Sich selbst in die Wüste schicken

McLaren-Bericht spricht von „institutioneller Verschwörung“ im russischen Sport / Unzeit für DOSB

London/Berlin, 9. Dezember. Ein weiterer schwerer Schlag ins Kontor der internationalen Sportfamilie und des Internationalen Olympischen Komitees (IOC): Der zweite Bericht von Richard McLaren, kanadischer Rechtsprofessor und unabhängiger Ermittler für die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) beinhaltet neue heftige Dopingvorwürfe gegen den russischen Sport. Der Kanadier stellte ihn am Freitag in London vor. Und um es mit der Vorsitzenden der Nationalen Anti-Doping-Kommission (NADA), Andrea Gotzmann, zu sagen: „Die neuen Fakten des Abschlussberichtes machen uns sprachlos.“

Nach der Lektüre des 150 Seiten langen Reports ist tiefes Durchatmen angesagt. Man ist ja schon einiges gewöhnt, aber „sprachlos“ trifft die Gemütslage. Dachte man nach dem ersten Bericht im Juli: Schlimmer geht’s nimmer, muss man nun erfahren; Doch – in der intransparenten geschäftstüchtigen Spitzen-Sportwelt sind Lug und Betrug offensichtlich Standard und eine Selbstverständlichkeit in vielerlei Hinsicht.

Zu den Fakten: Mehr als 1000 russische SportlerInnen sind nach den Ermittlungen der WADA zwischen 2011 und 2015 in ein groß angelegtes staatliches Dopingsystems eingebunden gewesen. „Das russische Team hat die Spiele von London in einer nie dagewesenen Weise korrumpiert. Das ganze Ausmaß wird wohl nie bekannt werden“, fasste McLaren bei seiner  Pressekonferenz die unglaublichen Tatsachen zusammen.

Nicht aufgehört

Die Manipulationen wurden 2012 bei den Olympischen Spielen in London, bei der Universiade, der Leichtathletik-WM 2013 und den Winterspielen 2014 in Sotschi durchgezogen. Danach ging es weiter: „Der Austausch von Dopingproben hat mit der Schlussfeier der Winterspiele in Sotschi nicht aufgehört“, stellt der Rechtsprofessor fest. Die Ermittler haben bisher Interviews, Dateien, E-Mails und über 4000 Excel-Dokumente ausgewertet. „Das Bild ist nicht komplett. Wir hatten nur Zugriff auf einen kleinen Daten-Teil und Beweismaterial, das es möglicherweise noch gibt.“

Die AthletInnen haben, so die Untersucher, entweder selbst gedopt, oder profitierten von der „systematischen und zentralisierten Vertuschung und Manipulation des Dopingkontrollprozesses.“

Der Bericht spricht von einer „institutionellen Verschwörung“ im Winter-, Sommer und Behindertensport.

Mittel verkauft

Julia Stepanowa hatte am Dienstag anläßlich ihrer Preisverleihung durch die Doping-Opfer-Hilfe auch noch einmal sehr anschaulich die Rolle der Trainer in dem System geschildert. Der McLaren-Bericht, der sich nicht nur auf Whistleblower, sondern auch auf forensische Untersuchungen bezieht, belegt das nun. Cheftrainer des Nationalteams seien dafür bezahlt worden, dass sie leistungssteigernde Mittel an die AthletInnen weiterverkauft haben. Die Rusada hat, laut Bericht, Doping-Kontrolleure bestochen, damit sie die SportlerInnen vor unangekündigten Tests warnen, Proben fälschen. Oder wegschauen, damit „saubere“ Proben abgeben werden können.

Außerdem gebe es Belege, dass Tests von zwölf Medaillengewinnern – davon vier Olympiasieger – in Sotschi manipuliert worden sind.

