Letzte Ausfahrt zur Chance Spitzensportreform

Ein Entwurf, der nicht auf große Gegenliebe stößt, liegt nun DOSB-Mitgliedsverbänden und Parlamentariern vor

Berlin, 29. September. Nun liegt er also schwarz auf weiß vor, der Entwurf zur Neustrukturierung des Leistungssports und der Spitzensportförderung: Gleichzeitig wurden den Mitgliedsorganisationen und den Parlamentariern im Sportausschuss des Deutschen Bundestages die Papiere von Bundesinnenministerium bzw. Deutschem Olympischen Sportbund (DOSB) zugeschickt. Gestern (Mittwoch) stellten Bundesinnenminister Thomas de Maizière und DOSB-Präsident Alfons Hörmann dem Sportausschuss das Gesamtwerk vor, das ganz deutlich die Handschrift des BMI zeigt. Und sie erlebten ungewohnten Gegenwind von Parlamentariern aller Parteien.

Als der Entwurf bei den Mitgliedsorganisationen diesen Montag auf die Schreibtische flatterte, waren nach der Lektüre manche ziemlich fassungslos. „Das Gefährliche an diesem Papier ist ja, dass vieles richtig ist, die Ist-Analyse stimmt. Aber die Schlüsse, die in vielen Bereichen gezogen werden, sind so weit von sportfachlicher Kompetenz und Arbeit entfernt, dass man nicht glauben mag, dass da der DOSB mitgearbeitet hat“, sagt ein Verbandsvertreter. Und er ist bei einer Kurz-Umfrage am Mittwoch morgen nicht der einzige, der so reagiert.

Schlüssig und logisch

Auf den ersten Blick wirkt das Reformpapier in sich schlüssig und logisch, wenn es sich auch bis auf wenige, aber entscheidende Punkte von alten Reform-Papieren des ehemaligen Deutschen Sportbundes (DSB) kaum unterscheidet und alte Probleme auch die neuen Probleme sind. Und nicht nur aus Sicht des Ministeriums machen viele Punkte in dem Papier Sinn. Vor allem stehen einige Anregungen für Transparenz – besonders auch bei der Finanzierung. Aber: Das Papier vermittelt den Eindruck, dass es ein bürokratischer Verwaltungs-Tiger ist. Der Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV), Clemens Prokop, formuliert das so: „Auf den ersten Blick enthält das Konzept eine Reihe interessanter Gedanken. Allerdings sehe ich eine große Aufblähung der Bürokratie. Und man kann Verbänden auch nicht vorschreiben, wie sie sich zu organisieren haben.“ Prokop kann sich nicht vorstellen, dass der Entwurf so verabschiedet wird. Die Sportausschuss-Mitglieder auch nicht, die sich teilweise heftig echauffierten. Der Vertreter der Linken, André Hahn, sagte, er sei erschrocken, als er das Papier gesehen habe, das so wirkte, als habe eine Unternehmensberatung sich mit dem Umbau des Leistungssports beschäftigt. Er erregte sich über das gesamte Prozedere und den Zeitplan. Aber wer glaube, man könne das am Parlament vorbei durchziehen und eine „bloße Unterrichtung reiche“, der täusche sich, meinte Hahn weiter. Nicht nur er, sondern alle im Sportausschuss sind sich einig, dass es viele Fragen zu klären gibt.

Potenzialorientierte Fördersystematik“

Auf den zweiten Blick werden schnell einige dieser Fragen deutlich: In der Theorie mag eine „potenzialorientierte Fördersystematik“, wie sie nun angestrebt wird, funktionieren. Aber im förderalen Vereins- und Verbandssystem gehört schon Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie das im Sinne der Erfinder klappen soll. Da wurde vieles schon versucht, und man scheiterte an den Strukturen der deutschen Sportlandschaft, die man auch mit der Transformation ehrenamtlicher Personalstrukturen in hauptamtliche Schlüsselfunktionen sicher nicht zwingend ändern wird. Die Empfehlungen für eine neue Führungsstruktur der Spitzensportverbände lesen sich dann auch eher drohend als verbindlich, etwa: „Die Berufung eines hauptamtlichen Vorstands Leistungssport ist verpflichtend, was durch die Koppelung an Bundesmittel erreicht wird.“

Dass es Verbände gibt, die sich finanziell Hauptamtliche nicht leisten können und man deshalb Gefahr laufe, ein Mehrklassensystem der Verbände einzuführen, sehen die „Reformer“ nicht: Wer sich einen hauptamtlichen Sportdirektor nicht leisten könne, würde vom BMI Mittel bekommen. Aber ob man solche Abhängigkeiten will?

Neue Kommissionen, neue Probleme?

Und auch neue Kommissionen, die man einrichten will, könnten eher zu neuen Problemfeldern als zu Problemlösern werden. Die Förderentscheidung soll in Zukunft in einem Förderzyklus fallen. Das heißt: Die pauschale Grundförderung und zusätzliche Projektmittel, die die Verbände bisher bekamen, sollen wegfallen zugunsten einer Gesamtförderentscheidung.

