Herausforderungen für die Gipfelstürmerin

Vdk-Präsidentin Bentele über Soziales und Sport in Kriegs- und Krisenzeiten

Berlin, 15.Oktober. Derzeit ist Verena Bentele sehr gefragt in ihrer Eigenschaft als Präsidentin des größten Sozialverbandes, dem VdK  Deutschland. In Krisenzeiten wie momentan, da es gilt, sich der immer bedrohlicher werdenden sozialen Schieflage entgegenzustemmen, ist die gebürtige Lindauerin vorne dabei, Probleme nicht nur zu diskutieren, sondern auch zu deren Lösung beizutragen. Corona, Klimakrise, russischer Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Folgen mit nicht nur steigenden Energiepreisen, und einer daraus resultierenden Inflation – da brauchen die schwächsten Menschen in der Gesellschaft eine Stimme: Verena Bentele ist eine dieser Stimmen, die nicht nur für ihre 2,1 Millionen VdK-Mitglieder spricht. Engagiert ist die von Geburt an blinde Literatur- und Sprachwissenschaftlerin sowie Pädagogin auch im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). In einem Wannsee-Gespräch sprach sportspitze.de mit ihr über die Gefährdung des sozialen Friedens, Solidarität, die Rolle des Sports in Krisen, über Herausforderungen und den Kilimandscharo.

Der schöne, sonnige Herbstnachmittag ist trügerisch. Die Wetterlage entspricht nicht der Stimmung im Lande, sondern ist bunt und losgelöst. Viele Menschen in der Republik haben Angst vor der Zukunft, fragen sich, wie es weitergeht. Rechte, Populisten und Querdenker tun das ihre dazu – im Bundestag und auf der Straße – und beschwören Weltuntergangsstimmung.

Frau Bentele, wie steht‘s mit der Solidarität im Land? Ist der soziale Friede gefährdet? „Ja, manche versuchen, den sozialen Frieden zu stören, aber ich glaube, er wird Bestand haben, wenn den Menschen die Ängste genommen werden und gute Lösungen etwa in der Strom- und Gasfrage gefunden werden. Aber: das muss nun schnell passieren. Denn wie die Leute die Sorgen drücken, das erfahren die VdK-Mitarbeiter in unseren  Beratungsstellen. Es werden täglich mehr Menschen, die dort Rat suchen. Viele aus unserer Mitgliedschaft, die ja schon vorher nichts zurücklegen oder sparen konnten, wissen nun nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Wissen nicht, wie es weitergehen wird.“

Fieses Spiel

Die Wut auf „die da oben“, vor allem auf die, die große Gewinne in der Krise machen, wächst – und so haben vor allem Rechte leichtes und fieses Spiel. „Wir sehen das ja aus anderen europäischen Ländern ebenso: Populisten und Querdenker spielen mit den Gefühlen, den Ängsten und der Verunsicherung der Menschen, haben aber keine Lösung parat. Man kann nur mit fairen, zeitnahen Lösungen die Menschen beruhigen und ihnen helfen“, so Bentele.

Empathie und Einfühlungsvermögen sind zwei Wörter, die man Verena Bentele gerne zuordnen möchte. Sich in andere hineinversetzen und sich für sie einsetzen, das scheint in ihren Genen zu liegen. Die viermalige Weltmeisterin und zwölfmalige Paralympics-Siegerin in Biathlon und Langlauf ist auch Vizepräsidentin des DOSB. Und deshalb nun die Frage, ob es denn „gescheit“ ist, nun gerade in Inflations- Krisenzeiten über Olympische Spiele eine öffentliche Diskussion zu führen, die viele Bürger und Bürgerinnen vor allem mit Millionenausgaben verbinden.

Andere Themen vorne

Natürlich würde ich mich als ehemalige Sportlerin freuen, wenn wir hier wieder Olympische und Paralympische Spiele in Deutschland hätten. Aber das muss in Ruhe vorbereitet werden. Das tut der DOSB. Es gibt ja dafür Planungen. Vor allem muss die Gesellschaft mit einbezogen werden. Das muss vernünftig vorbereitet werden. Aber jetzt stehen erstmal ganz andere Themen vorne auf der Prioritätenliste. Wir haben ja viele aktuelle Alltagsfragen zu klären.“

Als da wären: Dafür sorgen, dass Sportstätten und Schwimmbäder unter Berücksichtigung der Lage und aller Einsparmöglichkeiten offen bleiben – dass Sport vor allem auch für Kinder- und Jugendliche trotz Krise möglich bleibt. Dass ausgerechnet dann, wo es um Energiesparen und Klimafragen geht, eine Meldung hereinplatzt, dass die Asiatischen Winterspiele in Saudi Arabien stattfinden sollen, konterkariert aber die nachhaltigen Bemühungen um Glaubwürdigkeit des Sports mal wieder, oder? Die ehemalige Skiläuferin atmet tief durch, bevor sie antwortet. Und es folgt der Satz on the records: „Ich sag es mal so: Winterspiele sollten da ausgetragen werden, wo der Sport auch ausgeübt wird.“

Zur Akzeptanz des Sports trägt so eine Entscheidung ebenso wenig bei wie etwa die Behauptung, Katar sei ein begeistertes Fußballland und deshalb für die Weltmeisterschaft prädestiniert. Da sind wir uns einig.

