Sportpolitik ist nun Sache der AthletInnen

DOSB nach Vorwürfen im Schweigemodus – Es gäbe viel zu tun

Berlin, 30 Mai. Aufbruchstimmung wäre angesagt im deutschen Sport, Krisenstimmung herrscht. Dabei gäbe es viel zu tun: Die Pandemie-Lage entspannt sich- wie geht es also weiter? Wie können Vereine unterstützt werden, die diejenigen wieder in Bewegung und in den Verein zurückbringen wollen,  die zwangsweise wegen des Virus zum Couch potato mutierten? Wie kann der Verband die SpitzenathletInnen bei Laune halten, die immer noch nicht wissen, ob sie nun definitiv zu den Spielen nach Tokio fahren werden oder nicht? Nur einige Themen, bei denen der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), der sich gerne als die größte Personenvereinigung der Republik mit 27 Millionen Mitgliedschaften in 90 000 Vereinen feiert, sich derzeit öffentlich positionieren müsste, will er gesellschafts- und sportpolitisch ernst genommen werden. Denn neue Ideen und schnellen Anlauf braucht nicht nur das gesamte Land, sondern auch der deutsche Sport und besonders der DOSB.

Aber die Dachorganisation ist derzeit mal wieder mit sich selbst beschäftigt. Seit der Brief von MitarbeiterInnen mit heftigen Vorwürfen gegen Präsidenten, Präsidium und Vorstand veröffentlicht wurde, mit denen sich nun die hauseigene Ethik-Kommission befassen muss, scheint der DOSB wie gelähmt, im Schweigemodus. Die Verantwortlichen in der DOSB-Burg in der Otto-Fleck-Schneise in Frankfurt haben sich abgeschottet von der Welt und lästigen Fragen. Eben Krisenmanagement à la DOSB: Schulterschluss, aussitzen und abwarten, was der Ethik-Vorsitzende Thomas de Maizière demnächst vorlegt. Vielleicht setzen einige im DOSB auf ein öffentliches Aufmerksamkeitsdefizit: Denn zwischen Fußball-EM und Olympischen Spielen wird jetzt in einer DOSB-Krise ermittelt, die eigentlich schon lange abzusehen war.

Viele Krisen

Der DOSB hat seit seinem Bestehen 2006 schon viele Krisen personeller, inhaltlicher und führungsmäßiger Art zu bestehen gehabt – auch wenn Verantwortliche von damals wie heute das nicht so sehen wollen. Die Macher, ganz vorneweg der damalige Präsident Thomas Bach und sein Generaldirektor Michael Vesper, mussten sich schon nach kurzer Zeit von Kritikern vorwerfen lassen, dass sie im DOSB vor allem das O=Olympisch im Blick gehabt haben, dass der eine (Bach) kaum in Frankfurt war, weil er seinen Aufstieg zum Olymp vorbereitete, dass der andere (Vesper) mit dem Segen des einen alles umzukrempeln versuchte: Vesper glaubte den Sport neu erfinden zu müssen.

Was beide nicht im Blick hatten, waren die verkrusteten Strukturen einer Sportlandschaft, die nicht einfach durch eine andere Schwerpunktsetzung zu knacken waren. Es wurde umgemodelt ohne Mitgliedsorganisationen und vor allem ohne die MitarbeiterInnen im eigenen Haus wirklich mitzunehmen. Das und die Vernachlässigung des Breitensports fallen der Führungscrew nun auf die Füße. Folgen einer von der Bundespolitik gepamperten, verfehlten Verbandspolitik, die nicht erst nach einem weiteren gescheiterten Versuch einer Leistungssportreform zu einer einzigen Bankrotterklärung des DOSB wurde. Und dieses Scheitern wurde auch noch mit mehr Geld denn je aus Bundes- und Landeshaushalten belohnt.

Es ist peinlich, womit sich der DOSB nun gerade beschäftigt. Es gäbe so viele Baustellen zu beackern, die übrigens schon vor der Pandemie da waren“, sagt der Philosoph, Soziologe und Sportkenner Gunter Gebauer.

