DSB-Gründung als die Welt in der Schräge lag

75 Jahre Deutscher Sportbund / Hannover lädt zum Festakt / DOSB tut sich schwer mit dem Blick zurück

Berlin, 9. Dezember.- Am 10. Dezember 1950 wurde eine Organisation gegründet, die es heute nicht mehr gibt: Der Deutsche Sportbund (DSB). 56 Jahre später ging er mit dem Nationalen Olympischen Komitee von Deutschland (NOK) eine Fusion ein und wurde zum Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der sich offensichtlich mit dem Blick „Back to the roots“ sehr schwer tut.

Und am liebsten gar nicht feiern möchte – warum auch immer. Dass er schlechte Presse befürchtet, wie ein DOSB-Vorstandsmitglied gegenüber dem Chronisten Professor Detlef Kuhlmann andeutete, was  dieser in einem Interview mit der „Jungen Welt“ in Sachen DSB-Jubiläum erzählte, ist ein merkwürdiges Argument. Schlechte Presse hat der DOSB ja ohnehin immer wieder in den letzten Jahren. Den Festakt in sehr kleinem Rahmen, nahezu im Stillen, richtet nun die Stadt Hannover aus, wo vor 75 Jahren nach schwierigem Anlauf der Dachverband im Hodler-Saal des Neuen Rathauses der niedersächsischen Landeshauptstadt aus der Taufe gehoben wurde.

Man läuft schnell Gefahr, wenn man zurückblickt, in verklärende Nostalgie-Träume zu verfallen, sich vieles schön zu reden, was bei nüchterner Betrachtung gar nicht so rosig war. Doch die Gründung des Deutschen Sportbundes war auch in der Nachbetrachtung ein Glücksfall für den Aufbau des Nachkriegssports.

Die Welt lag schräg. Da stand nun der Neuanfang eines Landes, das in Schutt und Asche versunken war. Die Deutschen, die die ganze Welt erschüttert und schwere Schuld auf sich geladen hatten, wollten schnell vergessen oder mindestens verdrängen und zur Normalität zurück. Männer wie Konrad Adenauer (CDU), Theodor Heuss (FDP) oder Kurt Schumacher (SPD) gehören zu den politischen Persönlichkeiten, die nach der Hitler-Diktatur, Zweitem Weltkrieg und dem Holocaust die Deutschen in die Demokratie führten, die ihnen von den Alliierten quasi geschenkt wurde.

Freiwillig übergelaufen

Und einen Neuanfang wollte auch der deutsche Sport, der schon teilweise  vor 1933 mit fliegenden Fahnen und lauten Spielmannszügen zu den randalierenden und pöbelnden braunen Nationalsozialisten freiwillig überlief. Erst nach der Machtübernahme wurden die Sportorganisationen gleichgeschaltet – ohne noch viel Widerstand aus dessen Reihen.

Der Sport und seine Vertreter hatten sich schuldig gemacht. Vertrauen zurückzugewinnen war somit die erste Devise, aber: Wie sollte das gelingen und mit wem?

Der Sündenfall des deutschen Sports und die teilweise bedingungslose Unterstützung des Unrecht-Regimes veranlassten am 17. Dezember 1945 den Kontrollrat der Alliierten, die Direktive 23 herauszugeben, die die Entmilitarisierung des deutschen Sports beinhaltete. Aufgelöst werden sollten alle Turn- und Sportvereine sowie Sportorganisationen, die vor der Kapitulation bestanden hatten. Gleichzeitig gestattet der Erlass aber auch  „die Errichtung nicht-militärischer Sportorganisationen lokalen Charakters auf deutschem Gebiet“. Für die sowjetisch besetzte Zone war dies der Start für den Aufbau einer sozialistischen Körperkultur-Bewegung. Die sportaffinen Vertreter der Westmächte dagegen ließen der Sportentwicklung freien Lauf – mit Ausnahme von Luftsport, Fechten und Schießen durfte der Sport sich neu aufstellen.

Die ersten Vereine

Die ersten, die sich wieder formierten, waren Vereine, nach und nach bildeten sich Landessportbünde und Spitzenverbände neu . Und fünf Jahre nach Kriegsende eben der Dachverband. Vorausgegangen waren Zonensport-Tagungen und unzählige andere Treffen, bei denen es um Organisation und Struktur des neuen deutschen Sports ging – Turner, Fußballer, Arbeitersport, konfessioneller Sport etc. – sie alle wollten „ihre Belange“ berücksichtigt haben und in einer neuen Satzung wiederfinden.

