Neue Normalität im Sport

LSB-Präsident Thomas Härtel über Corona-Erfahrungen  und Hilfestellung für die Zeit danach

Berlin,20.November. Nebel über dem Wannsee, 12 Grad, ab und zu Sonne, blühende Dahlien und Rosen. Jogger, Radler und Spaziergänger sind am Ufer unterwegs, auf dem Wasser einzelne Boote. Es ist Mitte November, könnte aber auch Mitte Mai sein, sieht man von den gelben Blättern an den Bäumen ab. Fast auf den Tag genau vor einem halben Jahr war die Situation ähnlich – erster Lockdown, angespannte Stimmung – als der Präsident des Landessportbundes Berlin, Thomas Härtel, über Corona, Vereinssportverbot und zu ergreifende Maßnahmen in einem Interview sprach. Nun zweiter Lockdown, wenn auch nur light.

Das Wannseegespräch findet wegen der besonderen Umstände im Manfred-von-Richthofen-Haus in der Jesse-Owens-Allee statt. Dort bekommt man gleich am Eingang vorgeführt, wie ernst es der LSB und der Berliner Sport mit den Hygieneregeln nehmen: Desinfektionsmittel, Masken- und Meldepflicht – Abstand halten auch in den engen Fluren.

Depressionen

Vor einem halben Jahr herrschte große Aufregung im Sport, von Pleitewelle und Milliardenschäden war damals die Rede – die Schwarzmaler unter den Funktionären sorgten fast für Depressionen in Sportdeutschland. Thomas Härtel war damals gelassen. „Nützt ja nix, wenn man sich aufregt“, so seine Devise. Und jetzt, sechs Monate später – steht der Sport – speziell auch der Berliner Sport – vor dem Untergang oder hält er sich wacker über Wasser?

Härtel: „Wir halten uns tapfer, sind nicht am Untergehen. Natürlich sind die Einschränkungen für viele Vereine bitter, weil sie ihren Mitgliedern den gewohnten Sport nicht anbieten können. Der LSB kann aber die Belastungen – besonders auch die finanziellen – der Vereine dank des Rettungsschirms abfedern, den der Senat aufgespannt hat. Für diese Hilfen sind die Vereine dankbar.“

In den meisten Bundesländern, die so etwas wie einen Coronafonds für den Sport eingerichtet haben, sind immer noch Mittel im Topf. Auch in Berlin. 300 Anträge gingen beim LSB ein, von den sechs zur Verfügung stehenden Millionen Euro wurden bisher zwei Millionen ausgegeben.

Härtel: „Es bleibt aber festzustellen: Je länger die Einschränkungen dauern, um so mehr Unterstützungsanfragen werden kommen. Denn bislang war es so, dass die Vereine von ihren Mitgliedern nach wie vor unterstützt worden sind, indem sie ihrem Verein die Treue gehalten haben. Diese Solidarität zeichnet den Sport auch aus. Aber wird das dauerhaft so bleiben? Deshalb sehe ich mit Sorge Richtung Jahresende. Da werden manche überlegen, wie lange sie kein Vereinsangebot nutzen konnten, und ziehen das Fazit: Solange die Angebote nicht wieder hochgefahren werden können, lasse ich meine Mitgliedschaft ruhen oder trete aus. Was dann natürlich zu einer weiteren finanziellen Belastung der Vereine führen wird.“

Mehr Zulauf?

Mitgliederfluktuation ist in Vereinen ja nichts Außergewöhnliches: Fünf bis zehn Prozent treten jährlich im Schnitt in kleineren Vereinen aus, 15 Prozent in Großsportvereinen. Diese Austritte sind bisher durch Eintritte ausgeglichen worden. Das ist vermutlich jetzt nicht so, weil ja momentan nichts richtig läuft. Aber: Wenn die Menschen jetzt ihr sportliches Leben aus Bewegung, Geselligkeit und Miteinander vermissen, könnte es nicht sein, dass die Vereine dann nach Corona einen hohen Zulauf haben? Um es mit dem Dichter Joachim Ringelnatz zu sagen:

Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine,

Kürzt die öde Zeit,

Und er schützt uns durch Vereine

Vor der Einsamkeit….“

Geschickte Werbung jetzt – mehr Mitglieder als Lohn, was aber auch mehr Belastungen bedeuten könnte.

Härtel: „Nicht nur Mitglieder, sondern auch diejenigen, die nicht im Verein sind, merken, dass ihnen etwas fehlt. Deshalb hoffen wir ja auch, dass wir mit unseren Angeboten zeigen können, wie wichtig es ist, sich gemeinsam zu bewegen, gemeinsam Erfahrungen zu sammeln. Und sich auszutauschen. Das schafft der Sport. Und damit wollen wir auch werben.