Über diese soll eine Expertenkommission (PotAS-Kommission) entscheiden. In diesem Gremium sitzen: Vertreter des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (Bisp), Wissenschaftler (u.a. Vertreter des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaften IAT, Wissenschaftsteams und Experten), die Führungsakademie und der DOSB. Über allem steht ein externer Leiter. 500 000 Euro sind für die personelle Ausstattung dieser Kommission schon einmal angedacht.

PotAS – die Entscheider

„PotAS“ soll alle Disziplinen „nach objektiven, transparenten, sportfachlichen Bewertungskriterien“ beurteilen, die für eine „perspektivische Leistungserbringung“ (nach vier bis acht Jahren auf das Treppchen) wichtig sind. Um objektive und transparente (darauf legen die BMI-Vertreter besonderen Wert) Bewertungsgrundlagen zu schaffen, werden sogenannte Attribute für die Bewertung erstellt. Es gibt 20 Attribute und 59 Unterattribute (die bisher keiner kennt), die berücksichtigt werden müssen/sollen. Danach wird berechnet, in welchem Cluster die Sportart oder Disziplin landet: Exzellenzcluster (Medallienpotenzial), Potenzialcluster (Aufbau-, Struktur- und Individualförderung). Diejenigen, die kein oder wenig Potenzial vorweisen, fallen entweder völlig durch das Raster oder müssen entscheidende finanzielle Einbußen hinnehmen.

„Deutschland soll erfolgreich sein, aber fair und sauber. Wir wollen nicht wie bisher Erfolge und Misserfolge nachfinanzieren, sondern das Potenzial und die Perspektive für die Zukunft fördern“, erklärte der Bundesminister nach seinem Auftritt im Sportausschuss die angedachten Förder-Ideen, die wenig Beifall fanden.

Der Einstufung folgen Strukturgespräche des DOSB mit den Spitzenverbänden unter Einbeziehung des BMI, der Länder, der Landessportbünde, der Partner aus den Bereichen Service und Wissenschaft sowie der Stiftung Deutsche Sporthilfe. Die sollen auf Grundlage der Bewertung Fördervorschläge entwickeln. Und schließlich trifft dann eine Förderkommission (DOSB, BMI, Länder) eine Gesamtförderentscheidung.

Problemfelder

Doch bis es soweit ist, sind noch viele ungelöste Problemfelder zu beackern. Beispiel Nachwuchsförderung und Talentsuche. „Die aktuelle Situation des Nachwuchsleistungssports ist durch vielfältige gesellschaftliche Veränderungen gekennzeichnet. Die demographischen Entwicklungen wirken sich auf die Anzahl sporttreibender Kinder und Jugendlicher in den Sportvereinen aus“, heißt es in dem Papier. Kein Wort von einem größtenteils immer noch miserablen Schulsport und einem Schulalltag, der es Kindern und Jugendlichen heute kaum noch ermöglicht, sich intensiv sportlich zu betätigen. Talentsuche? Es gibt mittlerweile in einigen Bundesländern wie Berlin (die Kampagne heißt „Berlin hat Talent“) Versuche, Kinder auch für den Spitzensport zu finden. In der Hauptstadt werden Drittklässler auf ihre Fitness getestet, und sie sollen für Sport begeistert werden. Und dazwischen will man das eine oder andere Talent entdecken. So etwas soll es in Zukunft bundesweit geben. Aber wie soll das organisiert werden, wer ist dafür zuständig? Bildungs- oder Kultusminister, die seit 40 Jahren nicht einmal ihren Schulsport auf die Reihe kriegen?

Für kommende Jahrzehnte

Trainer, Olympia-und Bundesstützpunkte sind weitere Bereiche, wo noch viele Fragen offen sind. Das Stützpunktsystem ist strittig, weil von 19 Olympiastützpunkten nur noch 13 übrig bleiben sollen. Auch bei den Bundesstützpunkten wird gestrichen. Dass das nicht einfach wird, zeigt das Beispiel Halle. Zwar ist noch nichts offiziell, aber Halle könnte die Hälfte seiner derzeit fünf Stützpunkte verlieren. Stadträte und Bürgermeister Bernd Wiegand haben sich auf die Seite der betroffen Fachverbände  geschlagen. Und die Kritik am DOSB ist ziemlich massiv.

DOSB-Präsident Hörmann wiederholte noch einmal, was er nach den Spielen in Rio immer wieder sagt: „Das Ergebnis von Rio mit 17 Mal Gold hat uns nicht ermutigt, die Dinge so laufen zu lassen, sondern die Erfolge für die kommenden Jahrzehnte vorzubereiten.“ Der Weg wird kein leichter sein, das hat er schon im Sportausschuss erfahren. Und ob die Verbände sich von ihm so gut vertreten fühlen, nachdem sie den Entwurf nun gesehen haben, ist mehr als fraglich. Diskussionen wird es reichlich geben. Etwa auch darüber, dass in Zukunft paralympische Sportarten bei den zuständigen Spitzensportverbänden integriert werden – etwa wie in Großbritannien. Auch hier hält sich die Begeisterung in vielen Fachverbänden in Grenzen.

