Spitzensportreform: Nicht annähernd am Ziel

Kritik und lange Mängelliste der Sportdirektoren/ DOSB verkenne seine Rolle

Berlin, 2. April. Ein Brief störte letzte Woche mal wieder die Kreise des in erstaunliche Ruhe abgetauchten Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) und seines neuen Präsidiums samt Vorstand. Wo steht der deutsche Spitzensport? Diese Frage stellt unter anderem die Sprechergruppe der Sportdirektoren in einem Schreiben dem Präsidenten Thomas Weikert, dem Vorstandsvorsitzenden Torsten Burmester und dem Leistungssport-Vorstand Dirk Schimmelpfennig. Und bringt ihre Sorgen zum Ausdruck, dass „wir“ mit der Umsetzung der Spitzensportreform „weder sportlich noch strukturell annähernd am Ziel sind“.

Es ist fast zehn Jahre her, dass man im Bundesinnenministerium (BMI) nach den Olympischen Sommerspielen in London 2012 zu dem Schluss kam: So kann es nicht weitergehen. Mit neidvollem Blick schauten die Deutschen auf die Gastgeber, die sich bei ihren Heimspielen nach trost- und erfolglosen Jahren mit einem neuen Konzept wie Phoenix aus der Asche mit 65 Medaillen (29 Gold, je 18 Silber und Bronze) vom 36. Platz des Medaillenspiegels in Atlanta 1996 auf den dritten vorgearbeitet hatten.. Das Geheimnis: Kein Dauerstreit, wer was zu sagen hat. Konzentration auf bestimmte Sportarten und die finanziellen, personellen und sportfachlichen Ressourcen. Gefördert wurden auf der Insel nur die Besten und die Aussichtsreichen. Das wollte man auch in Deutschland: Schluss mit dem Gießkannenprinzip beim Verteilen der Finanzen, Reform in Anlehnung an Britannien.

Grünes Licht von Friedrich

Der damalige CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich gab seinem Abteilungsleiter Sport, Gerhard Böhm, grünes Licht für einen „Strukturierten Dialog“ mit dem DOSB. Daraus bildeten sich Arbeitsgemeinschaften, die dann unter dem neuen Minister Thomas de Maizière das Reformkonzept entwickelten, das auch mit auf alten Förderleitlinien basierte. Vor allem die Aussicht auf viel mehr Geld ließ im Sport Bedenken hintanstellen, die sich beim genaueren Studium der Reformvorschläge und eventueller Folgen schnell einstellten. Das Grummeln hinter den Kulissen nahm zu, als deutlich wurde, worauf man sich da eingelassen hatte, und als die Sportbaustellen immer mehr wurden, aber die Lösungen auf sich warten ließen und man nichts so richtig im Griff hatte. Aber: 2016 hatten mit überwältigender Mehrheit die Delegierten bei der DOSB-Mitgliederversammlung dem Reformpapier „Neustrukturierung des Leistungssports und der Spitzensportförderung“ zugestimmt.

Von da an erlebten die Beteiligten ein Wechselbad zwischen Lust und Frust. Dass die Reform-Umsetzung funktionieren würde, daran hatten besonders diejenigen Zweifel, die schon frühere Reformversuche im Sport erlebt hatten.

Kompetenzen und Ängste

Und sie behielten Recht: Die Aufbruchstimmung war schnell dahin, Streit bestimmte die Tagesordnung. Es ging zwischen BMI und DOSB vor allem auch um die Frage, wer sich bei wem zu viel in Kompetenzen einmischt. Und wer das Sagen hat. Ängste um Machtverlust sorgten für teilweise skurrile und der Sache wenig förderliche Auseinandersetzungen, die eine gedeihliche Zusammenarbeit streckenweise kaum möglich machten und die vertrauensvolle Kooperations-Ebene zwischen Bund und Sport platt machte. Sichtbare Umsetzungserfolge waren kaum feststellbar, zuletzt auch deshalb, weil das alte DOSB-Präsidium unter Alfons Hörmann und sein Vorstand mit sich selbst und hausgemachten Problemen beschäftigt waren.

Und so hat man jetzt ein déjà vu, wenn man den Brief der Sportdirektoren liest: Zu viele Baustellen, keine einheitliche Umsetzungsstrategie, keine klaren Zuständigkeiten und Rollenverteilung zwischen BMI und DOSB, keine Berücksichtigung der Besonderheiten von Sportarten und Verbänden, kein zahnradartiges Verknüpfen von Entscheidungen in dynamischen Prozessen. Die Liste der Kritikpunkte ist genauso lang und klingt ähnlich wie vor acht Jahren.