Im LSB bereiten wir uns darauf vor, wie wir nach der Coronakrise Vereine unterstützen können, damit Mitglieder wieder zurückkommen. Und wie diejenigen, die jetzt Erfahrungen mit in der Pandemie eher individuellen Sport-und Bewegungsaktivitäten gemacht haben, motiviert werden, in einen Verein einzutreten.

In Zukunft werden wir auch im Sport zusätzliche Belastungen haben. Auch wenn der Impfstoff da ist, ist die Krise noch nicht vorbei und wird uns sicher das nächste Jahr weiterhin beschäftigen. Das heißt: Es wird weiter Auflagen geben, etwa die Hygienekonzepte, an die wir uns halten müssen. Und wir müssen alles tun, dass unsere Mitglieder sehen, dass Gesundheitsschutz vor allem anderen steht. Und sie sich deshalb ohne Bedenken in einem geschützten Raum sportlich betätigen können, wo Übungsleiter und Übungsleiterinnen dafür sorgen, dass entsprechende Hygieneauflagen eingehalten werden.“

In dem Zusammenhang: Gibt es eine Statistik über Coronafälle in Berliner Vereinen?

Härtel: „Es gibt auch Coronafälle im Sport – außerhalb von Profifußball und anderen Profiligen. Wir haben etwa 20 bekannt gewordene Fälle. Was wir aber sagen können, ist, dass der Vereins-Sport zum bisherigen Infektionsgeschehen nicht beigetragen hat. Nach unseren Erkenntnissen sind Infektionen von außen hereingetragen worden.“

Schule und Sport

Wo sind Ansteckungs-Hotspots? Da gibt es ja auch zum Thema Schule unterschiedliche Meinungen. Kinder, Schule, Sport. Tragen Schüler und Schülerinnen zum Infektionsgeschehen bei, weil sie viele soziale Kontakte über die Schule hinaus haben – eben auch in Vereinen? Ist deshalb das Sportverbot in manchen Bundesländern die logische Folge? Und muss Sportunterricht nicht zwingend ausfallen, wenn man schon mit der Organisation des anderen Unterrichts überfordert ist und Probleme etwa in Sachen Abstand hat?

Härtel: „Wir sind ja erstmal froh darüber, dass Schule überhaupt stattfinden kann. Man muss schon sehen, welche negativen Auswirkungen dauerhaft ausfallender Unterricht hat. Insofern müssen wir alle Schutzmaßnahmen treffen, damit die Ansteckungsgefahr eingedämmt wird. Sportunterricht und auch sportliche Bewegung kann in der Schule trotzdem stattfinden. Entsprechende Regeln und kleine, feste Unterrichtsgruppen sind Voraussetzung. Und ein entsprechendes Bewegungsangebot. Das ist sicher eine ziemliche Herausforderung für die Gestaltung von Unterricht, die Vielfalt wird mit Sicherheit eingeschränkt sein. Wir sind froh, dass es die sportlichen Angebote in der Schule weiter gibt – zumindest in Berlin.“

Bewegungspausen und lüften

Praktisch gesehen gibt es derzeit wenig bis gar keinen Sportunterricht. Nicht weil man nicht will, sondern weil man oft nicht kann – Turnhallen werden als Klassenräume umfunktioniert, und da müssen Barren, Reck, Bock, Kasten, Keulen und Volleyballnetz im Geräteraum bleiben.

Momentan hat man ohnehin den Eindruck, der Schulbetrieb besteht hauptsächlich aus Lüften. Also könnte man Quer- oder Stoßlüften nicht mit Bewegungskreativität bereichern? Wie wären Bewegungspausen auf dem Schulhof bei gleichzeitigem Lüften im Klassenzimmer nach Unterrichtseinheiten als alternativer, entspannender und aufwärmender Sportunterrichts-Ersatz?

Härtel: „Bewegungspausen hatten wir schon im Frühjahr beim Lockdown in enger Kooperation mit der Bildungsverwaltung über unsere Vereine und über die Sportjugend angeboten. Auch jetzt können wir damit Lehrerinnen und Lehrer unterstützen. Natürlich geht Sport jetzt nicht nach Unterrichtsplan, aber man kann Bewegung in den Schulalltag bringen und damit zur Entspannung der Lage beitragen. “

Entspannung: Es gibt ja über die Schule hinaus Sportangebote von Vereinen. Manche Übungsleiter gehen in die Nachbarschaft, bieten Sport in Parks oder auf Hinterhöfen an. Wenn Leute auf dem Balkon Gymnastik machen, dann können sie ja auch gegen Depressionen und Aggressionen, Müdigkeit und Einsamkeit etwas tun.