Dass auch die Wissenschaft nun mehr in der Praxis, in der Koordination und an anderen entscheidenden Stellen im Spitzensport mitmischen soll – auch das ist für viele im Sport ein weiterer Streitpunkt. Özcan Mutlu von den Grünen war auch sehr unzufrieden nach der Anhörung – viele Dinge seien „in keinster Weise“ akzeptabel, sagte er. Und fasste seine Eindrücke so zusammen: „Sportdeutschland kreißte und gebar eine bürokratische Maus.”

Medaillen, Medaillen, Medaillen

Verwunderlich ist dieser Entwurf aber besonders deshalb: Man fragt sich, ob die „Reform-Macher“, die seit Anfang 2015 nun an dem Papier gearbeitet haben, irgendwo in einem Bunker saßen und nicht mitbekommen haben, was in letzter Zeit im nationalen und internationalen Sport so alles passiert ist: Massive Dopingvorfälle, Korruption, Betrügereien. Und wie sich die gesellschaftliche Stimmungslage im Bezug auf Spitzensport und Sportgroßereignisse wie Olympische Spiele verändert hat.

Man fühlt sich in die 80er Jahre versetzt, wo Spitzensport in Zeiten des sportlichen Ost-West-Wettrüsten sich nur über Medaillen definierte. Denn das erklärte einzige Ziel dieser Spitzensportreform sind Medaillen. Das sei in dem Beratergremium, dem Hörmann und der Minister vorstanden, einstimmige Beschlusslage gewesen. Keine Fragen, ob das Sammeln von Edelmetall als einzige Zielvorgabe in einer demokratischen Gesellschaft heute als Rechtfertigung für die Finanzierung von Spitzensport durch Steuergelder noch taugt. Keine Fragen, ob diese Gesellschaft diesen Spitzensport überhaupt noch will. Keine Fragen, ob ein Land wie Deutschland Medaillen für das Image braucht. Keine Frage, ob Leistungsdruck durch die Medaillen-Vorgaben nicht auch wieder den Griff in die pharmazeutische Trickkiste provoziert, weil man sonst keinen Treppchen-Platz bekommen kann. Und dass man somit das mühsam zustande gekommene Antidoping-Gesetz ad absurdum führt. Kein Blick über den Sport-Tellerrand. Den wollen aber nun die Sportausschussmitglieder tun. Die Ausschuss-Vorsitzende Dagmar Freitag, die auch leicht geplättet aus der Sitzung kam, hatte noch viele Fragen, die man auf der öffentlichen Anhörung des Sportausschusses am 19. Oktober hoffentlich klären kann. Nicht nur sie, sondern auch die anderen Mitglieder vermissten eine gesamtgesellschaftliche Debatte, die aber dringend notwendig sei.

Geld und wieder Geld

Derweil wird schon wieder viel von Geld geredet, der meist einfachsten Lösung in den Augen vieler. Auch Hörmann spricht nun schon mal von der Anschubfinanzierung. Für einen Entwurf? Bisher hat das BMI rund 160 Millionen Euro für den Spitzensport gegeben. Angesichts des neuen Konzepts sind sich alle einig: Das könnte viel, viel teurer werden. Aber: Diesmal soll erst das Konzept stehen und dann über die Finanzierung gesprochen werden. „Es spricht einiges dafür, dass wir mehr Geld brauchen werden“, sagte der Minister. Und stellt auch mehr Geld in Aussicht. Falls es denn zur Umsetzung dieser Reform kommt.

Bloß kein Supergau

Denn nun gilt es, die DOSB-Mitgliedsverbände von dem Konzept zu überzeugen. Vor allem muss Hörmann auch belegen, dass er die Sportinteressen in diesen Entwurf entsprechend vertreten und eingebracht hat. Da stellen nämlich manche seiner Mitglieder die Frage, wessen Geschäft er wirklich betreibt bei diesem Reform-Vorhaben. Am 18. Oktober werden in Frankfurt am Main die Sportverbände über das Papier diskutieren, die Mitgliederversammlung soll dann am 3. Dezember in Magdeburg darüber entscheiden. Was würde aber passieren, wenn die Mitglieder sich verweigerten und nicht zustimmten? Über diesen Supergau möchte Hörmann gar nicht nachdenken. Und der Minister sicher auch nicht.

Letzte Ausfahrt zur Chance, eine Spitzenreform durchzuziehen, ist 2017. Denn was passiert, wenn man bis zur Bundestagswahl das Ganze nicht gebacken kriegt? Neuer Innenminister eventuell, neue Konstellation, neues Spiel… und alles geht von vorne los.