„Ich bin da zufällig reingeraten“

Rockstar der Sportmedizin: „Trimm dich“-Vater Wildor Hollmann ist tot

Berlin, 15. Mai. Der Pionier der Sportmedizin, weltbekannte Kardiologe und Forscher Wildor Hollmann ist tot. Das teilte die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP), deren Ehrenpräsident er war, mit. Der Mediziner starb an den Folgen einer Corona-Infektion im Alter von 96 Jahren.

Wer Wildor Hollman je bei einem Vortrag oder einer Vorlesung erlebt hat, kann nachvollziehen, warum ihn seine StudentInnen liebten. Sie feierten ihn als „Godfather der Sportmedizin“. Und für die jüngste Generation der Studierenden, die seine Urenkel sein könnten, war der (dienst)älteste Professor der Deutschen Sporthochschule(DSHS) in Köln ein „Rockstar“.

Nur die Form ändert sich

Der hochbetagte Professor im überfüllten Seminarsaal, vor dem sich die Studierenden vor offener Tür drängelten, strotzte bis zuletzt vor Energie. Wie schaffte er das Pensum, das offiziell morgens um 9 Uhr begann und weit nach Mitternacht endete? „Energie geht nie verloren. Nur die Form verändert sich, nicht die Intensität“, erklärte er seine Frische und Fitness. Hollmanns Vorlesungen waren eigentlich keine Vorlesungen. Und die Themen waren auch nicht immer sportmedizinischen Inhalts. Hollmann war ein Erzähler, kein Dozent. Charmant, locker und fesselnd sprach er auch über „Allgemeines akademisches Grundwissen“ Aus dem Stegreif, ohne Manuskript erklärte er komplizierteste Zusammenhänge verständlich. „Was nützt es,wenn mein Gegenüber mit dem, was ich erzähle, nichts anfangen kann?“, antwortete er einem Kollegen, der sich wunderte, dass man als Wissenschaftler auch ohne allzu viel fachliches Kauderwelsch auskommen kann. Deshalb sein Bemühen, allgemeines Wissen klar und verständlich an die Adressaten zu bringen. „Meine Studenten sollen nicht Fachidioten, sondern Menschen werden.“

Aus dem Sauerland

Der 1925 in Menden als Wilhelm Theodor Hollmann gebürtige Sauerländer wollte wie sein Großvater Arzt werden. Er studierte, nach dem Wehrdienst in den letzten Kriegsjahren und anschließender Kriegsgefangenschaft, in England und in Köln Medizin. Nach seinem Staatsexamen arbeitete er bis 1965 als Arzt an der Uniklinik in Köln, führte da aber schon „experimentelle Untersuchungen zur Erarbeitung von Normalwerten der maximalen Leistungsfähigkeit von Herz, Kreislauf, Atmung und Stoffwechsel bei einer im Stehen verrichteten ergometrischen Drehkurbelarbeit“ durch.

Ich bin eher zufällig hineingeraten“ sagte er in einem Interview zu seinem 95. Geburtstag. Wer Hollmanns Vita liest, weiß, was er mit dem Satz: „Ein Porträt über mich zu schreiben ist eine undankbare Aufgabe“, gemeint hat: Ein Leben geprägt von Forschung und Lehre, über 800 Publikationen, über 1000 betreute Diplomarbeiten, Auszeichnungen en masse, Ehrendoktorwürden internationaler Universitäten, Ämter – man verliert den Überblick. Mehr kann man als Wissenschaftler wohl nicht erreichen.

Nach der Gründung des Institutes für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der Deutschen Sporthochschule erhielt er dort einen Lehrstuhl für Kardiologie und Sportmedizin. Als Prorektor, Dekan und Rektor des medizinisch -naturwissenschaftlichen Fachbereichs der DSHS verhalf Hollmann der Institution mit seiner Forschungs– und Leitungsarbeit zu internationalem Renommee.

