Kommentar: Jetzt fällt allen alles auf die Füße

Der lasche Umgang mit der Doping-Problematik sorgt für Turbulenzen in der olympischen Familie – besonders am Beckenrand

Berlin, 10. August. Soweit sind wir also nun gekommen: Die Jugend der Welt soll sich im fairen Wettkampf und Freundschaft bei friedensstiftenden Olympischen Spielen messen, Brücken schlagen für ein besseres Verständnis und Miteinander. So verkünden es jedenfalls die Funktionäre pathetisch immer wieder. Und jetzt?

Herzlichen Dank auch an das Internationale Olympische Komitee (IOC) und seinen Präsidenten Thomas Bach, die mit ihrer Entscheidung, eben nicht die gesamte russische Mannschaft nach dem nachgewiesenen Staatsdoping von den Spielen in Rio auszuschließen, für die Szenen am olympischen Schwimmbecken verantwortlich sind. AthletInnen begegnen sich nun nur noch mit Misstrauen, bekämpfen sich mit deftigen Verbalattacken. So muss sich der Chinese Sun Yang wegen seiner Doping-Vergangenheit vom französischen Schwimmkollegen Camille Lacourt sagen lassen: „Sun Yang pinkelt lila. Wenn ich das Podium über 200 m Freistil sehe, will ich mich übergeben.“ Paul Biedermann, der hinter Lacourt in diesem Rennen Sechster wurde, reagierte auf den mit dem Herzmittel Trimetazidin erwischten Sun. „Es ist nicht der Athlet, der daran schuld ist, sondern das System.“ Hat sich Bach das so vorgestellt, als er sagte, dass der Athlet im Mittelpunkt stehen soll?

Nichts verstanden

Nicht nur das IOC, sondern auch die internationalen und nationalen Fachverbände erleben nun, welche Folgen der lasche und unaufrichtige Umgang mit der Dopingproblematik und deren Bekämpfung hat: Die Versäumnisse der Vergangenheit fallen nun allen und jedem, besonders auch den Verantwortlichen im Internationalen Schwimmverband FINA, auf die Füße. FINA-Präsident Julio C. Maglione machte in einem Fernseh-Interview am Mittwoch den Eindruck, dass er immer noch nicht begriffen hat, in welcher Verantwortung er und seine KollegInnen stehen. Da kann sich Lord Coe glücklich schätzen, dass er notgedrungen alle Leichtathleten ausschließen musste! Was für ein olympisches Fiasko wäre das erst geworden, wären diese am Start! Und womöglich ganz oben auf dem Siegertreppchen gelandet.

Silber und Pfiffe

Die russische Schwimmerin Julija Jefimowa, die zweimal in letzter Zeit als Dopingsünderin ertappt wurde, hat sich ihr Startrecht vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS erstritten. Dass sie nicht mit offenen Armen empfangen werden würde, das hatte sie ahnen müssen. Dass es so bitter kam, ahnte sie sicher nicht. Pfiffe nach dem Anschlag als Zweite. Freude über die Silbermedaille kam nur bei den russischen Medien auf, die sie nun in der Heimat als Heldin feiern. Von einen neuen kalten Krieg, dem neu aufgelegten Ost-/Westduell ist die Rede, was es „hoffentlich nicht gibt“, wie Schwimm-Bundestrainer Henning Lambertz sagt. Der sich auch im Klaren darüber ist, dass sich Doping insgesamt, und auch besonders im Schwimmen, nicht nur auf Chinesen oder Russen, reduzieren lässt. „Es gibt Fragezeichen“, sagte er nach den ersten beiden Wettkampftagen, an denen im Olympic Aquatics Stadium gleich sechs Weltrekorde geschwommen wurden.

Athlet gegen Athlet

Dass das Publikum Dopingsünder auspfeift, ist so neu nicht. Die Verbände zeigten sich ja mit Rückkehrern nach dem Sündenfall immer sehr großzügig – vor allem, wenn sie Stars waren und deshalb gut fürs Geschäft. Und dass gefallene Sportler gerne und mit Erfolg auf die Karte des Vergessens nach ihrer Rückkehr auf Tartanbahn oder Schwimmbecken setzen konnten, ist auch nicht neu. Neu ist, dass AthletInnen sich nun in einer Art konzertierter Aktion gegen die Betrüger stellen – und sich öffentlich, teilweise ziemlich drastisch – äußern. Und neu ist: Dass sie sich trauen, gegen Funktionäre aufzubegehren, wenn das auch diesmal nicht so mutig ist, weil fast alle gegen das IOC wettern.

