DOSB-Vizepräsidentin: Mit langem Atem auf Bewegungs-Mission

Kerstin Holze über Eckpunktepapiere und Breitensport als politische Querschnittsaufgaben

Berlin, 6. Juni. Kerstin Holze ist auf einer Mission. Nachdem die Welt in den vergangenen zwei Jahren wegen der Pandemie und nun wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine außer Takt geraten ist, sehnen sich alle nach Normalität zurück. Dazu kann auch der Sport beitragen, der in der Bundesrepublik einen Restart und gleichzeitig eine Zeitenwende einleitet. Im Wannsee-Gespräch mit der Vize-Präsidentin des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) geht es um ein neues Eckpunktepapier des DOSB, Querschnittsaufgaben, langen Atem und das Medikament mit nahezu Null Nebenwirkungen – den Sport.

DOSB-Vizepräsidentin Kerstin Holze. ©DOSB/Frank May

Landauf, landab ist Kerstin Holze unermüdlich unterwegs, gibt Interviews zum Breitensport und wie sie Deutschland in Bewegung bringen will. Das ist zumindest – im Blick auf die letzten Jahre – eine Neuerung. Denn Breitensport wurde eher selten öffentlichkeitswirksam so intensiv und idealistisch in den letzten zehn Jahren von einem DOSB-Präsidiumsmitglied präsentiert, wie nun in den letzten sechs Monaten von der Schweriner Kinderärztin, die damit zum Gesicht des DOSB wurde.

Zeitenwandel ist angesagt. Auch im Sport. Nicht nur deshalb, weil die Bundesregierung einen neuen Kurs im Koalitionspapier angekündigt hat, der mit einem Sportentwicklungsplan den „Sport für alle“ in den Fokus stellt, ohne das bisherige Hätschelkind Spitzensport natürlich außer acht zu lassen. Wo die Politik nun genau hinsteuern will, ist allerdings bisher nicht wirklich zu erkennen.

Welchen Sport?

Die Frage steht schon seit langem im Raum: Welchen Sport will denn dieses Land? „Ja, das gilt es zu beantworten. Aber eines ist klar und keine Neuigkeit – Spitzensport bedingt Breitensport und umgekehrt. Wie wir das Miteinander gestalten – also welchen Sport wir wollen – darüber müssen wir diskutieren.“

Der DOSB schrieb nun mal wieder ein Strategiepapier – andere nennen es Forderungskatalog – unter dem Titel „Sport bewegt Deutschland.“ In den Eckpunkten geht es nur um Breitensport. Neue, weitere Eckpunkte soll es für den Spitzensport bis zur Mitgliederversammlung im Dezember geben.

Pandemie als Hebel

Nun also ist das Breitensportpapier auf dem Markt mit allen alten bekannten Themenfeldern. Und der Pandemie, die nochmal ganz deutlich offenbarte, woran der Sport schon seit langem krankt. Corona und die Folgen für die Befindlichkeit der Gesellschaft sind nun eine Art Hebel, um die Politik zu verpflichten, den organisierten Sport wirklich ernst zu nehmen, ihn ganzheitlich zu sehen und zu behandeln. Auch finanziell. Und deshalb will der DOSB sein Konzept als Gesprächsangebot an die Politik verstehen. 25 Millionen Euro hat der Haushaltsausschuss für den Restart des Breitensports zugesagt. Weil noch kein inhaltliches Konzept vorliegt, wofür man das Geld denn braucht, sind die Mittel noch mit einem Sperrvermerk versehen.

Das Wichtigste ist, dass die Politik den Sport als Querschnittsaufgabe sieht. Denn es muss allen klar sein: Bewegung geht uns alle an“, sagt Holze. PolitikerInnen betonen zwar immer, dass der Sport wichtig sei, vergessen ihn aber dann meistens, wenn es um Entscheidungen geht. „Wir müssen da mit am Tisch sitzen: Gesundheit, Bildung, Schul- und Familiensport, Klimawandel, Stadtentwicklung und Sportstätten – das sind ja alles Bereiche, von denen auch der Sport betroffen ist“, fordert Holze, die sagt, es habe sie beispielsweise „schmerzlich berührt“, dass der Sport während der Pandemie nicht zu einschlägigen Gesprächsrunden im Bundesgesundheitsministerium eingeladen war.

