Der Ruhm verschönert den Helden

Das klappt nicht immer, wie die Diskussion um die Hall of Fame des deutschen Sports und potentielle neue Mitglieder zeigt

Berlin, 23. April – Seit Tagen wird heftig darüber diskutiert, ob der DDR-Radsportheld Täve Schur einen Platz in der fiktiven „Hall of Fame“ des Sports finden sollte. Die Stiftung Deutsche Sporthilfe nahm ihn zum zweiten Mal in die Vorschlagsliste auf, nachdem er vor fünf Jahren gescheitert war. Die Debatte, die nun die Wahl auslöste, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie scheinheilig, unsensibel, ignorant der deutsche Sport mit seiner eigenen Geschichte umgeht. Und das noch Jahrzehnte verspätet.

Gustaf-Adolf, genannt „Täve“ Schur? Für gelernte Westdeutsche ohne Sportbezug war er lange eine unbekannte Größe, die erst zum Begriff wurde, als er für die PDS in den Bundestag einzog, und dort durch die DDR verklärende Aussagen auffiel. In der DDR war er der Held auf dem Fahrrad, der Friedensfahrer des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates und Idol vieler gelernter Ostdeutscher, die auch heute noch in den neuen Bundesländern am Denkmal des mittlerweile 86-jährigen nicht kratzen (lassen) wollen. Sie verübeln ihm auch heute nicht, dass er ein leidenschaftlicher Propagandist des DDR-Regimes war und immer noch ist. Ein Mann, der noch immer Unrecht verteidigt, das viele seiner MitbürgerInnen – besonders auch im Sport – ertragen mussten.

Idol bleibt Idol

Von ihrem Idol „Täve“ wollen sie, trotz seiner regimefreundlichen Haltung und Schönrederei nicht lassen. Idol bleibt Idol. Schließlich gehören Schur und seine Erfolgs-Radtreterei wie zum Beispiel auch der Kicker Jürgen Sparwasser, der bei der Fußball-WM in der damaligen Bundesrepublik  Deutschland mit seinem Treffer die westdeutschen Brüder beschämte und in die Knie zwang, zu ihren schönsten Jugenderinnerungen. Es waren Momente, die die Überlegenheit des Sozialismus dank sportlicher, wenn auch in den meisten Fällen manipulierter, Hochleistungen Wirklichkeit werden ließen. So wie es Partei und Regime ja predigten. Andreas Silbersack, Präsident des Landessportbundes Sachsen-Anhalt und Sprecher der Landessportbünde, hatte Schur für die Hall vorgeschlagen – und begründet den Vorschlag in einem Interview im „Tagesspiegel“ mit seiner eigenen „Geschichte“ . Er sagt: “Täve  Schur hat schon meine Großeltern und Eltern in der DDR begeistert. Er ist auch Ehrenpräsident unseres Landessportbundes Sachsen-Anhalt. Aber der eigentliche Grund ist, dass seine sportliche Lebensleistung über Generationen geprägt hat.“ Ja, das erinnert an unsere Helden von Bern, an Maxe Schmeling. Omas und Opas, aber auch Papas und Mamas Helden, von denen Opa gerne erzählte – lieber als vom Krieg. Helden will sich keiner nehmen lassen. Warum sollten die Ostdeutschen da anders sein?

Silbersack sagt, er erwarte eine differenzierte Betrachtung von Schur, denn: „Zu seiner Zeit hat Doping noch keine Rolle gespielt. Sein Festhalten an der Überlegenheit des DDR-Sports kann man ihm vorwerfen. Ich selber bin zu DDR-Zeiten in den Westen geflüchtet und teile seinen Blick auf die DDR nicht. Aber er lebt bis zum heutigen Tag, und er ist jetzt 86, sportliche Ideale vor. Er begeistert. Er motiviert. Er ist authentisch. Er ist ein Vorbild.”

Während Silbersack dieses Interview gibt, führt auch das “Neue Deutschland” mit  Täve Schur ein Gespräch zu der Diskussion um ihn.

Ewiggestriger

Dass er ein Ewiggestriger ist, Fakten und Kritik an der DDR nicht akzeptieren möchte, wird in Sätzen wie diesen deutlich „ Der DDR-Sport war nicht kriminell, sondern vorzüglich aufgebaut. Der Aufbau der Gesundheit der Bevölkerung aus den Kindergärten heraus über den Schulsport bis hin zu den Leistungssporteinrichtungen war einmalig“, so Schur. Es sei „völliger Quatsch“, den DDR-Sport als kriminell zu bezeichnen.