Im ersten Bericht, der im Juli vorgestellt wurde, war auch die Verwicklung des Geheimdienstes FES, der bei der Vertuschung half, entdeckt worden. Damals, so war zu lesen, waren zwischen 2012 und 2015 etwa 650 positive Doping-Proben aus 30 Sportarten plötzlich verschwunden.

Russen sagen njet

In den russischen Nachrichtensendungen ist der McLaren-Bericht die erste Meldung. Alle, die zu Wort kommen, sagen „njet“. Stimmt alles nicht. Das russische Sportministerium wehrt sich heftig gegen die Vorwürfe, die neue Aufsichtsrats-Vorsitzende der Rusada und ehemalige Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa zieht immer noch in Zweifel, dass es Belege für die Vorwürfe gibt. Es sei „immer sehr einfach, Schuldige und Unschuldige in einen Topf zu werfen“. Wenn man konkrete Schuldbeweise fordern würde, könnte man die sicher nicht vorlegen, sagt sie.

Doch das kann man: Die Fakten sind unwiderlegbar.

Nun ist das IOC gefragt. Mit der „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Dopingsündern gingen die Herrschaften in Lausanne ja bisher sehr lax um. Und der Eiertanz, den das IOC und sein großer Vorsitzender Thomas Bach dort im Juli unmittelbar vor den Spielen aufführten, ist allen noch in guter Erinnerung. Als kurz vor den Spielen in Rio der erste Teil des Berichts vorlag, schob das IOC die Verantwortung den Fachverbänden zu, die unter Zeitdruck eine Einzelfallprüfung durchziehen sollten – mit dem Ergebnis, dass 280 russische Sportler am Zuckerhut starten durften.

Bachs Spiel auf Zeit zugunsten seines Männerfreunds Putin klappte. Zwar empörte sich fast die gesamte Sportwelt, aber  Kritik und Empörung prallten an den IOC- Doppelmoralisten ab. Nur die Verantwortlichen der Paralympischen Spiele zeigten Rückgrat und schlossen das russische Team aus.

Bachsche Ansage

Salto rückwärts? Jetzt sagt Bach: „Professor McLarens Bericht schildert einen fundamentalen Angriff auf die Integrität des Sports. Für mich als Olympiateilnehmer sollte jeder Athlet oder Offizielle, der sich aktiv an einem solchen Manipulationssystem beteiligt hat, lebenslang von den Olympischen Spielen ausgeschlossen werden – in welcher Funktion auch immer.“ Bravo – das ist (mal wieder) eine Ansage. Aber wird sie diesmal auch knallhart umgesetzt? Jetzt will das IOC erstmal alle 254 Urinproben des russischen Teams von Sotschi erneut analysieren.

Wie steht es eigentlich mit Funktionären des IOC, die sehenden Auges so etwas geschehen lassen, nicht durchgreifen und eigene Regeln gerne als Gummiparagraphen so zurecht dehnen, wie man sie gerade braucht? Wie lautet noch mal der Eid, den IOC-Mitglieder vor ihrer Aufnahme in die ehrenwerte Gesellschaft ablegen müssen? „Der Ehre teilhaftig geworden, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees zu werden, und im Bewusstsein der Verantwortung, die mir diese Stellung auferlegt, verpflichte ich mich, mich nicht von politischen oder geschäftlichen Einflüssen und von rassistischen oder religiösen Erwägungen leiten zu lassen.“ Ups. Da müsste sich aber schon ein beachtlicher Teil des IOC wegen „Meineids“ selbst in die Wüste geschickt haben.