Und natürlich ging es auch darum, wer diesen neuen Sport denn nun gestalten und anführen sollte. Täter und Mitläufer des Naziregimes tauchten plötzlich wieder in politischen Ämtern, in der Justiz, an Universitäten auf. Und die saßen nun auch im Sport  Opfern gegenüber.

Zum Beispiel Kolb und Wolker

Wer also schafft es, Vertrauen in eine neue Organisation zu setzen, die sich für die Werte einer Demokratie und für ideologiefreien Sport einsetzen soll? Männern wie Turnpräsident Walter Kolb, dem  Prälat und Funktionär der Deutschen Jugendkraft (DJK) Ludwig Wolker oder Arbeiter-Sportler Hugo Grömmer, die selbst unter den NS-Schergen gelitten hatten, gelang das. Sie saßen mit einigen am Tisch, die sich mit dem Regime gemein gemacht hatten und die zunächst, dank schneller Entnazifizierungsverfahren nur „als Mitläufer“ eingestuft wurden. Jahrzehnte später mussten sich dann manche doch dank der Arbeit vieler Historiker ihrer Vergangenheit stellen, die sie damals  zu ihren Gunsten geschönt hatten, indem sie sich praktisch selbst entnazifizierten.

Zurück zum 10. Dezember 1950. Herbert Kunze, der von 1948 bis 1992 Präsident des Deutschen Eissport-Verbandes (DEV) war und dem ersten DSB-Präsidium angehörte, schilderte die damalige Atmosphäre so: „Das trübe Winter-Wetter war eine Art Symbol für die Stimmung im Saal. Im Vorfeld waren ja schon zweimal Gründungsversammlungen geplant und verschoben worden, denn vor allem Turner und Fußballer hatten immer noch Bedenken. Dann gab es Personalquerelen, aber am Ende rauften wir uns alle zusammen.“

Nicht zuletzt war es dem Verhandlungsgeschick von Ludwig Wolker zu verdanken, dass trotz weiter schwelender Struktur-Differenzen die Satzung angenommen und der junge Willi Daume als Kompromiss-Kandidat zum ersten DSB-Präsidenten gekürt wurde. Daume erinnerte sich später an diesen Moment so: „ Da gründete eine gespaltene Versammlung einen deutschen Sportbund, ohne eigentlich wirklich zu wissen, was aus ihm werden sollte.“

Daume als Kompromiss-Kandidat

Der Mann aus Dortmund, Erbe einer Eisengießerei, 1936 bei den Olympischen Spielen im Basketball-Team, Handballspieler und später Handballpräsident, machte während dieses Gründungspozesses wegen seiner Sachlichkeit und integrativen Wirkung immer mehr auf sich aufmerksam. Finanziell unabhängig, als politisch unbedenklich eingestuft, wurde er zum Motor, Wertevermittler und Ideengeber des neuen deutschen Sports, den er für 20 Jahre als DSB-Präsident führte. Über seine NSDAP-Mitgliedschaft, die er später auch eingestand, urteilten Historiker Daume habe „dem System passiv gedient, aber das haben Millionen andere auch.“

Den  Wiederaufbau des Sports kann man sicher zu den großen Nachkriegsleistungen zählen. „Einheit in Vielfalt“ und „Sport für alle“ waren Leitlinien des DSB für den neuen und autonomen Sport.

Dass Daume ein Glücksfall für den deutschen Sport war, auch später als NOK-Präsident, ist unumstritten. Er hat den Sport geprägt wie kein anderer. Sein Blick über den Sport hinaus in die Gesellschaft hinein beeinflusste maßgeblich Ideen und Richtung. Daume überzeugte durch seinen weltmännischen, toleranten Stil und Umgang. Auch in den Programmen und Aktionen war der demokratische Wertekanon zu erkennen.

Das Wirtschaftswunder brachte nicht nur das Land zu Wohlstand, auch  der Sport bildete den Höhenflug ab. Die Mitgliederzahlen stiegen rasant, Vereine wurden neu gegründet. Der Sport wurde zu einer gesellschaftlichen Größe, dessen Stimme gehört wurde – wenn auch nicht immer so, dass auch danach gehandelt wurde.