Pionierarbeit

Seine Forschungsergebnisse gelten heute noch als Meilensteine in der Sportmedizin. Sein Nachfolger als DGSP- Präsident und Olympiaarzt, Bernd Wolfarth, würdigt Hollmann so: „Die bereits 1958 von Prof. Hollmann verfasste Definition von Sportmedizin ist noch heute gültig und wird seitdem in ihrer englischen Fassung vom Weltverband der Sportmediziner*innen (FIMS) geführt. Seine sportmedizinische Pionierarbeit hat Generationen von Wissenschaftler*innen und Mediziner*innen geprägt, und seine Forschungserkenntnisse gelten noch heute als Meilensteine in vielen Bereichen der Sportmedizin.“

Hollmanns Erkenntnisse, dass jede körperliche Bewegung Auswirkungen auf jedes biologische System, auch auf das Gehirn, hat, dass Training entscheidenen Einfluss bei Prävention, Therapie und Rehabilitation hat, genauso wie bei Gesunderhaltung und Leistungssteigerung bis zum Seniorenalter, hören sich heute nicht sensationell an. Damals reagierten jedoch viele Kollegen zunächst sehr zurückhaltend. Bewegung statt Pillen? Bewegung auf Rezept? Das war dann schon ein ungewöhnlicher, ja für manchen revolutionärer Ansatz, Herz-Kreislauferkrankungen in den Griff zu bekommen oder gar zu heilen.

Pionier war Hollmann auch, als er 1959 das Fahrradergometer einführte, das heute in nahezu jeder Arztpraxis steht. Er beschäftigte sich als erster mit der Blutdruckmessung bei körperlicher Arbeit und mit dem Training unter Sauerstoffmangelbedingungen. Auch die Infarkt-Therapie revolutionierte er: Die bis dahin gemeinhin verordnete Bettruhe war durch Hollmanns Forschung überholt. Bewegung war angesagt.

Laufen ohne zu schnaufen

Viele Deutsche in Ost und West kannten Wildor Hollmann als einen der Väter der Trimm-Aktion in Deutschland. Zusammen mit Jürgen Palm, dem „Breitensportpapst“ des Deutschen Sportbundes, brachte er die verspeckten Wirtschaftswunder-Deutschen und Bewegungsmuffel auf Trab, nicht zuletzt und vor allem, weil Gefäß- und Kreislauf-Erkrankungen unter den Bundesbürgern anstiegen.

Trimm Dich 130“, „Laufen ohne zu Schnaufen“, waren Slogans, die den Deutschen Beine machten. Später brachten Jane Fonda und Sidney Rome die Republik mit bonbonrosa Turnanzügen und animierender Musik ins Schwitzen. Und Wildor Hollmann mittendrin.

Kummer mit Torte

Hollman redete nicht nur über Bewegung, er ging mit gutem Beispiel vorn. Das hatte seinen Grund, wie er kummervoll und mit Humor erzählte: „Schon,wenn ich durch die Glasscheibe in einer Konditorei ein Stück Schwarzwälder sehe, nehme ich ein Pfund zu.“ Seine gefundene Formel, dass man durch sportliche Aktivitäten den Altersprozess aufhalten kann, man 20 Jahre lang quasi 40 Jahre alt bleiben könne, testete er an sich selbst – erfolgreich. Trotz einer 80-Stunden-Woche begann er im Alter von 40 mit täglichem Training. Fünf Stunden spielte Hollmann seither wöchentlich bis ins hohe Alter Tennis, machte Gymnastik und Ergometertraining.

Über 20 Jahre war der Kölner auch internistischer Arzt der Fußball Nationalmannschaft, betreute die Golfer und Hockeyteams. Und auch als Berater für Olympiateams war er gefragt. 1968 bei den Spielen in Mexiko-Stadt herrschte große Aufregung, weil alle Welt über die Risiken eines Sportwettkampfes auf 2310 m Meereshöhe diskutierte. „Der Tod läuft mit“, war eine Schlagzeile. Hollmann blieb gelassen: Er wusste durch seine Forschungen, dass außer einer Leistungsminderung für die AthletInnen keine Gefahr bestand.