Andocken im Kanzleramt

Um das künftig auszuschließen, so glauben die DOSB-Verantwortlichen, wäre ein Andocken des Sports mit einem oder einer StaatssekretärIn im Kanzleramt der richtige Schritt. „Eine Koordinierungsstelle“, sagt die Vizepräsidentin. Ob wirklich eine hierarchische Lösung – also Weisung in die Ministerien von höchster Stelle – an Akzeptanz und Beurteilung der Wichtigkeit des Sports sowie der Einbettung etwas ändern würde, bezweifeln KritikerInnen. Ganz im Gegenteil – sie befürchten, dass der DOSB seine Wirkmacht verlieren würde. Das heißt: die Politik bestimmt, was Sache ist. „Aber das sind ja nun erstmal Vorschläge, Impulse“, so die Replik Holzes auf diese Einwände.

Ein weiterer Vorschlag des Sports ist ein Bewegungsgipfel, den die Bundesregierung einberufen soll. Am besten noch im September. „Das wäre doch ein gutes Signal an und für den Sport in die Gesellschaft.“ Gipfel haben häufig das Stigma einer Quatschbude nach dem Motto: „Schön, dass wir mal wieder darüber geredet haben.“ Da braucht es doch Inhalte. Und die muss der DOSB liefern.

Wenn es darum geht – Kerstin Holze kann liefern. Lebenslang in Bewegung – das ist eine Vorstellung der Kinderärztin aus Schwerin, die in einer sportaffinen Familie in Frankfurt/Main aufwuchs – in Spuckweite des Stadions und der Dachorganisation in der Otto-Fleck-Schneise war der Weg über die Hessische Sportjugend, den Turnerbund bis zum DOSB praktisch schon vorgezeichnet. Ideen, die manchmal wie Visionen rüberkommen, sprudeln nur so aus ihr heraus. Besonders liegen ihr Kinder und Jugendliche am Herzen, die nach Corona viel aufzuholen haben. „Wir erwarten eine umfangreiche Ausstattung des im Koalitionsvertrags angekündigten ‚Zukunftspaketes für Bewegung, Kultur und Gesundheit‘“, so Holze.

Bewegung ein Leben lang

Bewegung von klein auf und ein Leben lang“ ist ihre Idealvorstellung. Und da fordert sie auch ihre KollegInnen Kinderärzte auf, etwa Eltern bei der U 7 eine Bewegungsberatung zu geben. „Diese Beratung ist eher die Ausnahme, und sie gibt es meist nur dann, wenn das Kleinkind motorische Auffälligkeiten zeigt“, kritisiert die Mutter von drei Kindern.

Bewegung im Alltag, im Kindergarten in der Schule. „Das müsste doch so selbstverständlich sein wie das ABC zu lernen oder die Grundrechenarten“, sagt Holze. Doch der Alltag zeigt anderes: In vielen Kindergärten gibt es kaum Platz für Bewegungsangebote, Kindergärtnerinnen sind nicht immer geschult, haben manchmal wenig Bezug zum Sport. Und auch an den Schulen fallen immer noch eher Sportstunden denn Mathe oder Fremdsprachen aus. Nach der Pandemie sind auch Eltern teilweise in Panik, und fordern erstmal die Lücken in den Hauptfächern zu schließen.

Das geht auch auf Kosten des Sport- oder Schwimmunterrichts – der eben dann wieder mal ausfällt. Der Sportunterricht in dieser Republik ist ein Trauerspiel in den letzten Jahrzehnten. „Gerade in der Grundschule werden motorische Grundlagen und koordinative Fähigkeiten weiter entwickelt. Das ist auch der Start in lebenslange Bewegung. Sport ist Teil von psychisch und physisch gesundem Aufwachsen – also ein Muss“, so Holze.