Aus der Schmuddelecke

Kontakte mit Kirchen und Gewerkschaften, die Kooperation mit der (Sport-)Wissenschaft und der Kulturszene machten den DSB zu einem geschätzten Gesprächspartner. Intellektuelle näherten sich dem Sport, der für sie immer irgendwie ein Schmuddelkind gewesen war, und seiner Vielfalt mit Neugier und Staunen. Oder wie es der Theaterregisseur Jürgen Flimm in einer Rede  zum 50-jährige DSB-Bestehen beim  Festakt  in Hannover  formulierte – der Sport sei sowas wie eine Theater-Inszenierung,ohne festgelegte Handlung,  wo man nicht wisse, welche Überraschung am Ende stehe.

Der DSB-Kongress „Menschen im Sport 2000“ in Berlin im November 1987 im ICC zeigte grade denen, die mit Sport wenig anzufangen wussten, wie sich dieser auch intellektuell mit Zukunftsfragen und seiner Rolle darin auseinandersetzt.

Doch nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis beschäftigte den DSB: Trimmy brachte die ganze Nation in Bewegung, die dank des Wirtschaftswunders ziemlich viel Speck angesetzt hatte und sich mäßig bewegte: Männlein, Weiblein, Kinder: Jürgen Palm, hauptamtlich zuständig für den Breitensport, unterstützt von ehrenamtlichen Vizepräsidenten, brachte alle auf Trab und sorgte dafür, dass die Menschen ins Schwitzen kamen. Spaß sowie gesundheitliche Gründe und der Geselligkeits-Faktor waren die Antriebsfedern.

Frauen vor

Die Frauen waren, nachdem sie als „Trümmerfrauen“ am Aufbau der Republik maßgeblich Anteil hatten, zunächst wieder in ihre zugedachte Rolle zurückgedrängt worden. Doch sie wehrten sich. Auch im Sport wollten sie dabei sein. Und zwar nicht nur beim aktiven Sport, sondern auch in den Führungsetagen. Die Quotendiskussion brachte die Männerwelt in Aufruhr und Generalsekretär Karlheinz Gieseler ins ‚Schwitzen. Und da gab es dann auch noch Diskussionen, warum bestimmte Sportarten für Frauen nicht erlaubt sein sollen. Aufruhr allerorten, und manche Funktionäre – etwa beim Deutschen Fußball- Bund – sahen schon den Untergang des Abendlandes, wenn Frauen jetzt auch noch kicken würden. Dass sie es konnten, zeigten sie auch dem letzten Nörgler als sie 2001 Weltmeisterinnen wurden. Und dass Frauen und Mädchen plötzlich Farbe in triste Turnhallen brachten, dafür sorgte wieder Jürgen Palm: Langweilige Hausfrauen-Gymnastik wurde plötzlich zum Aerobic-Event mit Musik, und die Sportlerinnen waren plötzlich zu Jane Fondas mutiert.

Palm, der seiner Zeit weit voraus war im Bezug auf die (Breiten-)Sportentwicklung,  musste dafür sehr viel Kritik einstecken – „bonbonfarbener Affenzirkus“ und „ein weiterer Schritt zur Kommerzialisierung“ waren die Argumente gegen die Körperertüchtigung aus den USA.

Boomauslöser

Damals in den 1970-ern bis Ende der 1980-er Jahre war man auf dem besten Weg eine Sportnation zu werden, von der heute so viele reden. Mit Kampagnen nach und mit Trimmy wie „Sport für alle“ oder „Im Verein ist Sport am schönsten“ ließen sich die BürgerInnen animieren, mal die Laufschuhe anzuziehen und sich in Bewegung zu setzen. Auch Ärzte wurden für Aktionen wie „Laufen ohne zu schnaufen“ gewonnen. Und stellten auch das „Grüne Rezept“ aus, auf dem Bewegung statt Pillen verordnet wurde.

Begeistert, ja aus dem Häuschen, waren die Deutschen (damals noch) von ihren Spitzensportlern: Da lösten die Tennis-Asse Steffi Graf und Boris Becker einen wahren Boom aus, Tennisclubs konnten sich vor Mitgliedern kaum retten, und Papas und Mamas sahen ihre Sprösslinge schon als die potentiellen Nachfolger des Duos. Auch die Suche nach Langläufer Jochen Behle von ZDF-Kommentator Bruno Morawetz in der Loipe von Lake Placid 1980 mit dem unvergesslichen Satz: „Wo ist Behle?“ animierte manchen, sich selbst auf die schmalen Latten zu stellen – wer es eher mit alpinem Skisport hatte, der nahm sich Rosi Mittermaier zum Vorbild.