Härtel: „Zunächst: Über die Kooperationen zwischen Verein und Schule hinaus, sind zum Beispiel – auch ohne Vereinsbetrieb – ÜbungsleiterInnen für ihre Mitglieder und Nachbarschaft da – und halten sie in Bewegung. Wir sind der Senatsverwaltung dankbar, dass Kinder bis zu zwölf Jahren in Gruppen bis zu zehn draußen Sport machen dürfen. Das ist ein wichtiges Zeichen. Es versteht aber keiner, warum man nicht bis 18 Jahre gehen könnte – dann hätte man alle Schulpflichtigen am Ball. Und auch nicht nachvollziehbar ist, dass in einer Sporthalle bis 16 Uhr Sport stattfinden kann, aber danach nicht mehr.“

Ganzheitliches Denken

Der LSB-Präsident, der selbst als Staatssekretär in der Senatsverwaltung erst für Bildung, Jugend und Sport, später für Inneres und Sport tätig war, ärgert sich manchmal über mangelndes „ganzheitliches Denken“ bei politischen Entscheidungen.

Härtel: „Sport ist systemrelevant. Wenn ein Verein eine feste Gruppe von qualifizierten Übungsleitern und Übungsleiterinnen hat und sie auch durch das Ehrenamt oder Hauptamt angemessen gewürdigt, begleitet und unterstützt werden, dann setzt das auch kreative Kräfte und Engagement frei. Wenn wir über Zukunft reden, etwa wenn es um die Gestaltung von Sportstätten, Veranstaltungen etc. geht, dann müssen wir an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden und uns als Sport auch einbringen.“

Einbringen

Stichwort einbringen: Es fällt schon auf, dass der Sport – sieht man mal von den Extrawürsten für die Profifußballer ab – in der Krise nun auf der Prioritätenliste im hinteren Drittel zu finden ist. Im Gesundheitsausschuss des Bundestages werden zum Thema Corona Verbände und Vereine zu einer öffentlichen Anhörung eingeladen – der Sport nicht. Der gibt erst am Tag der Anhörung eine Stellungnahme ab. Fällt der Dachorganisation DOSB jetzt das auf die Füße, was in den letzten 14 Jahren versäumt wurde, nämlich dass der Breitensport zweitrangig behandelt wurde, weil man sich hauptsächlich um den olympischen Spitzensport kümmerte? Da rettet auch nicht das Ausrufen eines „Jahrzehnts der Sportentwicklung“ durch DOSB-Präsidenten Alfons Hörmann vor dem Sturz in die gesamtgesellschaftliche Bedeutungslosigkeit.

Härtel: „In der Tat fällt uns nun auf die Füße, dass der Sport in seiner ganzen Breite in der Gesellschaft nicht die Beachtung gefunden hat, die er verdient. Wir müssen das künftig viel deutlicher machen. Wenn also ein „Jahrzehnt der Sportentwicklung“ vom DOSB proklamiert wird, dann müssen wir das unterfüttern und auch begreifen, dass der Sport ressortübergreifend stärkere Beachtung finden muss. Und er selbst seine Aufgaben erledigt.

Bei vielen politischen Entscheidungen wird der Sport nicht mitgedacht, weil vielen dessen gesellschaftlicher Beitrag gar nicht bewusst ist. Das muss sich ändern. Wenn der Gesundheitsausschuss des Bundestages über die Corona-Krise mit Verbänden berät und der Sport nicht dabei ist, dann läuft was verkehrt. Da mache ich den PolitikerInnen den Vorwurf, den Sport nur bei Sonntagsreden im Blick zu haben. Aber ich mache auch unserer Dachorganisation den Vorwurf, dass wir nicht – sportlich ausgedrückt – sehen, wo wir reingrätschen müssen. Auch hier gilt der olympische Satz in etwas abgewandelter Form: Da muss man dabei sein, wenn man ernst genommen werden will.“

Nicht auf dem Schirm

Nochmals die Frage: Breitensport lief im DOSB in den letzten Jahren – auch zum Leidwesen der MitarbeiterInnen – immer eher unter ferner liefen. Da waren die Landessportbünde aktiv. Sehr bemerkenswert ist ja, dass der DOSB plötzlich wieder die Vereine entdeckt, die überhaupt keine Rolle gespielt haben, es sei denn, wenn man sich mit der Zahl 90 000 brüsten wollte. Wer sich gesamtgesellschaftlich nicht zu Wort meldet, auch bei Themen wie Gesundheit oder Umwelt, der muss sich doch nicht wundern, wenn ihn keiner auf dem Schirm hat.

