Eine problematische Endlosschleife

Sportausschuss: Der Fall Frehse und Nachdenken über Konsequenzen

Berlin, 27.Februar. Seit Wochen beschäftigt der Fall Gabriele Frehse, die am Olympiastützpunkt (OSP) Sachsen/Bundesstützpunkt Chemnitz, als Kunstturn-Trainerin arbeitet, Sport und Öffentlichkeit. Gegen sie wurden von mehreren Turnerinnen, darunter die frühere Weltmeisterin Pauline Schäfer, im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ schwere Vorwürfe wegen „psychischer Misshandlungen“ erhoben. Widerspruchslose Unterwerfung und Schikane im Training, die Vergabe von Medikamenten ohne ärztliche oder elterliche Zustimmung stehen im Raum.Trotz der Anschuldigungen hat die Trainerin viele, die hinter ihr stehen, wie etwa KaderathletInnen an ihrem Stützpunkt, die in einem offenen Brief  fordern, die Freistellung Frehses rückgängig zu machen.

Der Deutsche Turnerbund (DTB) musste sich schon 2018  mit Vorwürfen gegen Frau Frehse wegen Medikamentenabgabe ohne ärztliche Verordnung auseinandersetzen. Nach einer Abmahnung durch den Arbeitgeber OSP schien für den Verband und alle anderen Beteiligten und Betroffenen die Angelegenheit erledigt. Die neuerlichen Anschuldigungen ließ der DTB von einer Frankfurter Anwaltskanzlei untersuchen, die in ihrem Bericht, der nicht in Gänze vorliegt, „schwerwiegende Pflichtverletzungen“ der Trainerin feststellte. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft, und am Ende werden Richter urteilen.

Der Sportausschuss des Deutschen Bundestages nahm nun diesen Fall zum Anlass, um über „Konsequenzen für Trainingsstrukturen aus den Vorkommnissen am OSP Sachsen/Bundesstützpunkt Chemnitz“ zu diskutieren.Nach der üblichen Empörungswelle also nun der übliche Ruf nach Konsequenzen. Im geschlossenen deutschen Sportsystem und in der Politik ist man Meister darin, vor Missständen die Augen zu verschließen, nicht genau hinzuschauen, zu verdrängen – alles einfach laufen zu lassen, bis es halt gar nicht mehr anders geht. An diesem Ritual hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum etwas geändert. Der aktuelle Fall zeigt auch wie unterschiedlich die Realität und Probleme  wahrgenommen werden, und dazu persönliche Befindlichkeiten und Interessen eine große Rolle bei der Bewertung spielen.

Immer wieder Skandale

Seit Frauenturnen – das wohl mit Vera Ceslavska 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexiko endete – immer mehr zum Kinder- und Mädchenturnen mutierte, gab und gibt es in regelmäßigen Abständen Skandale weltweit und auch im DTB. Wer lange den Turnerbund begleitet hat, hat in diesen Tagen ein déjà vu: Mal Medikamente unter die Aktiven verteilen (wie einst Bundestrainer Eric Singer) oder schlechte Platzierungen bei einer EM damit zu erklären, dass die ohnehin schon spindeldürren Turnerinnen zu dick seien (wie einst Cheftrainer Vladimir Prorok)) sind im DTB nicht unbedingt Neuigkeiten.

1989 beschäftigten sich Sportwissenschaftler – unter ihnen der Soziologe und Erziehungswissenschaftler Elk Franke in dem Buch „Sport und soziale Probleme“ – speziell mit dem Kinder- und Jugendleistungssport. Wenn man Probleme erst gar nicht entstehen lassen wolle, so Franke damals, müssten bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Unter anderem schreibt er: „Talententwicklungen müssen sich innerhalb der zugestandenen Sonderwelten für Kinder legitimieren. Daraus folgt die öffentlich-rechtliche Verantwortung des institutionalistischen Sports nicht nur für den Wettkampf, sondern auch für das Training.“ Und weiter: „Der zeitgenössische Sport wird dieser Aufgabe nur dann gerecht, wenn er seine Kollektivverantwortung im Rahmen einer Treuhänderethik erkennt. Einer Ethik, die jedoch nur dann realisierbar ist, wenn sowohl die Transparenz des „Systemwissens“ garantiert wird als auch eine neutrale Kontrollinstanz die Einhaltung vereinbarter Regelungen überwachen kann.“