Von Eltern ausgebremst

Gute Erfahrungen mit Sport zu haben, hängt auch von den Menschen ab, mit denen Kinder groß werden. „Wenn Eltern Sport treiben, dann sind sie ein gutes Beispiel für die Kinder.“ Aber auch die Elternschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert: Viele haben Angst um die Kleinen, trauen ihnen wenig zu: Kleine AbenteurerInnen werden von Papas und Mamas manchmal ausgebremst. „Eltern beim Kindersport – ein Alptraum“, schilderte vor kurzem mal ein Fußballtrainer Erfahrungen mit Helikopter-Eltern, die im Sport mittlerweile genauso häufig anzutreffen sind wie ausgeflippte Väter und Mütter, die außer Rand und Band sind, wenn ihre Kinder auf dem Platz auflaufen. TrainerInnen und ÜbungsleiterInnen sind heute mit solchen Situationen nicht selten überfordert.

Nicht nur deshalb sieht Holze einen Schwerpunkt in Qualifikation und Ausbildung für ÜbungsleiterInnen und TrainerInnen. „Die Anforderungen haben sich geändert – da sind wir gefordert. Sportvereine haben in der Pandemie nicht nur Mitglieder, sondern auch Übungsleiter verloren. Das ganze System als solches hat gelitten“ sagt sie.  Die Anzahl der Ausbildungen ist 2020 um 37 Prozent eingebrochen. 2021 stiegen sie wieder um zehn Prozent.  Holze weiter: „Aber wir haben jetzt einen Ausbildungsstau. Und nun sehen wir, dass das Sportsystem schon vor der Pandemie genau da an seinen Grenzen war. Wir brauchen also eine massive Ausbildungsoffensive, wobei wir beispielsweise in Flächenländern auch mit der Erweiterung von Digitalangeboten eine echte Chance sehen. Und natürlich sind im sozialen und pädagogischen Bereich weitere Qualifikationsangebote nötig, um die Trainerinnen und ÜbungsleiterInnen – aber auch Vereinsvorstände – zu unterstützen, die sich ständig neuen Herausforderungen stellen müssen.“

Ehrenamtler – eine aussterbende Spezies?

Ehrenamtliche MitarbeiterInnen: Seit Jahren werden sie immer weniger, was nicht nur an den wachsenden beruflichen und familiären Anforderungen liegt. Das Ehrenamt schätzen viele MitbürgerInnen nicht so, wie es sein müsste: Ob Feuerwehrleute, Sanitäter, Schiedsrichter oder Trainer – sie werden mittlerweile von ausrastenden BürgerInnen nicht nur angepöbelt, beschimpft oder angegriffen, die überhaupt nicht mitbekommen haben, was diese Menschen für die Gesellschaft leisten. Ehrenamtler – eine aussterbende Spezies, Frau Holze? Wie will man Freiwillige gewinnen? Was hat der Sport, was die Konkurrenz nicht hat? „Das Ehrenamt braucht Anerkennung, Wertschätzung. Es wäre gut, wenn Arbeitgeber ehrenamtliches Engagement würdigen, Freistellungen dafür leichter machen würden. Wir alle müssen uns überlegen, wie man Familie, Beruf und Ehrenamt vereinbaren kann“, sagt die berufstätige Ärztin, Mutter und mehrfache Ehrenamtlerin, die sich ab und an da sicher Rat bei ihrem Ehemann, Jan Holze holen kann: Der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Sportjugend (dsj) ist Vorstand der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt.“

Die engagierten Ehrenamtler verhinderten es, dass die organisierte Vereins-Landschaft während der Pandeme völlig zum Erliegen kam. Und dass es keinen Mitglieder-Exodus gab, den führende DOSB-Panikmacher schon unmittelbar zu Beginn des Lockdown vorausgesagt hatten. Viele Vereine hielten mit ihren Mitgliedern telefonisch oder per Mail steten Kontakt, lieferten Übungsprogramme – auch live im Hinterhof von Mietshäusern – oder boten Digitalkurse an. Andere verabredeten sich zum Radfahren, Laufen, Walken, Golf, Wandern, Kanufahren, Rudern oder Segeln – immer unter Berücksichtigung der geltenden Regeln. Aber eine Reihe Zeitgenossen wurden – vor allem viele Kinder in beengten Wohnverhältnissen und mit wenig Spielfläche vor der Tür – zu Couchpotatoes.