Apropos wettern: Es wirkt schon sehr surreal, wenn sich die mehrfache DDR-Schwimm-Olympiasiegerin von Seoul 1988 Kristin Otto für das ZDF nun als Reporterin am Beckenrand über Doping im Schwimmen echauffiert. Wie sensibel sind die öffentlich-rechtlichen Fernsehmacher da? Oder was denkt sich Heike Drechsler, ebenfalls mehrfache Leichtathletik-Olympiasiegerin der DDR, die im Spiegel” vom  IOC “aufräumen” fordert. Beide waren aktiv in einem Land, in dem es auch flächendeckendes staatlich gesteuertes Doping gab, das sie aber nicht betroffen haben soll. Sie sollten mal bei der Dopingopferhilfe und Werner Franke nachfragen…

Atemberaubend

Doppelte Moral ist ein weiteres Dilemma im Sport und bei diesen Spielen: Wenn plötzlich die TV-Weltrekordlinie mit der atemberaubenden Schnelligkeit der Ungarin Katinka Hosszu nicht mehr mithalten kann. Wenn der Brite Adam Peaty gleich zweimal die Bestmarke innerhalb weniger Stunden aufstellt oder die US-Amerikanerin Katie Ledecky ihren eigenen Weltrekord über 400 m Freistil um fast zwei Sekunden verbessert, kommt einem der Satz: „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“, in den Sinn.

Nein, man will an das Gute im Menschen glauben und zu gerne an ehrliche Leistungen im Spitzensport – aber so schnell mit 27, Frau Hosszu? Erklärungen gibt es viele – Franziska van Almsick, ehemals Schwimm-As, gibt sie als ARD-Expertin gerne, wenn es (ihr) ins Bild passt: Dann kommt der wunderbare Schwimmstil ins Gespräch. Etwa von Herrn Phelps. Oder die perfekte Wasserlage von Frau Ledecky. Mit idealen Hebelverhältnissen, ausgefeilter Technik bei Armzügen und Beinarbeit und Atmung wird da Leistung erklärt. Gesunde Ernährung, ausgeklügeltes Kraft- und Mentaltraining, der Glaube, die Familie und und und… sind weitere Erklärungsmuster für manchmal Unerklärliches. Ja, schon gut, es reicht. Nicht mehr grübeln. Aber da ist dieser Tunichtgut im Kopf, dieser Störenfried, dieser kleine Teufel, der diese nagenden Zweifel bei jedem Zieleinlauf, bei jeder Weite mit der Frage schürt: „Ist das wirklich eine lupenreine Leistung?“ Unbefangen zuschauen – das war einmal.

Generalverdacht

Generalverdacht, das unschöne Wort, über das sich zu Recht die „sauberen Athleten“ erregen – er schwebt über und in den Köpfen aller und ist nicht mehr auszuräumen. Jedenfalls nicht mit Vorschlägen wie auf einen Medaillenspiegel zu verzichten, den Willi Lemke nun aus der Anti-Doping-Klamottenkiste kramte. Oder mehr Kontrollen. Oder unabhängigen Kontrolleuren, die keiner kennt. Oder…

Die olympische Idee und deren Werte haben sich nicht überholt – gerade in der heutigen Zeit könnten sie nicht nur jungen Menschen Orientierungshilfe geben. Nur: die olympischen Macher haben diese Orientierung verloren, sich weit von ihren eigenen Inhalten, Regeln und Werten entfernt.

Das IOC soll jetzt mal wieder über eine lebenslange Sperre für alle Dopingsünder nachdenken. Schön. Das wird aber die Dopingproblematik auch nicht lösen, solange Olympia nur unter dem Aspekt eines erfolgreichen Geschäftsmodells gesehen wird, bei dem Rekorde und Superathleten Voraussetzung für klingelnde Kassen und teuer zu verkaufende TV-Rechte sind.

Nur ohne Makel

Wenn das Produkt beträchtlichen Schaden nimmt, der Makel offensichtlich ist, werden seriöse Geldgeber sich überlegen, ob sie mit „eiernden“ olympischen Ringen weiter werben wollen. Wer will schon mit Betrügern an den Start gehen? Oder sich mit FunktionärInnen gemein machen, die kriminelle Machenschaften, Korruption oder politisches Machtgebaren als die Disziplinen sehen, die man bis zur Perfektion beherrschen muss. Die olympische Familie ist gefordert, um zu retten, was zu retten ist – nicht zuletzt auch sich selbst. Und vor allem die verlorene Glaubwürdigkeit.