Mehr als 30 Jahre sind vergangen, die Probleme sind geblieben. Ausgeblieben sind Lösungen, etwa ein wirkliches, umfangreiches Nachwuchskonzept einschließlich einer Talentfindungs-Strategie zu entwickeln, das nicht nur sportfachliche, sondern auch soziale und pädagogische Schwerpunkte setzt. Oder eine akademische Trainerausbildung mit nicht nur sportfachlichen, sondern pädagogischen und psychologischen Modulen. Ein Trainerkonzept, das eine angemessene Bezahlung und unbefristete Verträge umfasst, und somit  Druck von Trainern und Athleten nimmt. Beide Konzepte müssten Schnittstellen haben: Beispielsweise transparente und offene Trainingsräume vor allem im Kinder- und Jugendbereich, die einer regelmäßigen Kontrolle und Evaluierung unterliegen – beides von unabhängigen Fachleuten, die mit Sportorganisationen nichts zu tun haben.

Nicht so erschüttert

Die DTB-Athletensprecherin Kim Bui sagt vor dem Ausschuss, dass auch sie erst durch das Nachrichtenmagazin von den Vorkommnissen erfahren habe. Und: „Ich bin bezeichnenderweise nicht so erschüttert über die Vorfälle wie manch ein Außenstehender, weil sie leider ein Teil unserer Turn-Realität sind.“ Es sei ihr heute möglich, die Dinge anders zu reflektieren denn als 16-jährige Turnerin. Die Vorfälle von Chemnitz zeigten auch ein bewusstes Schaffen von emotionaler Abhängigkeit der Athletinnen zu ihren Trainerinnen, um die Athletinnen zu kontrollieren, sagt die 32-Jährige weiter. Ihr Fazit: „Chemnitz ist wohl nur die Spitze des Eisberges.“

Die Aussage der Athletensprecherin macht zunächst sprach- und ratlos. In Zeiten der Me-too-Bewegung,von runden Tischen, wo es um die Aufklärung von sexualisierter Gewalt geht, müssten im Sport, generell aber in den Fachverbänden alle Verantwortlichen im Bezug auf Umgang mit den Schutzbefohlenen besonders sensibilisiert und die Zeiten von Kasernentönen, Schikanen, Mobbing und Übergriffen vorbei sein. Und es ist mit einer Entschuldigung gegenüber etwa Opfern sexualisierter Gewalt allein nicht getan, wie es beispielsweise die DOSB-Vizepräsidentin Petra Tzschoppe letztes Jahr tat. Dafür hat sich der Sport in dieser problembehafteten Endlosschleife schon zu lange verheddert.

Was Kim Bui ausführte – was sagt das über das Verhältnis unter den Turnerinnen aus? Über gegenseitiges Vertrauen und mögliche Hilfe untereinander? In sozialen Medien sein Leben auszubreiten, scheint einfacher zu sein als mit einer Teamkollegin oder der Athletensprecherin über Probleme zu sprechen, die irgendwie alle betreffen.

DTB-Präsident Alfons Hölzl bestätigt Kim Bui vor dem Ausschuss – es sei kein ausschließlich sächsisches Problem, mit dem man sich gerade beschäftige. Aber wenn das so ist und man längst Bescheid weiß, was tut man dann dagegen?

Änderungsbedarf

Sportausschussvorsitzende Dagmar Freitag will darüber diskutieren, „welchen strukturellen Änderungsbedarf sowohl der DTB wie der DOSB erkannt haben, und inwieweit solche Folgerungen auch Auswirkungen auf die Strukturen über die Sportart Turnen hinaus haben könnten“.

Da kommt man nun an einen Punkt, wo man nicht nur die SportpolitikerInnen,  sondern vor allem den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und seine Mitgliedsverbände fragen muss, warum sie strukturelle Änderungen nicht schon lange vorgenommen haben, die sie ja beschlossen haben.