Härtel: „Stimmt. Auch wir müssen hier im LSB selbstkritisch sein. Wir sind im Landessportbund gerade in einer Diskussion über eine Stärkung der Vereine. Das schlägt sich nun in einer Satzungsänderung nieder, die impliziert, dass die Vereine im LSB Direktmitglied sind, und sie auch über die Bezirkssportbünde ein Stimmrecht erhalten. Und die Vereine haben ein Anwesenheits- und Rederecht in unserer Mitgliederversammlung. In der Coronakrise haben wir mit dem eigens eingerichteten Büro für Coronafragen wieder festgestellt, wie wichtig der direkte Zugang zu Vereinen ist und wie wichtig es für diese ist, eine direkte Ansprache zu haben.“

Appell verpufft

Überraschenderweise haben die LSB und der DOSB es geschafft, zusammen einen Brief an die Ministerpräsidentenkonferenz zu verfassen, in dem sie nochmal unterstreichen, dass sie „Sporttreiben nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Pandemiebekämpfung“ verstehen. Am 26. Oktober hatten Bund und Länder schon entschieden, wie es weitergeht, am 9. November erst kam das Schreiben. Reaktion statt Vorausschau – in diesem Fall verpufft der Appell, in dem auch nur Selbstverständlichkeiten stehen. Verspäteter Aktionismus?

Härtel: „Was uns selbstverständlich erscheint, ist ja für andere nicht unbedingt selbstverständlich. Was mir Sorgen macht: Wir sind nicht kampagnenfähig, um unsere Anliegen oder Leistungen richtig in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Und wir sind ja auch nicht diejenigen, die auf die Straße gehen – unter den jetzigen Bedingungen schon gar nicht.“

Die banale Weisheit „Ohne Breite keine Spitze“ wird ja gerne in Fensterreden verwendet. Mittlerweile hat man oft den Eindruck, dass die Dachorganisation seit der Fusion von NOK und DSB aber gerade da falsche Schlussfolgerungen zieht und Signale setzt. Zum Beispiel ist die Nachfolge von Karin Fehres, Vorstand Sportentwicklung, die am 30. November ausscheidet, bisher nicht geklärt. Es ist auch die Rede davon, dass man Breitensport nur noch als Abteilung haben möchte.

Härtel: „Erstmal:Die Fusion war richtig. Und auch wenn es abgedroschen klingt – es gibt keinen Spitzensport ohne Breitensport. Das sind die beiden Säulen des deutschen Sports. Ich halte die immer wiederkehrenden Überlegungen, den Spitzensport in eine besondere rechtliche Form zu überführen, für falsch. Je mehr man beide Bereiche voneinander auch organisatorisch abnabelt, desto schwieriger wird die gesamte Sportentwicklung. Deshalb kann man nicht ein Jahrzehnt der Sportentwicklung ausrufen. Was heißt das denn? Folgt dann wieder das Jahrzehnt des Spitzensports? Die Gemeinsamkeit des Sports muss sichtbar sein, das Gleichgewicht. Deshalb sind wir Landessportbünde jetzt auch am Ball, dass die Nachfolge von Frau Fehres zügig geregelt wird. Und Überlegungen, den Breitensport als Abteilung runterzustufen, sind hoffentlich vom Tisch. Was wäre das für ein fatales Signal gerade jetzt.“

Der Ton ist aggressiver

Apropos Signal: Ehrenamtler werden ja gerade in diesen Krisenzeiten gefeiert – ohne sie wäre vieles nicht machbar. Und deprimierender. Aber sie müssen sich viel anhören. Ist das im Sport auch so?

Härtel: „Leider lassen uneinsichtige Sportler und Sportlerinnen ihren Unmut nicht selten am Platzwart aus, wenn das Spielfeld oder die Laufbahn gesperrt sind. Oder Übungsleiter und andere Ehrenamtliche werden beschimpft, wenn sie auf Hygieneregeln hinweisen, die es einzuhalten gilt. Der Ton ist aggressiver geworden. Auch hier ist so eine diffuse Unzufriedenheit zu bemerken, wie sie einem auf der Straße begegnet.“

Das gehört hoffentlich bald der Vergangenheit an. Wann also werden wir wieder im Verein Sport treiben können? Und: Wird es Olympische Spiele geben? „Ich hoffe, dass wir im Frühjahr zur Normalität mit Einschränkungen zurückkehren können. Wie gesagt – die Impfung entbindet uns nicht gleich von der Einhaltung von Regeln. Die Olympischen Spiele wird man nicht mehr verschieben. Wenn sie denn stattfinden, ist es eine Frage, was für Spiele das sein werden.“