Höhepunkt für den deutschen Sport: die Olympischen Spiele in München 1972. Trotz des schrecklichen Attentats palästinensischer Terroristen wurde – nach der Aufforderung des IOC-Präsidenten Avery  Brundage „the  games must go on“ –  das „deutsche Fräulein-Wunder“ weltweit gefeiert: Ulrike Meyfarth, Heide Rosendahl, Ingrid Mickler- Becker, Liesel Westermann, Renate Stecher, Annelie Erhardt und andere  standen im Fokus.

Die Kulturmeile bei den Spielen, die Willi Daume als besonderes Herzensanliegen durchgesetzt hatte, erreichte ihren Zweck: Intellektuelle an den Leistungssport – der in diesen Kreisen eher verpönt und umstritten war – heranzuführen, Kultur und Sport anzunähern. Was Daume damals anleierte, fand bei den Spielen in Paris 2024 so etwas wie seine Vollendung.

Kompromisse trotz Animositäten

Breitensport und Spitzensport. Im Laufe der Jahre hatte sich das NOK als Vertreter und Sprecher das Spitzensports verstanden und etabliert, was dem DSB nicht immer schmeckte. Nicht selten kam es deshalb zu Auseinandersetzungen, wer denn nun die Lufthoheit über den Spitzensport habe. Der Bundesausschuss Leistungssport (BAL) war beim DSB angesiedelt, das NOK aber für Entsendung zu Olympischen Spielen zuständig. Wegbegleiter Harald Pieper, der zunächst bei der Deutschen Sportjugend tätig, später Pressesprecher des DSB war, erinnert sich: „Da gab es schon manchmal heftigen Streit, wer denn nun was entscheidet. Aber am Ende hat man sich immer geeinigt, einen Kompromiss gefunden. Selbst persönliche Animositäten hinderten sie nicht daran, tragfähige gemeinsame Entscheidungen zu treffen.“

Einigungen – natürlich war auch im DSB nicht selten Hinterzimmerdiplomatie angesagt, aber es gab trotzdem noch eine auch öffentliche Debattenkultur. „So manche Entscheidungen, an denen nun erstmal nicht alle beteiligt waren, erregten häufig Widerspruch. Und zwar nicht im stillen Kämmerlein, sondern auf den Mitgliederversammlungen. Spitzenverbände und Landessportbünde und vor allem viele aus den Verbänden mit besonderen Aufgaben machten da manchmal den Vorturnern mit Wortmeldungen die Hölle heiß“, erzählt Pieper. Und manche Entscheidung musste dann doch noch mal revidiert werden. Ein großer Unterschied zu heute, wo die meisten Delegierten bei Mitgliederversammlung eher wirken als ob sie ein Schweigegelübde abgelegt hätten – spontane Wortmeldungen  sind  eher eine Rarität.

 

Druck der Sportjugend

Vor allem auch die Deutsche Sportjugend (dsj) – die übrigens  in diesem Mai, öffentlich kaum bemerkt, auch 75 Jahre alt wurde – machte einst der Erwachsenenorganisation viel Druck. Sie hatte ganz früh das Thema Umwelt auf dem Schirm, setzte sich unentwegt für einen besseren Schulsport und Bildungsfragen ein, äußerte ihre Bedenken zu Spitzensport bei Kindern und bekämpfte Missbrauch. Die dsj war das soziale Gewissen des DSB, der diese Probleme nach mehr oder weniger heftigen Diskussionen aufnahm. Erika  Dienstl, lange dsj-Vorsitzende, ehemalige Fechtpräsidentin sowie DSB-Vizepräsidentin, erzählte einmal: „ Ich musste mir in Präsidiums-Sitzungen ganz schön was anhören, wenn aus der Jugend Themen aufgebracht wurden, die man erstmal gerne nicht so hoch hängen und wegschieben wollte. Aber es wurden oft dann auch DSB-Themen.“

Den Anspruch, über den Tellerrand zu schauen, Probleme aller anzugehen, die auch immer irgendwie den Sport berühren, den hatte der DSB stets. Denn dass der Sport nicht auf einer einsamen Insel lebt und für eine heile Welt steht, sondern eben Teil einer sehr ambivalenten Gesellschaft mit Höhen und Tiefen ist, erklärten DSB-Präsidenten immer wieder.