Angebote für alle

Und deshalb sagt Kerstin Holze: „Das gemeinsame Ziel von organisiertem Sport und Politik muss jetzt sein, die Angebote des Sports allen zugänglich zu machen und Deutschland in Bewegung zu bringen. Es geht neben dem Gewinnen von Mitgliedern und Ehrenamtlichen auch um das Sichtbarmachen individueller und sozialer Mehrwerte von Sport und Bewegung. Und das im Verein.“ Und wie soll das gehen? „Dafür haben unsere Sportvereine, Verbände und die Mitglieder richtungsweisende Vorschläge wie den Hamburger Bewegungsgutschein entwickelt.“ Gutscheine als das überzeugende Bewegungsargument scheinen allerdings, so sagen kritische Vereinsvertreter, eher ein laues Mittel, um die Menschen auf Trab zu bringen.

Dann schon eher eine Kampagne. „Frau Holze, der Sport hatte schon großartige Kampagnen, die beste war wohl die Trimm-Aktion. Wie wär’s mit einer Neuauflage?“ Da wäre die Kinderärztin vermutlich gleich dabei: „Ja das waren wirklich gute Ideen. Und es mangelt ja auch jetzt nicht an Alternativen, Sport und Bewegung in den alltäglichen Stundenplan einzubauen.“

Dauerbrenner Sanierungsstau

Bewegung für alle, Bewegung täglich – da geht es auch um Bewegungsraum. Mal abgesehen vom Klimawandel, der besondere Herausforderungen stellt: Sportstätten in Deutschland sind nicht überall ein Highlight: Schwer sanierungsbedürftige Hallen, Sportanlagen und Schwimmbäder sind ein Dauerbrenner, der Sanierungsstau ist seit langem ein Ärgernis und Streit zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Nun soll es 476 Millionen Euro für kommunale Sportstätten geben, die der Bund auf die Verpflichtungsermächtigungen von einer Milliarde Euro für die nächsten fünf Jahre extra gibt. Reicht Ihnen das? „Ich begrüße jede Investition in diesem Bereich. Noch dazu, wenn diese Mittel mit einer energetischen Sanierung verknüpft sind. Das ist ja in die Zukunft gedacht. Aber das kann ja noch nicht das Ende der Fahnenstange sein. Denn: Die Förderung müsste ausgeweitet werden und nicht nur kommunale Einrichtungen, sondern auch vereinseigene Sportstätten, die inzwischen ein Drittel des Bestandes bundesweit ausmachen – müssten Bundesförderung beantragen können.“

Geld spielt im Sport noch immer die alles tragende Rolle. Aber wofür man es haben will, das soll nun gut begründet werden. DOSB-Präsident Thomas Weikert hatte vor kurzem von einem „Kulturwandel“ gesprochen. Die Gesellschaft müsse anerkennen, dass Bewegung und Sport von unschätzbarem Wert seien.

Kerstin Holze formuliert das nochmal so: „Sport und Bewegung tragen zum psychischen und physischen Wohlbefinden jedes einzelnen bei, sorgen für mehr und bessere Lebensqualität und dafür, dass die Menschen gesund bleiben. Denn der beste Patient ist der, der nicht zum Arzt kommen muss.“

Optimistin für eine Utopie

Und Sport sei nun mal in jeder Hinsicht „das beste Medikament mit nahezu null Nebenwirkungen“, ist sie überzeugt.

Sind Sie Optimistin, Frau Holze? Sie bejaht das. Denn um einen Sportentwicklungsplan tatsächlich umzusetzen, „braucht man einen langen Atem. Es wird sich ganz sicher nicht alles von heute auf morgen ändern. Aber wir müssen mal anfangen.“ Denn wer den deutschen Sport kennt, der weiß, dass sich Kerstin Holze eigentlich auf einer „Mission Impossible“ befindet. Aber vielleicht ist sie die richtige Frau zur richtigen Zeit, um tatsächlich eine Utopie im Sport umzusetzen.