„Die haben wir verloren“

Randale Heranwachsender / Problemlöser gesucht: Sportorientierte Jugendsozialarbeit in Berlin

Berlin, 30. Dezember. Gewaltausbrüche an Silvester, Schlägereien in Freibädern oder auf Sportplätzen, Jubel und Gewaltexzesse nach dem schrecklichen Hamas-Überfall auf Israel am 7.Oktober auf Neuköllner Straßen. Kinder und Jugendliche mittendrin. Nicht nur in der Hauptstadt sind Ausschreitungen dieser Art immer häufiger zu beklagen. Ebenso wie Angriffe auf Feuerwehrleute, Rettungskräfte und Polizisten. Berlin zum Beispiel sieht – nach den gewalttätigen Ausschreitungen im letzten Jahr der Silvesternacht mit gemischten Gefühlen und sehr angespannt entgegen. Der Senat setzt – nach den Erfahrungen beim vergangenen Jahreswechsel auf ein großes Polizeiaufgebot. Doch nicht nur die Polizei soll helfen: Schnell folgte im letzten Jahr der Ruf aus der Politik nach Problemlösern. Die auch auf einem Jugend-Gipfel gesucht wurden.

Zu denen, die helfen sollen, gehört auch die sportorientierte Jugendsozialarbeit in Berlin. Seit Jahrzehnten leistet die „Gesellschaft für Sport und Jugendsozialarbeit“ (GSJ) der Berliner Sportjugend in vielfältigen Projekten und Einrichtungen erfolgreiche Arbeit. Sie rückt vor allem dann in den Fokus, wenn wieder mal Ratlosigkeit herrscht, wie man rebellierende, frustrierte, gewalttätige Heranwachsende noch erreichen könnte.

Die Erwartungshaltung der Politik, in der verlässlichen „Reparaturwerkstatt Sport“ ließen sich sozial- und gesellschaftspolitische Versäumnisse kitten, ist immer groß. Im Sommer, als es in den Freibädern Randale gab, setzte die Politik auf Sportteams, die präventiv und beruhigend wirken sollten. „Wir haben kaum Vorbereitungszeit gehabt, aber es klappte“, sagt Steffen Sambill, Jugend-Abteilungsleiter und Geschäftsführer der Sportjugend. Hier überzeugten die Sportteams mit ihrer Arbeit.

Kooperationen

Dennoch bleiben Überforderungen nicht aus. Die GSJ ist seit ihrer Gründung 1993 gewachsen – es gibt 58 Standorte –, aber die Probleme auch. „Es sind so vielfältige und dann doch wieder gleiche Problemlagen in vielen Kiezen – das stemmt man nicht mehr alleine“, so Sambill, der eine andere Denke fordert. „Wir müssen viel, viel mehr sozialräumlich denken.“ Was heißt: Für Kinder und Jugendliche ein Unterstützungssetting zu entwickeln. Dafür brauche es noch mehr Kooperationen mit anderen, etwa Schulen, Vereinen, Bezirken. „Damit niemand im Abseits steht“ ist das Motto der sportorientierten Jugendsozialarbeit. Aber ins Abseits katapultieren sich immer mehr Heranwachsende. Gründe dafür gibt es viele: Familiäre Vernachlässigung, Scheitern in der Schule, Orientierungslosigkeit zwischen Kulturen und Religionen, und Wut auf einen Staat, der aus ihrer Sicht Schuld an ihrer persönlichen Lage  ist. Wie soll sich das ändern?

Wer kann helfen und Zugang zu den Kindern und Jugendlichen finden?

Die Problemlage in einer Multi-kulti-Stadt wie Berlin hatte die Berliner Sportjugend schon sehr früh erkannt. Und bot schon Ende der 1970er Jahre Projekte in verschiedenen Kiezen an. Eine Kooperation, die es seit 2002 gibt, und die hervorragend klappt, ist der DTK Wasserturm in Kreuzberg – eine Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung von Bezirk und Sportjugend. Erzieherin Sabine Blankenheim und Sozialpädagoge Hakan Aslan sind von Anfang an dabei und leiten zusammen den Wasserturm. Das feste Team komplettieren Ibon Bellamy und Laurina Schulz.