Die Frage geht auch an André Hahn, Obmann der Linken im Sportausschuss, der sich im Vorfeld über die Art und Weise erregt, wie im Fall Frehse DTB-Präsident Hölzl und Freitag „öffentlich reagiert haben. Ich bin damit definitiv nicht einverstanden.“ Er fordert sachorientierte Lösungen. „So ist zum Beispiel die Frage, ob die Forderung des Bundesinnenministeriums im Rahmen der Spitzensportreform, die Zahl der Bundes- und Olympiastützpunkte zu reduzieren, tatsächlich der richtige Weg war, oder ob wir nicht doch ein dichteres Netz von Stützpunkten benötigen, um den jungen Sportlerinnen und Sportlern ein Training in Wohnort- und Elternnähe zu ermöglichen.“

Genau das aber waren doch auch Kritikpunkte an der Reform, die 2016 in Magdeburg mit überwältigender Mehrheit verabschiedet wurde. Vor allem viele AthletInnen hatten immer wieder darauf hingewiesen, was eine Zentralisierung zur Folge haben würde. Die Diskussion über die „Neustrukturierung des Leistungssports und der Spitzensportförderung“ im Sport drehte sich aber bei den Verantwortlichen doch hauptsächlich nur darum, wie viel Steuergeld man mit einer Reform herausholen kann, die bis heute nicht umgesetzt ist. Zwar wurde immer wieder gebetsmühlenartig gepredigt, die AthletInnen (zwischendurch auch mal TrainerInnen) stünden im Mittelpunkt des epochalen Reformwerkes, das unvollendet ist und bleiben wird, aber wesentliche Dinge wurden gar nicht angedacht. Hölzl sagt heute – auch sein Verband hat der Reform zugestimmt – es wäre besser, wenn es im Frauenturnen mehr als die drei Stützpunkte Chemnitz, Mannheim und Stuttgart gäbe.

Selbstversuche

Aber es geht doch nun nicht um Trainingstätten. Wie der Sport in vielen Selbstversuchen zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung bewiesen hat, sind die Probleme, um die es hier geht, damit nicht gelöst worden. Dirk Schimmelpfennig, Vorstand Leistungssport im DOSB sagte in Berlin, es gehe nun darum Konsequenzen für die Olympiastützpunkte allgemein zu ziehen. Entsprechende Untersuchungen seien „in den letzten Zügen, aber noch nicht abgeschlossen“. Da darf man auf das Ergebnis gespannt sein, abgesehen davon, dass man nicht nur an den OSP Konsequenzen ziehen müsste.

Beispielsweise könnte man ja mal mit Hilfe von PotAS (Potenzialanalyse) ernsthaft Strukturfragen angehen – schließlich ist in diesem Zusammenhang ja immer von Qualitätsmanagement die Rede.

Lazar: Kultur-unf Strukturwandel

Die Sportausschuss-Sitzung hat gezeigt, dass wir einen grundlegenden Kultur- und Strukturwandel im Leistungssport brauchen. Eine vom Sport unabhängige, niedrigschwellige Anlaufstelle für von Gewalt und Missbrauch betroffene Athletinnen und Athleten, wie sie jüngst von Athleten Deutschland gefordert wurde, ist dringend notwendig“, sagt Monika Lazar, Obfrau der Grünen im Sportausschuss.

Wer einen Kultur- und Strukturwandel will, der braucht eine gesellschaftliche Diskussion über die Rolle des Sports generell, des Spitzensports im Besonderen. Und ob man dafür bereit ist, auch Kinder und Jugendliche früh in diese Mühle aus Training Schule, Training zu stecken. 1984 vor den Spielen in Los Angeles, wo gerade besonderes Chaos im DTB herrschte, hat der damalige DTB-Bundeskulturwart Pfarrer Heinz Döring gefordert: „Schluss mit der Repräsentation von Sport und Staat durch Kinder und Jugendliche.“

Und wenn sie dann doch mitmachen sollen, darf man sie nicht alleine lassen. Ebenso wenig wie TrainerInnen, die in diesem System, das auf Erfolg ausgerichtet ist, nicht nur unter ständigem Druck stehen, mit dem sie auf unterschiedliche Weise umgehen, sondern oft auch überfordert sind.

