Julia Stepanowa mit dem Preis der Doping-Opfer-Hilfe ausgezeichnet / Weiterer DOSB-Fauxpas
Berlin, 6. Dezember. Es waren viele gekommen, um ihr Respekt zu zollen. Für ihren Mut und ihre Bereitschaft, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen – für einen Sport, den sie offensichtlich noch immer nicht aufgeben kann, obwohl sie von verantwortlichen FunktionärInnen belogen und betrogen wurde. In Zeiten wie diesen, in denen der Weltsport gerade den Bach – im wahrsten Sinne des Namensträgers – in atemberaubender Geschwindigkeit hinuntergespült wird – hätte der Deutsche Doping-Opferhilfe-Verein (DOH) keine bessere Preisträgerin für die Heidi-Krieger-Medaille aussuchen können als Julia Stepanowa. Der DOH zeichnet mit diesem erstmals mit 10.000 Euro dotierten Preis Persönlichkeiten aus, die sich für dopingfreien Sport einsetzen.
Und nun wurde der russischen Läuferin auch diese Ehrung verhagelt: Wegen Sicherheitsbedenken und weil derzeit ihr Aufenthaltsstatus in den USA nicht klar ist, verzichteten die russische Läuferin und ihr Mann Witali darauf, nach Berlin zu kommen. So war sie per Video zugeschaltet und verfolgte morgens um drei Uhr ihrer Zeit, etwas übernächtigt zusammen mit ihrem Mann die Preisverleihung.
Moralische Siegerin
Die Stepanows haben mit ihren Enthüllungen über das systematische Doping in der russischen Leichtathletik den krisengeschüttelten Weltsport und das skandalträchtige Internationale Olympische Komitee (IOC), allen voran dessen Präsident Thomas Bach, noch heftiger ins Schleudern gebracht.
„Wenn sich Menschen treffen, die den Sport lieben und seine Helden feiern wollen, dann geht es für gewöhnlich um Sieg, um Freude am Erfolg, um Belohnung und Anerkennung für Leistung. Mit Julia Stepanowa ist heute eine Siegerin unter uns, zumindest eine moralische Siegerin“, sagte der ehemalige Präsident des Deutschen Tischtennisbundes und Ex-Sporthilfe-Chef Wilhelm Gäb zu Beginn seiner Laudatio (vollständiger Wortlaut im Anhang). Und rechnete mit den heuchelnden „Null-Toleranz-Predigern“ im internationalen und nationalen Sport ab. „Anlass und Thema dieses Tages aber führen uns zwangsläufig auch in die Dunkelheit des Sports – dahin, wo anstelle von Fairness und gleichen Regeln für alle die Gier nach Macht, nach Erfolg, Geld und nationalistischem Triumph vorherrschen, wo Sieg um jeden Preis die Parole ist. Und diese Veranstaltung der Doping-Opfer-Hilfe ist auch nicht zu trennen von den dunklen Schicksalen jener kranken und geschädigten Athleten, die durch die kriminellen Doping-Methoden des DDR-Regimes um Gesundheit und Leben betrogen wurden.“
Was für ein Leben?
Während der Laudatio hörten die Preisträgerin und ihr Mann mit unbewegter Miene zu. Was ging den beiden wohl durch den Kopf? Sie sitzen nun mit ihrem kleinen Sohn vor einer ungewissen Zukunft in einem fremden Land, beherrschen die Sprache nicht, werden offensichtlich überwacht und müssen um ihr Leben fürchten. Neun Mal sind sie in den letzten eineinhalb Jahren umgezogen. Zuhause gelten sie als Verräter und Staatsfeinde. Mit Verwandten und Freunden nehmen sie keinen Kontakt auf, um diese nicht zu gefährden. Ihre E-Mails wurden (werden?) gelesen. Und Unbekannte hatten den Server der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) gehackt, um ihren Aufenthaltsort herauszufinden .Und das alles unter den Augen der Sportfamilie, die ja so gerne auf Solidarität, Teamgeist und Zusammenhalt setzt.