Nicht unbedingt zum Besseren

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich manches geändert – nicht unbedingt zum Besseren, wie Aslan und Blankenheim bei einem Besuch in der Rosegger-Grundschule in der Bergmannstraße erzählen: Da ist nämlich der DTK derzeit provisorisch untergebracht – im Februar sollen sie nach dem Umbau wieder in den Wasserturm in der Kopischstraße umziehen. „Das ist der Plan“, sagt Aslan bei einer Führung durch die provisorischen Räume, die am nasskalten und grauen Wintertag Wärme ausstrahlen. Kinder und Jugendliche finden hier einen freundlich gestalteten Aufenthaltsraum, Sportbereiche, Bastelwerkstatt und ein provisorisches Musik- und Filmstudio. Es stehen viele Projekte und Kurse zur Auswahl. Aber man darf auch einfach rumhängen. „Das brauchen manche, wenn sie völlig überfordert aus der Schule kommen“ sagt  Aslan. Einfach mal Ruhe haben – die sie zu Hause oft auch wegen beengter Wohnverhältnisse nicht haben.

Ja, was hat sich geändert? Der Hamas-Überfall und die Terroranschlägen vom 11.September 2001 in den USA werden von vielen gleichgesetzt. Hakan Aslan musste sich damals in der alten Einrichtung mit Jugendlichen mit arabischen, türkischen und palästinensischen Wurzeln auseinandersetzen, von denen manche die Terroristen als Helden feierten. Warum bejubelten vor 22 Jahren die 14- und 15-Jährigen diejenigen, die als Selbstmordattentäter wahllos Menschen töteten, zumal die Jugendlichen in Deutschland geboren bzw. aufgewachsen sind, keinen Bezug zum Herkunftsland ihrer Eltern und Großeltern hatten? Sie konnten es nicht erklären, bezogen sich auf das, was sie zu Hause hörten. Auch da wurde Gesprächspartnern, aber auch den Menschen, die mit den Jugendlichen arbeiteten, wieder deutlich, dass mit der Integration etwas ganz gehörig schief läuft.

Die Klientel in unserer Einrichtung hat sich sehr verändert. Und zwar während der Coronazeit. Die meisten der Jugendlichen zwischen 15 und 20 wollten Corona-Regeln nicht akzeptieren – und sind weggeblieben“, berichtet der Sozialpädagoge. Und sie werden auch nicht mehr kommen: „Die haben wir verloren. Einige sehen wir hier in den Straßen abhängen.“

Einige scheinen die Vorurteile gegen sie unbedingt bestätigen zu wollen: Eine Gang verlegte sich auf das „Abziehen“ von Geld oder Klamotten. Auch in der Einrichtung. Die Trennung war unumgänglich mit dem letzten Schritt: Die Polizei musste kommen. Weil nichts anderes mehr half. Und man die anderen schützen muss.

Man übersieht die Leisen

Manche Sozialarbeiter richten ihr Augenmerk gerade auf die Hardcore-Jugendlichen – die lautesten und aggressivsten. „Dabei übersieht man zu oft die Leisen, die auch Probleme haben“, so Sabine Blankenheim. Schule, Eltern, Mobbing. „Wir können in unserem Rahmen helfen, sind aber keine therapeutische Einrichtung mit Helfersyndrom“, sagt Aslan. „Aber wir wollen diejenigen Kinder und Jugendlichen unterstützen, die Lust und Interesse haben, etwas auszuprobieren.“

Der Kiez hat sich verändert. „Die Gentrifizierung schreitet voran“, so Hakan Aslan. „Und das merken wir auch an der Klientel. Die Mehrzahl der Kinder ist zwischen acht und 13, kommt aus internationaler Mittelschicht, besucht nach der Grundschule oft weiter führende Schulen“, beschreibt Sabine Blankenheim das Publikum.