Sport und Politik eine Symbiose

Die Geschichte des Sports ist immer mit der Geschichte der Entwicklung des Landes verbunden – eine Art Symbiose. Das mag zwar eine Binsenweisheit sein, aber die wollen viele im nationalen und internationalen Sport auch heute immer noch nicht sehen.

Die Sportorganisationen haben damals wie heute viele politische Wandlungen erlebt. Gerade jetzt ist wieder eine politische Zeitenwende im Gang, die alles in Frage stellt und auch die Sportwelt ins neuerliche Kippen bringt – ein Blick in die USA auf das Zusammenspiel zwischen Fifa-Präsident Gianni Infantino und US-Präsident Donald Trump ist dafür ein anschauliches Beispiel.

Und so sind eben auch die Sportverantwortlichen politisch Handelnde mit großer Verantwortung. Nicht zuletzt deshalb legten DSB und NOK großen Wert auf ihre internationale Entwicklungshilfe, wo beide Organisationen hervorragende Arbeit leisteten, und man Trainer-Namen wie Holger Obermann und Rudi Gutendorf  damit verbindet.

„Der Sport hat im Grunde genommen nichts mit der Politik zu tun, aber sie hat ihn dennoch fest am Kragen“, sagte Willi Daume im Zusammenhang mit dem Wirrwarr um die doppelten Deutschen und den gesamtdeutschen Sportverkehr. Die deutsch-deutschen Kalendergespräche brachten Generalsekretär Gieseler manchmal an die Grenze seiner Geduld. „Kaum dachten wir, es wäre geklärt, kam Einspruch aus dem SED-Politbüro oder aus Bonn.“ Die politische Großwetterlage engte den Handlungsspielraum für die DSB-Präsidenten und den organisierten Sport ein.

Neutral und doch politisch

Die Nachfolger Daumes, die fast alle aus der Politik kamen waren insofern alle sehr politische Präsidenten, die das Spiel und die Folgen auch für den Sport kannten. Der Jurist Wilhelm Kregel (1970-74) fällt dabei etwas aus der Reihe. Willi Weyer (1974-1986) dagegen war FDP-Innenminister in Nordrhein-Westfalen, Hans Hansen (1986 1994) war u.a. Sprecher der Landesregierung in Schleswig-Holstein und wie Manfred von Richthofen (1994–2006) CDU-Mitglied – sie alle agierten auch politisch, wenn es von Nöten war, ohne die politische Neutralität zu verletzen.

Als die Russen 1979 in Afghanistan einmaschierten, Jimmy Carter daraufhin den Boykott der Spiele 1980 in Moskau verhängte, stellte sich die deutsche Politik an die Seite der Amerikaner. „Das war eine der bittersten Stunden für mich, als der Anruf kam, dass man den Boykott beschlossen hat“, sagte Willi Daume, kurz nachdem er die Nachricht erhalten hatte – damals NOK-Präsident.

Bei der Installation des DSB hatten die Gründungsväter und Gründungsmutter Gretl Nordhoff auf die Autonomie des Sports gepocht. Aber ganz schnell mussten sie erkennen, dass diese eben in vielerlei Hinsicht eine Utopie bleiben wird: Finanziell wie politisch ist der Sport vom Staat abhängig, trotz steter gegenteiliger Beteuerung.

Der DSB und seine Mitgliedsverbände waren jahrzehntelang das Hätschelkind der Politik, das ihn gerne machen ließ und Wünsche, besonders finanzieller Art, erfüllte. Sport war immer noch der positive Botschafter, wenn es vielleicht politisch nicht gut lief. Die politische Strategie „Brot und Spiele“ funktioniert nach wie vor – wie auch die 22. Mitgliederversammlung  vergangenes Wochenende belegte.

 

Und die Politik fördert nicht zuletzt, weil der Sport auch als Reparaturwerkstatt der Republik gilt: Wo Elternhaus und Gesellschaft versagen, soll er zu sozialem Verhalten erziehen, Miteinander und Fair play vorleben, zu Integration, Toleranz und Völkerverständigung beitragen. In den letzten Jahrzehnten wurde es immer mehr, wofür der Sport herhalten muss und soll. Da hat er sich an vielen Stellen nicht nur selbst übernommen, sondern sich auch einspannen lassen für Aufgaben, für die eigentlich andere zuständig wären.