Keine Gesamtkonzeption

Es fehlt nach wie vor die Vernetzung der verschiedenen Bausteine wie Kader, Jahresplanung, Leistungssportpersonal, Stützpunktsystem und WVL, Bundes- wie Landesförderung zu einer konsistenten, übergreifenden Gesamtkonzeption“, kritisieren die Sportdirektoren. Und: „Statt Flexibilität, Fachspezifik und Entbürokratisierung bestimmen weiterhin Schablonendenken, Kleinteiligkeit und Bürokratie unser Handeln.“ Und das bringe sogar erfolgreiche Verbände in die Bredouille.

Was veranlasste die Direktoren gerade jetzt dazu, diesen Brief zu schreiben? Wer sich unter ihnen umhört, bekommt meist schon im zweiten Satz das Wort „Bürokratie“ zu hören. Das heißt in der Praxis: Von Seiten des DOSB werden im Bezug auf Verbandsgespräche und Kaderkriterien neue bürokratische Anforderungen gestellt. „Natürlich muss es Regeln und Belege geben, wenn es um Steuergeld geht. Aber es kann nicht so sein, dass wir zu inhaltlicher Arbeit gar nicht mehr kommen, weil wir und die MitarbeiterInnen damit beschäftigt sind, nur noch Papiere zu verfassen und Anträge auszufüllen“, sagt ein Sportdirektor. Und ein anderer: „Ich fühle mich wie eine Art menschliche Firewall, die nicht nur alles absichern muss, sondern alles für den Verband abfedert.“

Dabei sollte doch eigentlich der DOSB Dienstleister der Verbände sein.  Bedeutet beim Schlagwort Bürokratie: Etwa mit einfacher Software zentral den Formularwust zu minimieren und somit die Leute zu entlasten, die sportfachlich – zum Beispiel die hauptamtlichen Sportdirektoren – an vorderster Stelle arbeiten.

Kein Unterstützer, sondern Controller

Der DOSB aber sei weder Interessenvertreter des Sports noch dessen Unterstützer, sondern Controller. Er verkenne seine Rolle. „Eine vorrangige Aufgabe des DOSB sollte sein, die Spitzenverbände auf dem Weg in die internationale Spitze zu unterstützen. Nur so kann das globale Ziel Top 5 im Olympischen Sommersport und Top 3 im Olympischen Wintersport erreicht werden“, schreiben die Direktoren.

Zum Inhalt des Briefes möchte sich der DOSB nicht äußern. Kommende Woche will man sich mit der Sprechergruppe treffen. Aber der DOSB verweist auf die Aussage von Präsident Weikert auf der Mitgliederversammlung in Weimar: „In der Spitzensportförderung brauchen wir mehr Flexibilität. Dabei sollte sich die Förderung künftig an den praktischen Anforderungen des Spitzensports orientieren. Wir müssen schneller und beweglicher auf die sich ständig verändernden Anforderungen in der Weltspitze reagieren können. Deshalb ist auch eine Entbürokratisierung der Abläufe erforderlich. Das im Übrigen war das Ziel der ursprünglichen Leistungssportreform und wurde zumindest in Teilen nicht erreicht. Hieran macht sich die Kritik der Sportdirektoren fest“, so die Einschätzung des obersten deutschen Sportfunktionärs, die ja fast mit der Lageanalyse der Sportdirektoren deckungsgleich ist.

DOSB: Reform auf den Prüfstand

Problem zwar erkannt – und das schon länger – aber ohne Lösungsansatz. „Wir müssen die Reform evaluieren und die einzelnen Teile bezüglich ihres Umsetzungsstatus auf den Prüfstand stellen. Ein Beispiel: Beim Thema TrainerInnen haben wir gemeinsam Vorschläge auf den Tisch gelegt, sie müssen jetzt umgesetzt werden. Nach wie vor sind befristete Verträge im deutschen Leistungssport die Regel. Wir verlieren zu viele Talente aus dem TrainerInnenbereich an Arbeitgeber, die mehr Sicherheit bieten und mitunter auch mehr bezahlen können“, so der DOSB-Präsident.
Die Trainer-Verträge – auch so eine unendliche Geschichte, die mittlerweile seit fast 40 Jahren problematisiert wird und nie gelöst wurde. Warum sollte die lange Bank, auf die man dieses brisante Problem immer wieder geschoben hat, dann in den letzten Jahren kürzer geworden sein?