Das Nicht in den Griff bekommen

Wildor Hollmann begeisterte sich auch für den Spitzensport, sah aber sowohl die kommerziellen Auswüchse wie unnatürliche Rekordentwicklungen voraus. „Der Spitzensport hat eine Zukunft. Ich sehe nach wie vor keinen Grund, warum man Talente in Wissenschaft und Kunst anders betrachten sollte als Talente im Spitzensport. Den Irrglauben, dass man das Dopingproblem in den Griff bekommen könnte, hatte ich nie. Ab den 60-er Jahren war mir klar, dass Anabolika Leistungssteigerung bringen“, sagte er im Jahr 2000 in einem taz-Interview. Aus Sport, Wissenschaft und Medien gab es heftige Kritik an dem Kölner, dass er in der Doping-Problematik keine klare Postion beziehe. Der Spiegel warf ihm eine „inkonsequente Haltung“ vor. Hollmann bestritt vehement an seinem Institut selbst in den 1970er und 1980er Jahren Dopingforschung betrieben zu haben. Dagegen räumte er ein, im Bereich der Re-Transfusion von Eigenblut geforscht zu haben. 

 

Es sei ihm schnell bewusst gewesen, dass vor allem Radrennfahrer besser Bescheid wussten „als ein Arzt und Chemiker“. Und sicher konnte ihm dazu sein Kollege am benachbarten Institut für Biochemie, Manfred Donike, noch mehr dazu erzählen.Zu Epo, zu Genmanipulationen...

2008 erschien die „Geschichte der deutschen Sportmedizin“, die Hollmann zusammen mit Kurt Tittel herausbrachte. Tittel war das Pedant zu Hollmann in der DDR. Ihre Zusammenarbeit gilt als beispielhaft für die Aufrechterhaltung der Ost-West -Beziehung in brisanten Zeiten. Nicht nur deshalb wehrte sich Hollmann nach der Wende gegen die generelle Verteufelung der DDR-Sportmedizin, was ihm viel Kritik einbrachte. Ihm wurde unterstellt, er wolle mithelfen, „die medizinischen Vergehen im Sport der ehemaligen DDR zu verdrängen und möglicher strafrechtlicher Verfolgung zu entziehen“ schrieb am 30.1 1995 die FAZ

Da, wenn er gebraucht wurde

Hollmann ist der meist dekorierte deutsche Sportmediziner, und ihm wurden nicht nur Ehrungen, sondern auch Ämter angetragen. Er war Präsident des Deutschen Sportärztebundes und des Weltverbandes für Sportmedizin, Präsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) und und und..

Die Familie, seine Frau Ingeborg, die vor neun Jahren verstarb, und seine beiden Kinder mussten da manches Mal zurückstecken. Aber er war da, wenn er gebraucht wurde. 

Der Mediziner war nie Mitglied einer Partei, aber die damalige räumliche Nähe der Bundeshauptstadt Bonn brachte zwangsläufig Nähe zur Politik. Mancher herzinfarktgefährdete Minister oder Abgeordnete begab sich vertrauensvoll in seine Hände. Und die CDU wählte den Mediziner sogar in den Sportausschuss. Aus dieser Zeit verband ihn mit dem heutigen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble eine lange Freundschaft. Als 1990 ein psychisch Kranker den damaligen Bundesinnenminister lebensgefährlich verletzte, saß er mit einem weinenden Bundeskanzler Helmut Kohl, wie sich Hollmann erinnerte, am Krankenbett. „Ich musste mich schon früh mit dem Sterben auseinandersetzen. Der Tod macht mir keine Angst. Mein Lebenswerk ist beendet, wenn ich jetzt gleich umfalle, wäre das ja völlig normal“, sagte er vor einem Jahr zu seinem 95. Geburtstag.

Nun haben die Folgen des Covid-19-Virus sein Leben beendet. An der DSHS kann man Wildor Hollmann dennoch weiter begegnen. In einer Dauerausstellung, wo er virtuell die Besucher durch sein bewegtes Leben führt.