Der Satz „Ein Leben für den Sport“ hat da eine völlig neue Dimension. Und man fragt: Was ist das für ein Leben für eine junge Familie!? „Wir versuchen, nicht daran zu denken, dass wir verfolgt werden. Dort wo wir leben, interessiert sich niemand für uns. Daher fühlen wir uns sicher“, sagt die 30-Jährige, die trotz allem alles wieder so machen würde. „Ich bereue nichts. Mit der Zeit bin ich immer überzeugter, dass wir das Richtige getan haben.“ Eine Whistleblowerin ist Julia Stepanowa, aber das reicht nicht, um ihren mutigen Lauf gegen eine verlogene internationale Sportmafia zu beschreiben. Eher passt da das Wort Revolutionärin.
Wichtig war die Wahrheit
Schmerzt es noch, wird sie gefragt, dass sie in Rio nicht starten durfte? „Das Nein hat geschmerzt. Aber ich mache trotzdem weiter.“ Und Witali ergänzt: „Wichtig war, dass Julia und ich die Wahrheit gesagt haben. Das andere ist Vergangenheit. Wir versuchen nach vorne zu schauen.“ Die Enthüllungen hatten zur Folge, dass der russische Leichtathletik-Verband RUSADA von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen wurde. Das IOC verweigerte der 800m-Läuferin die Teilnahme als neutrale Athletin, da sie als ehemalige Dopingsünderin „nicht die ethischen Anforderungen“ erfülle, so die Doppelmoralisten des Olymps. Denn was Julia nicht durfte, durften andere Sünder: starten. Dafür wurde Witali ein Berater-Vertrag vom IOC angeboten, was nun wieder den Argwohn weckt: Was bezweckt das IOC damit? Ob es in Russland mittlerweile im Sport einen Mentalitätswechsel gegeben habe, werden die beiden gefragt. „Ein klares Nein. Die Aussagen stammen von den Gründern des staatlichen Dopingsystems. Alles, was sie tun, ist, die Welt zu täuschen und Betrug zu vertuschen.“
DOSB fehlte
Es wäre sicher für die Führungscrew des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) lehrreich gewesen, die Ausführungen der Stepanows zu hören. Oder Hans Wilhelm Gäb, den man getrost den elder Statesman des deutschen Sports nennen kann. Der hielt nämlich mit seiner Laudatio eine Rede, die der DOSB-Präsident Alfons Hörmann am Samstag bei der Mitgliederversammlung in einigen Passagen wenigstens ansatzweise hätte halten müssen.
Aber der DOSB war nicht vertreten. Und zeigte wieder einmal, dass er offensichtlich aus den fatalen Ereignissen im letzten Jahr weder die richtigen Schlüsse zieht noch die richtigen Prioritäten setzt. „Es gibt Momente, da müsste ein deutscher Sportfunktionäre wissen, wo er hingehört“, sagte eine Teilnehmerin der Preisverleihung, selbst ein Opfer.
Noch dazu, wenn er gerade über eine Leistungssportreform diskutiert, wo Medaillen und Podiumsplätze das Mass aller Dinge sind. Auch wenn anderes behauptet wird. Herbert Fischer, Jahrzehnte lang als Journalist immer an der Seite der Opfer, die mahnende sportpolitische Stimme des Deutschlandfunks und DOH-Mitglied, machte sich auch an diesem Tag wieder für die Opfer stark, Opfer, die einen Weg finden müssen, um sich selbst zu befreien. „Dopingopfer und der DOH“, sagt er, „sind nach wie vor ein Ärgernis und Stachel im Fleisch des DOSB“.