Ein Satz, der nicht nur bei Dopingopfern des DDR-Regimes, die noch heute an den Folgeschäden des „gesundheitsorientierten DDR-Sports“ leiden, heftigen Widerspruch hervorruft. Diese Art ignoranten Zynismus ist schwer erträglich. Einsicht, Bedauern? Nein. Er antwortet auf den Vorwurf der Dopingopferhilfe, „eine zentrale Propagandafigur des kriminellen DDR Sports“ zu sein: „Das ist doch eine gezielte Provokation, muss ich sagen. Es steht für mich derzeit eher die große Frage, was wir denn noch vom Westdoping in Erfahrung bringen lassen. Was auf der Ostseite passiert ist, wissen wir. Was im Westen passiert ist, erfahren wir erst so langsam, jüngst durch die Doktorarbeit eines Apothekers“.Schur ist der Meinung, dass die „deutsche Dopingvergangenheit insgesamt aufgeklärt werden muss, in Ost und West“. Aber ihm seien derlei Diskussionen mittlerweile zu anstrengend.

Lasche Replik

Sportpolitische und sporthistorische Auseinandersetzungen sind nicht nur ihm zu anstrengend. Es hat schon so etwas wie Tradition im deutschen – auch im doppelten deutschen – Sport, Probleme eher auszusitzen als zu klären. Und so hört sich die Replik des Sporthilfe-Vorsitzenden Michael Ilgner zu dem Schur-Interview lasch und banal an. „Zu den Werten ´Leistung, Fairplay, Miteinander´ der Deutschen Sporthilfe gehört das Streben, Brücken zu bauen, dabei aber auch notwendige Kontroversen auszuhalten. Die jüngsten Aussagen von Täve Schur passen jedoch nicht zu unserem Werte-Leitbild.“

Man muss nun nicht nur die Sporthilfe fragen, ob diejenigen, die diese „Hall of Fame“ von Beginn an kritisiert haben, nicht Recht behalten haben: Um es platt zu sagen: Die „Hall of Fame“ kann ganz schnell zu einer „Hall of Shame“ mutieren, wenn man nicht genau hinschaut. Und unanfechtbare, unumstößliche Kriterien schafft.

Ruhmeshallen. In mancher realen Halle überkommt den Besucher ein kalter Schauer, angesichts von Geschichtsklitterung.Vor lauter Patriotismus und Nationalismus werden gerne unrühmliche Taten von Staatslenkern, gekrönten Häuptern, Generälen, aber auch Hollywood-Größen oder Sport-Assen hinter den Sockel gekehrt. Oft geben die Erinnerungs-Tafeln unreflektiert einen Auszug aus dem Leben des Verklärten wieder.

Die Sporthilfe sagt, dass ihre virtuelle Ruhmeshalle „Brüche und Kontroversen darstellen“ soll. Und somit auch deutsche Sportgeschichte abbilden soll. Aber ist das so? Reicht es ,wenn man mit drei Sätzen eine politische Haltung erklären will? Muss das nicht Widerspruch erzeugen, zumal oft für viele die zeitlichen und politischen Zusammenhänge nicht klar sind? Wo entsteht eine Kontroverse, wenn das Gute am Ende überwiegt und doch alles auf eine Art Heldenverehrung hinausläuft, wenn man die Leistung, den Sieg, das Vorbild in den Vordergrund stellt?

Lange wurden Samthandschuhe im deutschen Sport getragen, wenn es bei der Spurensuche in der Vergangenheit um die Rolle verdienstvoller Sportfunktionäre oder sehr aktiver Verbände etwa im Nationalsozialismus ging. So gerieten sich Historiker wegen Carl Diem in die Haare – nicht der Sport. Der hatte mit einem wissenschaftlichen Auftrag elegant die Problematik ausgelagert, wie man mit dem wohl wichtigsten „Vordenker“ im bundesdeutschen Sport und seiner Vergangenheit umgehen sollte. Diem stand in Diensten der Nazis und arrangierte sich mit ihnen. Die Einlassungen Willi Daumes oder Josef Neckermanns mit Hitler-Deutschland wurden nur zögerlich und in einer Art Salamitaktik thematisiert. Verbände wie der Deutsche Fußballbund stellten sich erst ihrer Vergangenheit, als es unumgänglich wurde. Dann durfte auch ein Historiker in die Archive.