Es scheint, als ob sich der DOSB gesellschaftspolitisch nun gerade völlig vom Platz kickt. Deutsche Sportpolitik? Die machen derzeit  die AthletInnen mit ihrem Verein Athleten Deutschland. Sie sind das Sprachrohr auf nationaler und internationaler Sportbühne; sie sind die mahnende und sachliche Stimme, treten für Menschenrechte ein, ob in Belarus oder im Iran, engagieren sich gegen Rassismus, Antisemitismus, drehen bei Klimafragen am Energierad. Sportintern hat es eine Handvoll MitarbeiterInnen des Athletenvereins geschafft, in kürzester Zeit Lösungsvorschläge bei Problemen anzubieten, mit denen sich die FunktionärInnen seit Jahrzehnten eher unwillig beschäftigen: Beispiel physische, psychische und sexualisierte Gewalt im Sport..

Neue Rollenverteilung

Gerade im Umgang mit den SpitzensportlerInnen wird deutlich, wie Sportverbände und ihre Führung relevante Prozesse zunächst übersehen, sie dann falsch einordnen und beurteilen. Die Interessen von SportlerInnen wahrnehmen? „Das machen wir doch schon längstens,“ betonen FunktionärInnen. AthletInnen sitzen mittlerweile mit am Tisch. Auch im DOSB-Präsidium. Dass sie da nicht so ganz pflegeleicht sind und sich nicht unbedingt bei allem einnorden lassen wie andere am Tisch, zeigte das jüngste Beispiel von Jonathan Koch, der das Persilschein-Statement des Präsidiums für Präsident Alfons Hörmann so nicht mittragen wollte und seine Unterschrift verweigerte.

Dass sich AthletInnen von vielen FunktionärInnen nicht gut vertreten und sich vor allem lange nicht ernst genommen fühlten, ist kein Geheimnis. Erst seit sie sich mit dem Verein auf eigene Füße stellten, werden sie eher respektiert. Der hat sich seit seinem Bestehen 2017 mit ausgearbeiteten, fachlich untermauerten Papieren, die man nahezu alle sofort umsetzen kann, viel Anerkennung verdient und gezeigt: Wenn man will, geht es auch.

Die neue Rollenverteilung kommt auch deshalb nicht von ungefähr, weil sich die AthletInnen in einer immer mehr von kommerziellen und mediengesteuerten Interessen als Teil des Ganzen und nicht als eine vom Steuerzahler subventionierte Insellösung sehen, der seine Rechte, aber auch Werte verteidigen und durchsetzen will. Ohne AthletInnen geht nichts, das müssen mittlerweile auch die „BerufsfunktonärInnen“ akzeptieren, die häufig sich als den Nabel der Sportwelt sehen. Insofern scheint die neue Rollenverteilung, dass AthletInnen auch ihr gesellschaftliches Umfeld mit einbeziehen in ihren Denk-und Handlungsraum, die zwangsläufige Folge klugen Nachdenkens zu sein.

Lutz Thieme, Sportökonom und Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, beurteilt die Rollenverteilung so „Die Bedeutung von Organisationen erwächst nicht aus ihrem eigenen Selbstverständnis, sondern aus den Zuschreibungen Anderer. Bleiben diese Zuschreibungen aus, weil Rollenerwartungen nicht erfüllt wurden, hilft es oft nur wenig, das eigene oft gesungene Lied nochmal anzustimmen.“

Der Breitensport, der Lebensnerv des deutschen Sports überhaupt, mit seinen Mitgliedern, seinen Ehrenamtlichen, hat, nicht erst seit das Covid-Virus sein Unwesen treibt, kreativ und engagiert angepackt, wo es nötig war. Und auch nun versuchen sie, mit Unterstützung der Landessportbünde Sport und Bewegung als gesellschaftliche Klammer nach der Pandemie einzusetzen – für alle und jede(n)– gemeinsam Spaß nach einem harten Jahr.

Hochrechnungen

Der DOSB wurde auch in der Pandemie hauptsächlich dann wahrgenommen, wenn er unterlegt von nicht belastbaren Hochrechnungen nach mehr finanzieller Förderung rief. Horrorszenarien wurden gezeichnet, über den  Untergang von Hörmanns Sportdeutschland geunkt. Warum? 

Zumindest fällt es dem DOSB erkennbar schwer, sich in gesellschaftspolitisch relevanten Debatten glaubhaft zu positionieren. Wahrscheinlich hat das auch damit zu tun, dass Themengenerierung und Themensetzung aktuell in gesellschaftlichen Milieus stattfinden, in denen der organisierte Sport wenig verhaftet ist“, sagt Sozialwissenschaftler Thieme. „Impulse aus Subkulturen der Gesellschaft müssen schon relativ breit wahrgenommen worden sein, bevor sie auf dem Radar von Verbänden des organisierten Sports erscheinen. Und sind sie dann identifiziert, dann werden sie mit den Maßstäben des organisierten Sports beurteilt“, so der Wissenschaftler weiter.