Verantwortung übernommen
Der Dachverband hätte bei der Preisverleihung in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine weitere Gelegenheit gehabt, das Gegenteil zu beweisen. Andere haben ihre Verantwortung übernommen. Und sind vor Ort. Das Bundesinnenministerium (BMI) hat sich – im Gegensatz zum DOSB – finanziell mit 10,5 Millionen Euro für die Dopingopfer engagiert und ist durch Ulrike Baas vertreten. Andrea Gotzmann, Vorsitzende der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA) weiß, das sie durch ihre Anwesenheit das richtige Signal setzt. Ebenso wie Marianne Birthler, die als ehemalige Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde viel über die Schicksale von Dopingopfern erfahren musste. Und da ist Friede Springer. Die Verlegerin ließ sich nicht lange bitten, diese Veranstaltung und den DOH-Verein zu unterstützen. Sie zeigt Empathie, die anderen fehlt.
Das Verhältnis DOSB-DOH ist schon seit Jahren ein Unverhältnis. Dopingopfer, das ist eine lästige Angelegenheit, die in den hochglanzpolierten Spitzensport der DOSB-Macher nicht passt. „Wer spielt schon gern mit Schmuddelkindern, geschweige denn, dass er sich um sie kümmert?“ Die DOH-Vorsitzende Ines Geipel, die mit ungeheuerem Engagement und Einsatz wirbelt, wird vom DOSB eher attackiert denn unterstützt. Also wundert man sich nicht über den neuerlichen Fauxpas, den sich der Dachverband an diesem Nikolaustag leistet. Er schickt eine Mail. Vorstandsvorsitzender Michael Vesper schreibt um 16.12 Uhr – nachdem die Preisverleihung schon lange vorbei ist – an die DOH-Vorsitzende: „Liebe Frau Geipel, wie ich soeben festgestellt habe, ist der DOSB bei der heutigen Veranstaltung des Dopingopferhilfevereins zur Verleihung des Antidoping-Preises des DOH 2016 an Frau Julia Stepanowa nicht vertreten gewesen. Aufgrund der recht kurzfristigen Einladung waren weder Herr Hörmann noch ich in der Lage, den Termin wahrzunehmen, was wir ansonsten sehr gern getan hätten“ schreibt Vesper. Vizepräsident Abel, dem der Termin übertragen worden war, sei kurzfristig verhindert gewesen, heißt es weiter. Und: „Mir tut es sehr leid, und es liegt uns daran zu betonen, dass wir selbstverständlich beabsichtigt haben, bei ihrer Veranstaltung hochrangig vertreten zu sein“. Ja – und das Einhorn ist kein Fabelwesen!
Rechtzeitig eingeladen
Am 12. November – also über drei Wochen vorher – hatte Ines Geipel die Einladungen an Hörmann, Vesper, Pressemann Michael Schirp und den Berliner DOSB-Vertreter Christian Sachs geschickt. Und nur Sachs hat am 21. November per Mail reagiert: „Liebe Frau Geipel, danke für die Einladung. Leider bin ich am 6. Dezember in Darmstadt und kann nicht zur Preisverleihung kommen. Wir diskutieren gerade noch die Vertretung durch den DOSB…“ Am 30. November fragte der DOH noch einmal bei Sachs nach, wer denn kommt… Keine Reaktion.
Nachdenklich
Bei der Preisverleihung waren auch SchülerInnen der Berliner Poelchau-Schule – einer Eliteschule des Sports. Darunter vielleicht potentielle Olympiakandidaten. Sie setzen sich mit dem Thema Doping und die Folgen – gerade im Hinblick auf die deutsche Doping-Vergangenheit (die es ja nicht nur in der DDR gibt) – auseinander und waren sehr nachdenklich über das, was sie da nicht nur von den Stepanows zu hören bekamen. Die nächste Generation der „mündigen Athleten“ wird deshalb vermutlich nicht mehr so leicht zu bändigen sein, wie das Gros der jetzigen. Denn sie wissen: Ohne uns geht nichts – keine Spiele, keine Weltmeisterschaft, keine Ligen. Wenn SportlerInnen streiken, nicht mehr alles mit sich machen lassen und hinnehmen, sehen Funktionäre alt aus. Olympianachwuchs im Rebelliermodus – der kann gefährlicher sein für die Geschäftemacher als alles andere in der internationalen und nationalen Sportfamilie. Wie auch das Beispiel der Preisträgerin zeigt.