Diese Umsetzungsschwierigkeiten wie etwa auch das Talentsichtungs- und Nachwuchskonzept kann man sicher nicht dem BMI anlasten. Überhaupt – es geht nicht um die Schuldfrage, sondern die Steuerungsfrage: Wer lenkt den Spitzensport und dessen Förderung? Und wer kontrolliert, ob die Vorgaben auch umgesetzt werden? Fragen, die seit Beginn der Reform – wie gesagt – im deutschen Sport wie ein Menetekel an der Hallenwand immer wieder aufflackern. Und um deren Klärung man sich auf den Führungsetagen bisher drückt.

Der Brief der Sportdirektoren zeigt eins: Der deutsche Spitzensport steht heute – sechs Jahre nach der Verabschiedung der Reform – da, wo er 2012 stand- mit wenigen Neuerungen. Und tritt bestenfalls auf der Stelle. Der DOSB ist zwar zuversichtlich, „gemeinsam mit dem BMI, dem Sportausschuss des Bundestages und den Ländern die notwendigen Optimierungen für den Spitzensport in unserem Land zu erreichen“, aber wenn man dann hört, dass die Bund-Ländervereinbarung nun wieder zur Diskussion steht, die Kaderfinanzierung weiter umstritten ist, dann hat man so seine Zweifel an einem Happy End dieser unendlichen Geschichte.

Geld ist da

Am Geld liegt es sicher nicht. Das räumen auch Verbandsmenschen ein. Ihre Kritik, auch die der Direktoren, fokussiert sich auf den Verteilermodus und, wo die Mittel im Sport ankommen. Weil es keine Grundförderung, sondern eine Projektförderung gebe, sei man in seinem Handlungsspielraum nicht nur eingeschränkt, sondern „unflexibel“.

Trotz einer Verdoppelung der Spitzensportförderung in den letzten zehn Jahren durch den Bund – rund 300 Millionen Euro stehen dem Spitzensport und den Verbänden jährlich im Schnitt zur Verfügung – ist man nicht auf der Erfolgsspur. Wie auch die letzten Spiele in Tokio und Peking zeigen. Selbst, wenn man die besondere Coronalage berücksichtigt – der Abwärtstrend geht weiter.

Der Sport ist die einzige gesellschaftliche Gruppierungen in dieser Republik, die immer schlechter wird und dafür bisher immer mehr Geld bekommen hat.

Woran also liegt dieser anhaltende Abwärtstrend? An der fehlenden  Veränderungsbereitschaft noch viel zu vieler, die sich im Sport seit Jahrzehnten bequem eingerichtet haben. Und: Nach wie vor oft an verkrusteten Strukturen, am Festhalten am Status quo von manchen ehrenamtlichen Führungspersonen, die glauben, man könne Verbände im heutigen professionellen Spitzensport noch so führen wie vor 50 Jahren. Eine Reihe von Verbänden haben ihre Strukturen überarbeitet, den professionellen Herausforderungen angepasst. Oder sind weiter dabei, das zu tun, wie etwa aktuell die Turner oder Ruderer. Aber es sind eben noch nicht alle.

Rolle nicht angenommen

Das Beispiel DOSB zeigt aber, das selbst Satzungs- und Strukturveränderungen nicht garantieren, dass ein Verband dann auch professionell geführt wird und erfolgreich arbeitet, wenn die Rollenverteilung nicht angenommen wird: 2014 beschloss der Dachverband seine Satzungsänderung: Das ehrenamtliche Präsidium sollte als Aufsichtsrat fungieren und über den hauptamtlichen Vorstand wachen, der für  das operative Geschäft verantwortlich ist. Die Aufgabenteilung funktionierte nicht: Präsident Alfons Hörmann dominierte das Geschehen, der Vorstand ließ ihn unwidersprochen gewähren. Das Ergebnis sind auch die Folgen, die die Direktoren nun beklagen.

Wer sich mit ausgewiesenen Sportexperten unterhält, der hört in diesen Tagen Erstaunliches. Zum Beispiel: „Die Fusion zwischen Deutschem Sportbund und Nationalem Olympischen Komitee hat dem deutschen Sport nicht gutgetan. Es wird Zeit, dass das geändert wird.“

Oder: „Wenn der Sport ständig von seiner Autonomie spricht, da mag das ja in seiner Selbstbestimmung, Selbstverwaltung und Entscheidungsfreiheit im Rahmen der Organisationen stimmen, aber in dem Moment, wo er am finanziellen Tropf des Staates hängt, muss er auch Rechenschaft gegenüber dem Geldgeber ablegen.“