Dafür bräuchte es dann eben auch Anlaufstellen, und zwar unabhängige, die nichts mit dem Arbeitgeber zu tun haben – heißt er nun Fachverband, LSB oder DOSB. Und noch wichtiger sind diese Anlaufstellen für Kinder und Teenager, die weit von zuhause weg trainieren. „Eine Schulter zum Anlehnen, keinen Trainer, keine Teamkollegin. Kein Wort über Sport, kein Satz, der mit ‚Du musst‘ anfängt, Ruhe und jemand, der mich mal fragt, was ich jetzt mal gerne machen will.“ Das ist der Wunsch einer 14-Jährigen in der Tretmühle Leistungssport.

In einer Spirale

Viele Eltern befördern ja gerne den Wunsch ihrer Kinder, SpitzensportlerInnen zu werden. Nicht zuletzt, weil manche ihre eigenen Träume mit Hilfe ihrer Kinder verwirklichen wollen, aber auch, weil sie Prestige und finanziellen Erfolg erhoffen. Sie drängen und treiben ihre Sprösslinge nicht selten in eine Spirale, die diese kaum aushalten. Es sei denn, die Kleinen haben den ungesunden Ehrgeiz ihrer Eltern geerbt. Viele Jugendliche steigen auch aus: Aus Frust, oder aus der Erkenntnis, dass ihr Talent doch nicht reicht, um nach ganz oben zu kommen. Oder weil sie ihr Leben zurückhaben wollen mit Familie, Freunden und einem Alltag, der nicht ausschließlich fremdbestimmt ist. Wo Helikopter-Eltern nicht selten ihre Töchter und Söhne überbeschützen, sind im Sport Väter und Mütter manchmal die treibenden Kräfte. Oder Eltern, die nicht unbedingt genau wissen wollen, was abgeht, lassen es einfach laufen – Hauptsache der Erfolg stellt sich ein.

Unsere Mädchen sind keine isolierten, seelenlos funktionierenden Hormonzwerge oder magersüchtige, freudlose Turnmaschinen, sondern fröhliche, selbstbewusste und selbstsichere moderne junge Frauen, die gewohnt sind, sich frei in einer freien Gesellschaft zu bewegen.“ Zitat aus einem offenen Brief, den Eltern schrieben, deren Töchter sich 1984 an der Frankfurter Turnschule auf die Spiele in Los Angeles vorbereiteten. Sie wollten damit einer Turnerin widersprechen, die sich gegen System, Strukturen und Trainer öffentlich wehrte, weil sie nicht nur von gesundheitlichen Problemen geplagt war, sondern mit denen nicht mehr zurecht kam, die an ihrer sportlichen Kariere bastelten.

Die Realität war damals eine andere, als Eltern und FunktionärInnen sie gerne gehabt hätten. Aber hat sich was geändert? Sind junge Mädchen – dasselbe gilt auch für junge Männer – wirklich so selbstbewusst, wie sie manchmal rüberkommen, um sich im Ernstfall gegen TrainerInnen, FunktionärInnen im Spitzensport zu wehren, wenn sie und ihr Fortkommen von ihnen abhängig sind? Wenn auch Eltern ihnen nicht glauben, nicht zuhören?

Für die Kinder und Jugendlichen ein Dilemma, weil sie in der Erwachsenenwelt, die ihnen sagt, wo es lang geht, oft nicht gefragt geschweige denn an Entscheidungen beteiligt werden.

Gienger: Hilfestellung, aber wie

Der einstige Reck-Weltmeister Eberhard Gienger, heute sportpolitischer Sprecher der CDU/CSU im Sportausschuss, ist betroffen, Der Vorfall mache ihn auch traurig, sagt er und spricht von „Hilfestellung“, die die Politik geben müsste – aber wie? Auch er hat bisher keinen Lösungsansatz, der ihn befriedigt. „Es gibt ja eine Reihe von Vorschlägen, etwa auf bestimmte Wettbewerbe wie Jugendweltmeisterschaften oder Jugend-Olympia zu verzichten. Oder Ombudsstellen einzurichten oder…“ sagt er. Und: Ja, eine Systemveränderung sei nötig, „aber Veränderungen müssten dann auch wirkungsvoll sein“. Ein Spruch aus seiner aktiven Zeit, stimmt ihn offensichtlich im Nachhinein besonders nachdenklich, da hieß es bei den Jungens immer: „Wir haben Spaß, die Mädchen Probleme.“

Und die gibt es nicht nur in Sachsen. Und nicht nur im Kunstturnen.