Aufklärung blieb stecken

Die Aufklärung der Dopinggeschichte der Westdeutschen blieb eigentlich immer im Ansatz stecken, trotz öffentlicher Bekenntnisse von Aktiven schon in den 70er Jahren, trotz heftiger Diskussionen in Fernsehen und Presse, trotz wissenschaftlicher Arbeiten und Kommissionen. Und vor allem trotz nicht zu übersehender Fakten: Während die Westdeutschen sich über die tiefen Stimmen der ostdeutschen Schwimmerinnen lustig machten, waren die ebenfalls männlichen Stimmen und wachsenden Muskelumfänge bei westdeutschen Athletinnen kein Thema. Und auch heute zeigen vor allem Wissenschaftler und Journalisten zwar Aufklärungswillen. Aber, wie die Freiburger Kommission zeigt, stehen sich manchmal auch  Aufklärer selbst im Weg.

Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), neben dem Verband Deutscher Sportjournalisten und der Sporthilfe Träger der „Hall of Fame“, sieht in derselben „eine besondere Herausforderung und muss auch Widersprüchlichkeiten wie gesellschaftliche Brüche aushalten.“ Und: „Dadurch trägt sie zur Diskussion über kritische Themen im Sport bei.“

Diskussion über kritische Themen und der DOSB: Das ist nach Erfahrungen der letzten zehn Jahre schon ein Widerspruch in sich. Der Deutsche Sportbund (DSB) hat zumindest ansatzweise mit seinen Stasi- und Dopingkommissionen versucht, sich heiklen Themen zu stellen. Doch vereinigter Erfolg und Medaillenglanz ließ den Aufklärungseifer vieler auch damals schnell ermüden. Deutschland einig Vaterland sollte die Medaillen sammeln – dank der DDR-Vorarbeit, von der man dann auch nicht mehr alles so genau wissen wollte. Ebensowenig wie von manchen Trainern oder Ärzten, die sowohl im Osten wie im Westen ihr Spritzen- und Pillen-Unwesen weitertrieben.

Man wird das Gefühl nicht los, dass man sich da mit der „Hall“ ein virtuelles, vermeintlich pflegeleichtes und stylisches Alibipflänzchen geschaffen hat, um sich nicht in der Realität mit den Problemen des Sports auseinandersetzen zu müssen, die mehr und mehr werden, je näher man der Gegenwart und deren Protagonisten kommt. Und wenig mit rühmlichen Helden, sondern mit ertappten Betrügern zu tun hat.

Das können wir schon lange

Der deutsche Sport hat es jahrzehntelang versäumt und gescheut, sich wirklich mit der Geschichte der einfachen und dann doppelten Deutschen auseinanderzusetzen. Was nicht nur das Beispiel Täve Schur zeigt. Sportler und Sport ließen sich vereinnahmen und wurden vereinnahmt, ob 1936 von den Nationalsozialisten, oder im Kalten Krieg – mittendrin die geteilten Deutschen, die im Osten vor allem für das Image des Regimes sorgen sollten und die im Westen den Brüdern und Schwestern im Osten schon zeigen würden, wo der kapitalistische Hammer hängt. Es galt die Parole, die Helmut Meyer, einst Vorsitzender des Bundesausschusses Leistungssport (BAL) und später Leichtahletikpräsident, immer gerne zum besten gab: „Was die da drüben können, können wir schon lange.“ Womit er alles und nichts sagte. Sport und Sportler – unter dem patriotischen Mäntelchen wurden sie für viele Zwecke instrumentalisiert. Funktionäre und sportliches Umfeld machten hüben wie drüben mit.

Die „Hall of Fame,“ so der Gedanke der Macher, soll Erinnerung und Aufklärung erreichen, indem sie „sportliche Erfolge stets im Kontext ihrer jeweiligen Zeit darstellt und etwaige Verfehlungen benennt, um Diskussionen anzuregen“. Aber damit ist das virtuelle Angebot überfordert, weil es eher auf Wirkung denn auf inhaltliche Diskussion ausgerichtet ist.