„Der Athlet steht im Mittelpunkt.“ Das sei das zentrale Motto der Leistungssportreform, hat Hörmann in der Vergangenheit immer wieder betont und sich zum „Sachwalter“ der SportlerInnen ernannt. AthletInnen sind aber derzeit für den DOSB und seine Führungscrew nur unter der Maßgabe interessant, Medaillen zu holen. Nicht dann, wenn sie Opfer eines Systems geworden sind.
Und hier die Laudatio von Hans Wilhelm Gäb:
Preis-Verleihung der Doping-Opfer-Hilfe an Julia Stepanowa
Meine Damen und Herren,
wenn sich Menschen treffen, die den Sport lieben und seine Helden feiern wollen, dann geht es für gewöhnlich um Sieg, um Freude am Erfolg, um Belohnung und Anerkennung für Leistung.
Mit Julia Stepanowa ist heute eine Siegerin unter uns, zumindest eine moralische Siegerin.
Anlass und Thema dieses Tages aber führen uns zwangsläufig auch in die Dunkelheit des Sports – dahin, wo anstelle von Fairness und gleichen Regeln für alle die Gier nach Macht, nach Erfolg, Geld und nationalistischem Triumph vorherrschen, wo Sieg um jeden Preis die Parole ist.
Und diese Veranstaltung der Doping-Opfer-Hilfe ist auch nicht zu trennen von den dunklen Schicksalen jener kranken und geschädigten Athleten, die durch die kriminellen Doping-Methoden des DDR-Regimes um Gesundheit und Leben betrogen wurden.
Jener Athleten, um deren Unterstützung Ines Geipel und die Doping-Opfer-Hilfe verzweifelt kämpfen,
Jener Athleten, für die ernsthaft und beständig Verantwortung zu übernehmen, die Bundesrepublik und ihr DOSB nicht den Willen und die Kraft aufgebracht haben.
Es ist dies aber eben auch ein Tag, an dem Haltung und Tat eines einzelnen Menschen die Dunkelheit erhellen, all den Millionen Mut und Motivation geben, die den Sport als ein Spielfeld bewahren wollen, auf dem sich Kampf und Wettstreit mit den Prinzipien von Anstand und Menschlichkeit verbinden können.
Liebe Julia Stepanowa, lieber Witali Stepanow, auch ich begrüße Sie herzlich. Es ist mir eine Ehre, heute Ihr Verhalten und Ihren Mut zu ehren und zudem über Sie und über die nun mit Ihrem Namen verbundenen sportpolitischen Ereignisse zu sprechen.
Die Verleihung des Anti-Doping-Preises durch die Doping-Opfer-Hilfe findet in einer Zeit statt, in der schmerzhaft klar geworden ist, dass sich der Lebensbereich Sport auf seinen höchsten Leistungs- und Führungs-Ebenen den Moralvorstellungen und dem „Der Zweck heiligt die Mittel“-Denken von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft völlig angepasst hat.
Frau Stepanowa hat in einem Interview gesagt, das Ziel Russlands sei es, größer und besser zu sein als jedes andere Land auf der Welt und – ob Präsident, Ministerien oder die russische Antidoping-Agentur – alle wüssten, dass Medaillengewinne das oberste Ziel im Sport seien.
Um dieses Ziel zu erreichen, wurde nach den Feststellungen der McLaren-Kommission in Russland staatlich beaufsichtigt gedopt, sind tausende von Dopingproben zerstört oder gefälscht worden, sorgfältig organisiert und unter dem Schutz von Polizei und Behörden.
Im Drama um die Doping-Affairen, welche während der Spiele in Rio die ganze Welt beschäftigt haben, geht es für mich aber nicht um Kritik an den Verhaltensweisen einer einzelnen Nation. Ich glaube nicht, dass Russland allein dasteht. Autoritär geführte Nationen und Diktaturen in aller Welt haben seit jeher Lüge und Betrug als legitime Mittel zum Machterhalt und Machtausbau angesehen, eben auch im Sport.