Langlauf eher Zufall

Apropos Wintersport und Ski: Wie kommt ein Mädchen vom Bio-Bauernhof in Wellmutsweiler zum Skilanglauf? „Naja, wenn man am Bodensee groß wird, sind Berge ja nicht weit. Ich bin mit meinen Eltern Ski gefahren, habe aber auch Judo und Leichtathletik gemacht, und bin eher durch Zufall beim Skilanglauf und Biathlon gelandet.“ 1995 begann die damals 13-Jährige im Biathlon-Nachwuchskader, ein Jahr später nahm sie zum ersten Mal an einer Weltmeisterschaft teil. Trotz eines schweren Unfalls in Isny/Nesselwang 2009 ließ sich Bentele nicht entmutigen. Zusammen mit ihrem Begleitläufer Thomas Friedrich lief sie zu Erfolgen, bevor sie 2011 ihre sportliche Karriere beendete.

Wie wichtig Sport für die Persönlichkeitsentwicklung ist, darüber kann sie aus erster Hand berichten – über Motivation und Teamarbeit hält die 40-Jährige Vorträge bei Unternehmen oder in Schulen. Und natürlich – soweit es die Zeit zulässt, treibt sie selber Sport. „Bewegung ist immer gut. Und außerdem: Beim Laufen oder Radfahren, da krieg ich den Kopf frei.“

Maxime für den Sport

Den Kopf frei haben auch für neue Aufgaben, die sich im Sport stellen. „Ziele stecken, Herausforderungen annehmen und nach den eigenen Möglichkeiten bewältigen, so gut es möglich ist. Das ist eine Vorgabe, mit der Bentele offensichtlich gut gefahren ist. Und es wäre auch eine Maxime für den Sport. Wer wie sie in einer sportlichen Familie aufgewachsen ist, weiß, „wie Sport von Klein auf, mal abgesehen von der körperlichen Entwicklung, auch die Persönlichkeit und das Selbstvertrauen wachsen lässt.“ Schulsport, Kooperationen von Schule mit Vereinen und Verbänden, Bildung, sind Aufgaben, die sie für den Sport auf die To-do-Liste schreibt, neben der Lösung von Krisenproblemen. „Wir müssen für alle vom Spitzensport bis zum Vereinssport gute Rahmenbedingungen schaffen. Die Restartprogramme nach Corona sind ein wichtiger Schritt.“ Wichtig ist, Sport nun nicht nur bewegungstechnisch, sondern auch als eine Art „soziale Ausdauer“ zu erlernen und zu trainieren. Gerade jetzt sind Solidarität, Teamgeist, füreinander einstehen, ehrenamtliches Engagement und Verzicht zugunsten der „Mitspieler“ Kompetenzen, die man im Sport lernt und die eine Gesellschaft vor dem Auseinanderfallen schützen.

Ohne Ehrenamt aufgeschmissen

Da fällt das Stichwort Ehrenamt, ohne das die deutsche Gesellschaft aufgeschmissen wäre. Ehrenamtlich Tätige erfahren aber heute nicht mehr den Respekt und die Anerkennung, die sie verdienen – ganz im Gegenteil: Sie sehen sich Anfeindungen und handgreiflichen Attacken ausgesetzt. Auch im Sport, wo doch Fair Play so hochgehalten wird und Foulspiel verpönt ist. „Die Rolle des Ehrenamtes für die Gesellschaft muss besser dargestellt werden, nach außen getragen werden. Es gibt viele Ideen, um Anerkennung und Respekt für Ehrenamtliche und deren Leistung zu zeigen. Auf jeden Fall darf es keine Kosten-Nutzen-Rechnung sein“, findet Bentele. Wer nun fordere, dass die Politik das richten und man das Ehrenamt bezahlen solle, der verkenne den Sinn des Ehrenamtes.

Und sie weiß, wovon sie spricht: Neben ihrem DOSB-Ehrenamt ist sie unter anderem auch für die Christoffel-Blindenmission unterwegs, Botschafterin des Vereins  Athletes for Ukraine. Und dann ist sie auch noch parteipolitisch in der SPD zugange.

Das sind ziemlich viele Herausforderungen. Die nimmt sie gerne an: 2014 wurde Verena Bentele damals auf Vorschlag der Arbeitsministerin Andrea Nahles Behindertenbeauftrage der Bundesregierung. Sie war die erste Beauftragte , die selbst ein Handicap hatte – und somit aus eigener Erfahrung über alltägliche und andere Schwierigkeiten von Menschen mit Handicap berichten konnte.

Kilimandscharo – ein prägendes Abenteuer

Einer Herausforderung ganz anderer Art stellte sich die residierende Münchnerin 2013: Sie bestieg den höchsten Berg Afrikas, den 5.895 Meter hohen Kilimandscharo im Nordosten Tansanias. Und als erster blinder Mensch auch den Mount Menu im selben Bergmassiv. Wie kommt man auf die Idee? „Ich hab als Kind mit meiner Familie viele Wanderungen in den Bergen gemacht – war damals nicht immer  meine Lieblingsbeschäftigung, aber es reizte, mich dieser Riesenherausforderung zu stellen.“ Es sei ein unvergessliches und prägendes Abenteuer gewesen, sagt die Gipfelstürmerin. Sie würde sich eine Besteigung auch heute noch zutrauen.

Aber jetzt ist Krisenmodus angesagt – und es warten zu genüge Herausforderungen auf die taffe Sozialpolitikerin und Sportfunktionärin Bentele, die es zu bewältigen gilt. Und wie sagte schon Henrich Böll, einer von Benteles bevorzugten Schriftstellern: „Einmischen ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“