Vereinigung als déjà-vu

Es ist ein kleines déjà-vu – zumindest an manchen Punkten, wenn man an die Vereinigung des deutschen Sports nach dem Mauerfall 1989 denkt: Auch hier wurde ein Neuanfang gestartet, sollte der Sport zweier Systeme zusammengeführt werden. Auch hier muss man anerkennen, dass die Vereinigung des deutschen Sports, die die Präsidenten Hansen und von Richthofen stemmen mussten, eine große  Kraftanstrengung war.

Im Nachhinein betrachtet, ist sicher vieles gut gelaufen, aber vieles auch nicht. Der DDR-Sport bestand nicht nur aus Stasi-Spitzeln, einem unmenschlichen Dopingsystem und AthletInnen, die zum Spitzensport gezwungen werden mussten. Hätte man sich mehr Zeit gelassen – die man offensichtlich nicht hatte – dann hätte man die besten Dinge aus zwei unterschiedlichen Systemen zu einem neuen schlagkräftigen Sport entwickeln können. So blieb viel Frust – vor allem im Osten. Eine Chance vertan.

Da glänzte also der deutsche Spitzensport noch etwas bis Mitte der 1990er Jahre auch dank ehemaliger DDR-SportlerInnen, die für den vereinten Sport noch Medaillen einsammelten – bevor die abtraten und dann der kontinuierliche Absturz des Spitzensports anfing.

Das Ende des DSB

Immer mehr Kommerz, neue Anforderungen im Management des Hochleistungssports, wachsende Konkurrenz im Breitensport  durch Mitbewerber – die Strahlkraft der Sportorganisationen nahm ab. Und die Kakophonie in den Sportorganisationen habe demselben nicht gutgetan, meinten die Kritiker, die befanden, dass zwei „Dachorganistionen“, nämlich DSB und NOK, eine zu viel seien, um die Interessen des organisierten Sports mit starker Stimme gegenüber der Politik zu vertreten. Mit vereinter Kraft als Lobbyist gegenüber der Politik aufzutreten, dabei finanzielle und personelle Ressourcen zu bündeln: Das waren die Argumente der Befürworter einer Fusion zwischen DSB und NOK. Besonders einer hatte großes Interesse an einem starken Dachverband: Thomas Bach, der den neugegründeten Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), dessen erster Präsident er wurde, als Beschleunigungsspur für den Absprung in Richtung Internationales Olympisches Komitee nutzen konnte , auf dem olympischen Schanzentisch abhob und als Präsident landete.

Tröger behielt recht

Walther Tröger, auch einer derjenigen, der den deutschen Sport als Multifunktionär, u.a. NOK-Generalsekretär und IOC- Direktor Sport sowie als NOK-Präsident entscheidend mitprägte, war Gegner der Fusion, „weil man weder Breite noch Spitze gerecht wird“. Er sollte Recht behalten. Von wegen die eine, starke Stimme! Der Deutsche Olympische Sportbund, der nächstes Jahr 20 Jahre alt wird, hat vieles vernachlässigt, wofür er früher stand – seine gesellschaftliche Rolle, seine Stimme. Kurz gesagt: Er hat es versemmelt! Dass der DOSB-Tanker in schweres Fahrwasser geraten ist, wo er unter der höchst umstrittenen Präsidentschaft Alfons Hörmanns schließlich auf Grund lief, haben sich die EntscheiderInnen in den Mitgliedsorganisationen selbst eingebrockt. Der DOSB hat den Breitensport lange vernachlässigt, weil ihm das „O“ in seinem Namen immer wichtiger war als sein Kerngeschäft – und auch die Basis, die er vertritt. Die Aktualität ist ein weiterer Beleg dafür, dass es mehr um elitäre und wirtschaftliche Interessen sowie Show-Darbietungen  als um wirkliche Inhalte und den Sport für das Fußvolk geht.

Manchmal wäre die Rückkehr zu den Wurzeln, ein Nachschlagen im eigenen Archiv „Gedächtnis des Sports“ vielleicht hilf- und erkenntnisreich. Die Gründer des DSB jedenfalls hätten es verdient, dass man sich auch in der Nachfolgeorganisation ihrer erinnert. Um es mit Richard von Weizsäcker zu sagen, der wie nahezu alle Bundespräsidenten dem Sport zugetan war: „Erinnern ist Arbeiten an der Zukunft.“