Und: „Ehrenamt und deutsche Vereine sind nach wie vor etwas Wunderbares. Ohne Vereine und das Engagement ihrer Mitglieder wäre dieses Land um vieles ärmer und teilweise ohne das Engagement auch außerhalb des Sportplatzes aufgeschmissen, was man ja jetzt gerade im Ukraine-Krieg sieht. Aber in bestimmten Bereichen ist das Ehrenamt überfordert: Und im deutschen Spitzensport stimmt das ganz sicher.“

Neue Instanz

Nimmt man diese Aussagen zusammen und hat das Bild vor sich, dass nationale und internationale Sportverantwortliche in letzter Zeit abgaben, ist es nicht verwunderlich, dass es zumindest neue Pläne der Ampelregierung gibt, Sportpolitik und Sportförderung neu zu sortieren. Etwa mit einem Sportentwicklungsplan, der noch zu erläutern wäre.  Und – nicht nur, weil man nicht weiter zusehen will, wie Steuergeld in der Spitzensportwüste effektlos verdunstet – mit einer neuen Organisationsform. Im Ampelkoalitionspapier ist „eine unabhängige Instanz zur Mittelvergabe sowie ein Transparenzportal“ für den Spitzensport angedacht. Was wohl die vielzitierte Spitzensport–GmbH sein soll, von der alle reden, aber keiner genaues über Struktur und Inhalt weiß. Die Idee ist nicht neu: Gerhard Böhm hatte die 2014 auch schon angedacht, und der ehemalige BMI-Staatssekretär Stephan Mayer im letzten Jahr – kurz vor seinem Ausscheiden – darüber laut nachgedacht. Ob und wie wichtig und ernst der Bundesregierung und der zuständigen Ministerin Nancy Faeser Sportpolitik wirklich ist,müssen sie erst noch unter Beweis stellen. 

Ein Blick nach Österreich, wo das BMI schon länger mit den dortigen Sportverantwortlichen im Austausch ist, gibt einen Vorgeschmack auf die Instanz, die vielleicht schon in diesem Jahr in Deutschland etabliert werden könnte. Seit Januar 2018 gibt es im Nachbarland die „Bundes-Sport GmbH“, die als Aufgabe „die Vergabe, Abwicklung und Kontrolle von Förderungen für Sportverbände, -organisationen und -institutionen“ hat und als Ziel „die Schaffung von leistungssteigernden Rahmenbedingungen für den Breiten-, Nachwuchs- und Spitzensport“.

Empfehlungen des Bundesrechnungshofes

Die Struktur kommt einem streckenweise sehr bekannt vor, wäre aber sicher nicht 1:1 auf den deutschen Sport übertragbar – es gibt doch einige Unterschiede. Besonders interessant ist der Bericht des österreichischen Bundesrechnungshofs, der unter anderem die Sportförderung untersuchte und Verbesserungs-Empfehlungen gab: Etwa: „Es wäre ein Sportfördersystem zu erarbeiten, das stärker auf die zu erreichenden Wirkungen fokussiert und dazu fördernde Maßnahmen auf Basis von Bedarfserhebungen und von Mindest-Qualitätsanforderungen bestimmt (Wirkungs-, Bedarfs-, Qualitätsorientierung)“. Oder: „Fördernehmern wären keine Entscheidungsfunktionen bei der Förderkonzeption und Fördervergabe einzuräumen.“ Oder: „Ein Förderungsbereich wäre grundsätzlich jeweils nur im Rahmen eines Förderprogrammes zu fördern.“ Und: „Die Bundes-Sport GmbH wäre als zentrale Abwicklungsstelle für alle Bundessportförderungen zu nutzen.“

Nach den Erfahrungen mit der Spitzensportreform sind viele  im deutschen Sport skeptisch: Ob das dann besser läuft, fragen sich nicht nur die, die Angst vor einem Schnellschuss haben. Und überhaupt: Thomas Härtel, Sprecher der Landessportbünde, spricht sicher für viele im Sport und der Politik, die sagen: „Grundsätzlich muss auch einmal eine Debatte über die gesellschaftliche Rolle des Sports und speziell des Spitzensports geführt werden. Wir fangen immer wieder neue Sachen an, ohne zu wissen, wohin wir denn wollen.“

Vor allem würde eine Überführung in eine unabhängige Spitzensport- Gesellschaft auch die Leistungssportabteilung im DOSB überflüssig machen. Was heißt das dann überhaupt für den Dachverband? Es sieht so aus, als stehe für den deutschen Sport eine Zeitenwende an. Aber die  hat das interessierte Publikum schon häufiger erwartet. Am Ende blieb nahezu alles so, wie es war.