Unser größter Feind liegt hier auf dem Tisch.“ Hakan Aslan deutet auf ein Handy. Eine besondere Art der Konsumverwahrlosung. Unentwegt werden Trash und Fake News in den sozialen Medien geteilt. Da werden Frauen- und Männerbilder kreiert, die nichts mit dem wirklichen Leben zu tun haben. Politische Propaganda wird ungefiltert und unreflektiert aufgesogen, junge Menschen zu Hass und Gewalt mit Lügen und gefälschten Bildern aufgestachelt.

Mit Ansage

Das DTK-Team ist nicht überrascht, dass die Pisa-Studie so negativ ausgefallen ist. „Das war ja mit Ansage.“ Ibon Bellamy und Hakan Aslan stimmen überein, dass „Bildung nach wie vor der Schlüssel ist“, um Heranwachsende stark und lebenstüchtig zu machen.

Aber für diejenigen, die für negative Schlagzeilen sorgen, ist es wohl zu spät. Besonders auch für diejenigen, die sich auf der Strasse produzieren, denen egal ist, auf wen sie ihre unbändige Wut fixieren. Hauptsache sie stehen einmal im Mittelpunkt des Interesses. „Es ist sicher ihre Art von politischem Protest gegen das System, das sie nach ihrer Meinung im Stich lässt. Außer Chaos zu schaffen, sehen sie keine Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen“, stellt Aslan nüchtern fest.

Sie sind vermutlich auch nicht durch Sportangebote zu bremsen, die ihnen Werte wie gegenseitigen Respekt, Regeln, Miteinander und soziale Verantwortung vermitteln könnten. Aggressives Macho-Gehabe ist einfacher und reicht in ihrer Blase, um sich „ihren“ Respekt zu verschaffen.

Nicht ganz so krass sei er auch mal drauf gewesen, aber das habe sich geändert, als er auf einem Bolzplatz Omar kennengelernt habe, erzählt Yasin, eine Zufallsbekanntschaft im Wedding, der da gerade zwei Fußball-Teams wählen lässt. „Omar ist cool, studiert und ist ein toller Sportler. Durch ihn habe ich gelernt, dass Schule und Sport machen besser ist als rumhängen oder Drogen oder irgendein anderer Schei…“, erzählt er. Regelmäßig kommt er auf den Platz, zwei seiner Kumpels auch. Und er möchte Vorbild und Beschützer für die Jüngeren sein. Deshalb müsse man sich auch manchmal gegen „Störer“ behaupten, die etwa Kleinere vom Spielplatz vertreiben wollen. Mittlerweile käme das aber nur noch selten vor. Aber: Auch Yasin und sein Freund Abu sagen, nicht nur in der Schule, auch auf der Strasse gehe es mittlerweile rauer unter den Kindern und Jugendlichen zu. Gegensteuern? „Ich lerne beim Sport, dass ein Miteinander erfolgreicher ist als ein Gegeneinander. Und jeder gleich viel wert ist.“ Sagt Yasin. Und trabt mit Abu davon.

Man mag um die „verlorenen“  Kinder und Jugendlichen trauern, aber man muss (noch) nicht resignieren. Denn es gibt sie, die Erfolgsgeschichten, die auch die Sozialarbeiter motivieren , trotz mancher Rückschläge und allgemeiner Entwicklungen nicht aufzugeben. Wie die von dem jungen Mann, den Hakan Aslan vor einer gewalttätigen und folgenreichen Dummheit bewahrte – er nutze seine zweite Chance und kam nun vorbei, um sich zu bedanken und seinem Sohn zu zeigen, wer ihn in ein selbstständiges und sinnvolles Leben geschubst hat.