Das heißt dann in der Praxis: Klima, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit? Waren wir doch schon immer dafür. Oder Solidarität und Miteinander? Hat es doch bei uns im Verein schon immer gegeben. Genauso wie Diversity und Gesundheitsförderung. Bei uns im Verein kann doch jeder mitmachen. „Der Sport sieht sich als Lösung und nicht als Problem – und deshalb müssen wir stärker gefördert werden“, beschreibt Thieme die Einstellung. Und diese Verbandsperspektive treffe an der Basis auf Sportvereine, die so bunt sind wie unsere Gesellschaft, und die ihren Platz im Alltag der Menschen mit ganz unterschiedlichen Mitteln neu erobern müssten.

Der organisierte Sport gleicht einem Scheinriesen. Je näher man kommt, desto mehr schrumpfen die Gemeinsamkeiten. Vielleicht ist deshalb der Ruf nach höherer Förderung die letzte universal verbindende Klammer“, so Professor Thieme.

Kein Herr Tur Tur

Scheinriese DOSB. Der hat leider nichts mit Herrn Tur Tur aus Michael Endes Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ zu tun. Denn der Märchen-Scheinriese kommt empathisch, hilfsbereit und freundlich rüber – und kann gar nicht verstehen, warum die Menschen sich vor ihm fürchten.

Beim DOSB ist das anders: Nicht nur, weil da vom Präsidenten geworfene Stifte durch die Gegend fliegen sollen, wie in dem anonym verfassten Brief geschildert wird. VertreterInnen der Mitgliedsorganisationen scheuen die Auseinandersetzungen, weil sie Nachteile für ihren Verband, aber auch für sich persönlich befürchten. Kritiker, wie etwa der Triathlon-Präsident Martin Engelhardt oder der Ruderpräsident Siegfried Kaidel mussten das persönlich leidvoll erfahren, wie sie vom Präsidenten des Dachverbandes wie kleine Jungs gerüffelt wurden. Und nun haben sich in einem Offenen Brief MitarbeiterInnen über Umgangs– und Führungsstil, mangelnden Respekt der Führungsgarde beschwert.

Dennoch – die Empörung bei den Mitgliedsverbänden hält sich in Grenzen, wie so oft bei einer Reihe von Mobbingvorwürfen und Kritik am Umgangsstil in den letzten Jahren. Warum? „Viele wissen gar nicht genau, was im DOSB so vor sich geht. Und anderen ist es schlichtweg egal, was da passiert. Hauptsache, sie werden in Ruhe gelassen“, sagte vor einigen Tagen ein Verbandsvertreter in einem Telefonat frustriert.  Nichts wissen über die Beschwerden, die es seit Jahren gibt? Über die verbalen Attacken und das Zusammenfalten von MitarbeiterInnen in Sportgremien vor versammelter Mannschaft? Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen – so funktioniert eine geschlossene Gesellschaft, die keine Änderungen will.

Vorwürfe, wie sie jetzt im Raum stehen, wären in der Politik schon lange ein Grund für einen Rücktritt. Im Sport sind sie das nicht, der ja auch von PolitkerInnen immer noch bedenkenlos gedeckt, ja unterstützt, statt kontrolliert und sanktioniert wird. Die Ausrede heißt: Autonomie des Sports.

Gunter Gebauer sieht eine bedenkliche Haltungsänderung in dem Wohlverhalten der Funktionärskaste gegenüber der DOSB-Führung und den geschlossenen Reihen, die nicht einmal einen Hauch von Aufmüpfigkeit zulassen. „Der Idealismus ist dem Karrierismus zum Opfer gefallen.“ Das heißt, den meisten ist das eigene Hemd näher als die eigene Meinung zu sagen – auch noch gegen den Korpsgeist.