Viele integre SportlerInnen

Die Maßstäbe im Höchstleistungssport sind Rekorde, Image, Prestige. Dazu kommen Vermarktung und Geld. Deshalb zählt heute mehr denn je: HeldInnen auf Zeit zu schaffen. Es geht um die harte Währung Sieg. Und die produziert Helden wie Lance Armstrong. Oder Jan Ullrich. Oder… Es geht um Stärke, Durchsetzungskraft von leistungsfähigen Robotern, die nie Schwäche zeigen. Sondern lieber betrügen. Es geht selten um Menschen, mit Stärken und Schwächen.

Um nicht missverstanden zu werden: In der Hall of Fame sind viele tadellose SportlerInnen zu finden, die durch ihre gesamte Vita überzeugen, Haltung zeigten – und menschlich integer sind/waren. Ehrliche, geradlinige Sportsmänner- und frauen mit kleinen Schwächen, für die Fair play immer das Wichtigste im Alltag und in ihrer sportlichen Karriere waren. Henner Misersky, als Ski-Langlauftrainer in der DDR entlassen, weil er sich weigerte, seinen AthletInnen Dopingmittel zu verabreichen, ist wegen seiner Haltung in die Ruhmeshalle aufgenommen worden, sich gegen das System zu stellen. Nun hat er Probleme mit manchen, die dazukommen sollen. Die Vorschläge Täve Schur und Leichtathletin Heike Drechsler sind für ihn ein „Schlag ins Gesicht der Dopingopfer und Systemgeschädigten“. Drechsler war zu DDR-Zeiten gedopt. Das ist aktenkundig. Diejenigen, die das veröffentlichten, bezichtigte die Athletin der Lüge und zog vor Gericht. Den Prozess verlor sie. Außerdem wurde die in Ost und später auch West gefeierte Drechsler als Stasi-Mitarbeiterin geführt, was sie auch bestritt. Dass Misersky diese Gesellschaft, die ihn nun umgibt, als unzumutbar empfindet, ist aus seiner Sicht verständlich.

Blauäugig, blind, naiv?

Man habe, so die Sporthilfe, die Vorschläge aber mit größter Sorgfalt und auf Unbedenklichkeit überprüft. Nach welchen Kriterien?, möchte man fragen. Und wie sensibel gehen die Macher nicht nur mit ihrer Verantwortung, sondern auch mit Geschichte um? Blauäugig? Blind? Naiv? Oder baut man auf die Vergesslichkeit der Öffentlichkeit – eine bewährte Methode nicht nur im deutschen Sport?

93 Mitglieder sitzen diesmal in der Jury, die entscheidet, wer einen Ruhmes-Platz einnehmen soll. 2011 wählten 29 Vertreter aus der Sporthilfe und dem Sport sowie Politiker und Wirtschaftsleute. Ein Jahr später wurde das Verfahren geändert. Alle noch lebenden Mitglieder der Ruhmeshalle dürfen mitstimmen – wegen ihrer „sportfachlichen Kompetenz“.

Doch die allein reicht bei so einem sensiblen Auftrag sicher nicht. Es geht auch um eine historische und politische Einschätzung der KandidatInnen, wenn man seine eigenen Vorgaben ernst nimmt. Wer in der Jury wird das ernst nehmen, und nicht nur als oberflächliche/r „HeldenverehrerIn“ abstimmen?

Im Jubiläumsjahr – die Sporthilfe wird 50 – sollten sich die Verantwortlichen fragen, ob diese „Hall of Fame“tatsächlich deutsche Sportpolitik und Sportgeschichte abbildet. Und ob sie den Menschen, um die es da, geht wirklich gerecht wird. Der französische Philosoph Luc de Clapiers de Vauvenargues sagte. „Der Ruhm verschönert den Helden.“ Das mag sein. Er schützt ihn aber nicht davor, vom Sockel geholt zu werden, wenn er über seine dunkle Seite stolpert und diese ihn zu Fall bringen. In Zeiten wie diesen, wo die Seismographen im internationalen Sport nahezu täglich neue Beben vermelden, wird es immer schwieriger, ein echter und kein gemachter Held zu sein. „Größe ist nicht Anerkennung zu erhalten, sondern sie zu verdienen“, sagte schon Aristoteles.