer mehr Menschen wieder Bewegungsraum trotz schlechter Luft, Lärm und stets drohendem Verkehrskollaps in den Großstädten zurückerobern: Jogger und Skater – die modernen und unerschrockenen Asphalt-Cowboys. Waren es früher Jugendliche, die nach alternativen Bewegungsräumen suchten, Plätze in leeren Innenstädten bevölkerten, Unterführungen oder Industriebrachen wiederbelebten, so setzen mittlerweile auch Erwachsene querbeet in den Städten täglich bunte Bewegungsprofile: Im Park, im Flussbad, in der Einkaufsstraße, am Marktplatz. Hauptsache draußen. Hauptsache in Bewegung. Hauptsache miteinander. Sport für alle als neues Lebensgefühl in einer quirligen Stadt.

„So langsam Du auch läufst, Du schlägst alle, die zuhause bleiben“, könnte ein Animations-Motto für eine soziale, gesunde Stadt in Bewegung sein, in der man Hektik und Stress abbauen und auch Erholung und Ruhe finden kann. Der Mensch im Mittelpunkt – wenn das kein sportlicher Ansporn und Anspruch für moderne Stadtentwicklung ist…