Themen kapern

Apropos Karrierismus: Besonders in der Pandemie hat nun die Politik plötzlich die Wichtigkeit von Kindern und Jugendlichen und Schule entdeckt. Auch der DOSB kapert  Themen, die jahrzehntelang von der Deutschen Sportjugend betreut wurden: Kinder- und Jugendsport, Schulsport. Warum, fragt man sich? Gehen der Erwachsenenorganisation die Themen aus, die im Trend liegen, mit denen man Schlagzeilen machen kann? Wie lange werden Begeisterung und Fürsorge nach der Pandemie anhalten? Die Erfahrung zeigt, dass auch gesamtgesellschaftlich diese weichen Themen schnell vom Tisch sind, wenn Mama und Papa (besonders auch aus der Politik) wieder im Büro sind, die Kinder wieder regelmäßig in Kindergarten, Schule oder bei Oma und Opa abgestellt werden können. Wer wird dann noch über die Befindlichkeit, die Bewegungslosigkeit von Kindern und Jugendlichen reden, außer denen, die das schon seit Jahrzehnten tun?

Ich werte dies als Indiz dafür, dass nach gesellschaftspolitisch wichtigen Themen gesucht wird, um die Relevanz des organisierten Sports insgesamt zu steigern. Hinzu kommt auch, dass mit gesellschaftspolitischen relevanten Themen im Portfolio natürlich auch die Bedeutungszuschreibung zur eigenen Organisation wächst“, so Thieme.

Dass der Sport irgendwie nach hinten rutscht, sieht man nicht nur daran, das er beispielsweise beim Thema Gesundheit beim zuständigen Ministerium nicht auf der Liste der Stakeholder ist, die eingeladen werden.

Aus der ersten Reihe gekickt

Der DOSB jedenfalls scheint sich aus der ersten gesellschaftlichen Reihe gekickt zu haben, nicht nur, weil er selbst falsche Signale setzt: So ist nach dem Abgang der zuständigen Vorstandes Sportentwicklung, Karin Fehres, im letzten Jahr, ihre Stelle eingestampft worden – Sportentwicklung wird von der Vorstandsvorsitzenden Veronika Rücker in Zukunft mit zwei neuen Assistenzkräften (falls die beim DOSB überhaupt noch arbeiten wollen) – übernommen werden. Da werden die Empörung über den Lockdown im Breitensport und die vorgetragenen Forderungen und Bedenken schon wieder nur zum lauten Gedöns.

Thieme sagt, der organisierte Sport zeige zwar Präsenz und äußere sich, aber: „Das wird nicht mehr als so relevant beurteilt wie dies vielleicht früher in einem gesellschaftspolitischen Raum der Fall war, in dem weniger Akteure mit klaren Positionen und Aufgaben vorhanden waren.“

Nicht nur aus diesem Grund ist der DOSB derzeit wohl kaum in der Lage, eine große sportpolitische Linie zu formulieren. Die Themen sind nahezu alle besetzt – besser besetzt, als der Sport es könnte.

Weg von der Simulation von Beteiligung

Leistung, Leistungsgerechtigkeit, Leistungsvermögen käme für mich als Themenbereich für den Sport noch am ehesten in Frage. Hier ist der Kernbereich des organisierten Sports berührt und es sind viele Querbezüge zu anderen gesellschaftlich relevanten Akteuren“, sagt Thieme. Gebauer spricht von einem „Neuanfang“ von der Basis nach oben und „Interaktion“ sportintern, aber auch bei externen gesellschaftspolitischen Themen, zu denen der Sport etwas beitragen könnte.

Aber dazu ist der DOSB momentan nicht in der Lage. Mit dem derzeitigen Personal und den internen Querelen ist kein glaubwürdiger Neuanfang, geschweige denn eine Aufbruchsstimmung zu vermitteln.

Wie kann man Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückgewinnen? Beide Professoren sind sich einig, dass sich an der Organisationskultur etwas ändern muss. Thieme formuliert es so: „Weg von einem hierarchischen Verständnis, von der Simulation von Beteiligung, von der Inszenierung von Modernität und von der Erzählung von der Einheit des Sports. Hin zu einer Netzwerkorganisation, die unterschiedliche Entwicklungen ermöglicht und unterstützt, in der Arbeitsfelder aufgegeben, abgegeben und neu entwickelt werden. In der besondere Ideen und Ansätze willkommen sind, in der Outcome-orientiert geführt und gehandelt und ein kritischer Dialog mit der Öffentlichkeit gesucht wird.“

Davon ist der DOSB momentan allerdings Lichtjahre entfernt.