Hartes Durchgreifen

Deutsche FunktionärInnen und PolitikerInnen fordern endlich hartes Durchgreifen. Leichtathletik-Präsident Clemens Prokop spricht vermutlich für die Mehrheit der Fachverbände, wenn er sagt: „Die Konsequenz kann nur sein, dass der russische Sport bis zu einer glaubwürdigen Veränderung der Situation von allen Meisterschaften und Olympischen Spielen ausgeschlossen wird.“

Auch die Politik reiht sich ein. Die Sportausschuss-Vorsitzende im Bundestag, Dagmar Freitag sagt: „IOC-Präsident Thomas Bach muß jetzt endgültig seiner Verantwortung gerecht werden und eine klare Haltung zeigen. Bislang ist er bestenfalls durch Worte aufgefallen, die Taten hat er delegiert an die Fachverbände.“ Özcan Mutlu, sportpolitischer Sprecher der Grünen, sieht die „Idee des fairen Sports mit Füßen getreten. Das sprengt jeden olympischen Gedanken und ist ein Angriff auf Sportlerinnen, Sportler, Trainerinnen und Trainer, die tagtäglich hart und auf ehrliche Weise an der Verbesserung ihrer Leistung arbeiten, aber auch auf Zuschauerinnen, Zuschauer, Geldgeber und Geldgeberinnen.“ Auch er fordert endlich ein deutliches Zeichen der internationalen Verbände gegen Doping.

Nibelungentreu

Mit einem Schreiben an seine Mitgliedsverbände hatte sich der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) am 3. August 2016  in Nibelungentreue an die Seite des IOC, seines Chefs und deren umstrittener Entscheidung gestellt, russische AthletInnen zuzulassen.

Heute hört sich die Stellungnahme so an: „Die Vorwürfe aus dem ersten Bericht im Sommer waren heftig, aber das heute ist der Hammer. Die Untersuchung enthüllt einen Angriff auf die Integrität des Weltsports, die (sic!) dieser durch konsequentes Handeln abwehren muss“, sagt der Vorstandsvorsitzende Michael Vesper, der im August ebenso wie DOSB-Präsident Alfons Hörmann die Konsequenz vermissen lies, Bach zum Ausschluss der Russen aufzufordern.

Sidekick oder Kämpfer

A propos Glaubwürdigkeit. Da ist in erster Line Thomas Bach gefragt, der sich nun entscheiden muss: Aufrichtiger Anti-Doping-Kämpfer oder weiter lavierender und antichambrierender Sidekick des mächtigen Genossen Putin? Der internationale Sport ist auf Talfahrt, Ansehen und Ruf sind ruiniert. Bach, der immer so gerne darauf verweist, dass SportlerInnen das Zentrum seiner IOC-Gedanken und Entscheidungen sind, ist es vor allem den Athleten schuldig, die ehrlich und sauber an den Start gehen. Und auch denen, die durch Druck zum Sünder und Opfer wurden. Ob sonst in diesem unredlichen olympischen Betrugs- und Lügengebäude noch viel zu retten ist, wird sich zeigen.

Für den DOSB kommt das neuerliche Doping-Beben zur Unzeit. Präsident Alfons Hörmann und Bundesinnenminister Thomas de Maizière paukten ein Leistungssport-Konzept durch, dass nun umgesetzt werden soll. Medaillen sind das Maß fast aller Dinge, auch wenn anderes behauptet wird. Angesichts des McLaren-Berichts stellt sich wiederholt die Frage, ob sich Deutschland  an diesem verlotterten Spitzensport wirklich noch beteiligen will. Nationale Imagepflege durch Platzierungen im Medaillenspiegel? Braucht kein Mensch. Jugendliche, die sich ein Ziel setzen, trainieren und versuchen, ihre Leistung abzurufen, mit ihrem Lebensentwurf in Zeiten von Orientierungslosigkeit auch ein Vorbild sein können. Das wäre das Beste, was einer Gesellschaft  passieren kann.

Die Diskussion über den Sport nach dem Motto: Wo wollen wir hin? ist nach dem heutigen Tag unausweichlich geworden. Für Erfolge um jeden Preis gibt es – auch im Bezug auf unsere eigene Dopingvergangenheit – keine Legitimation mehr.

Jetzt ist die einstige Sportgroßmacht Russland endgültig vom Helden-Sockel gestürzt. Und wer fliegt als nächstes auf?