Gerade hier in Berlin, Frau Stepanowa, hat das Regime der deutschen DDR vor noch nicht allzu langer Zeit vorgeführt, dass die Einhaltung moralischer Massstäbe im Sport von undemokratischen Systemen einfach nicht zu erwarten ist.
Und wir haben selbst in der demokratischen Bundesrepublik, wo wir uns viele Jahre als Hüter der Moral gefühlt haben, erkennen müssen, dass wir steinewerfend im Glashaus sassen. Die Vorgänge in Freiburg und anderswo haben es gezeigt.
Politische Systeme werden und können nicht für Sauberkeit und Integrität des Sports sorgen. Der Sport selbst muss es tun, wenn er als ein respektierter, privilegierter, von der Gesellschaft akzeptierter und aus öffentlichen Mitteln unterstützter Lebensbereich überleben will.
Die Geschichte von Julia Stepanowa ist durch die Recherchen des ARD-Journalisten Hajo Seppelt und später durch viele Interviews des Ehepaares Stepanowa und anderer russischer Insider weltbekannt geworden.
Professor McLaren und seine Kommission, die für das IOC das Staatsdoping in Russland untersuchten, empfahlen nach Prüfung der Unterlagen , Russland von den Olympischen Spielen auszuschliessen.
Die „Null-Toleranz bei Doping“-Rufer vom Auftraggeber IOC aber hatten andere Prioritäten.
Wie fing alles an?
Die Sportlerin und 800m-Läuferin Julia Stepanowa war ehrgeizig, wie viele tausend und abertausende Athleten in aller Welt wollte sie besser werden, wollte gewinnen, und ihr wurde im russischen Sportsystem dann beigebracht, wie man besser wird. Durch Doping.
Als sie bei Junioren-Meisterschaften fünfzehn Sekunden langsamer war als die Besten über 800 Meter, da sagte man ihr, überall in der Welt nähmen erfolgreiche Athleten verbotene Mittel und wenn sie siegen wolle, müsse sie mitmachen.
Julia Stepanowa machte mit wie viele andere. Man sagte ihr, das Verfahren sei vor Aufdeckung absolut sicher, befolge man die Anweisungen der Funktionäre und Trainer. Frau Stepanowa startete in der russischen Nationalmannschaft, wurde von hochrangigen Funktionären, Medizinern und Trainern des Russischen Verbandes beraten und in den Betrug eingewiesen, befolgte alle Vorgaben, wurde aber dennoch bei einem Test der WADA auffällig und 2013 wegen abnormaler Blutwerte gesperrt.
Sie gab die Einnahme von EPO zu, das ihr der russische Nationaltrainer persönlich besorgte und das sie nach den Anweisungen von Dr. Portugalow, dem Chef der medizinischen Kommission des russischen Verbandes, eingenommen hatte.
Ich zitiere aus einem zur Veröffentlichung autorisierten Gespräch, das Michael Reinsch von der FAZ mit Julia Stepanowa geführt hat und das im Dezember 2014 publiziert wurde.
Reinsch fragte: Wann hat sich Ihre Haltung zum Doping verändert?
„Wenn man hört, dieses System existiere auf der ganzen Welt, glaubt man, dass man mitmachen muss. Als ich Portugalow darauf ansprach, sagte er, wenn du tust, was ich sage, wirst du nie erwischt werden.“
„Anfang 2013 rief Melnikow an, der Nationaltrainer. Wir haben hier ein Papier, sagte er, da steht, dass du gesperrt bist wegen der Werte in deinem Blutpass. Ich sage: Das ist unmöglich. Ich habe genau das getan, was ihr gesagt habt. Und ihr, die ihr mich in die Situation gebracht habt, arbeitet weiter? Ist passiert, sagte er, tut uns leid, unterschreib halt und entspann für zwei Jahre!“
Es war der Zeitpunkt, an dem Julia ihr eigenes Verhalten überprüfte und über die Dimensionen des Betrugs und auch die menschenverachtenden Handlungsweisen ihrer Funktionäre zu grübeln begann.
Sie hatte erkannt und formulierte es im Gespräch mit Hajo Seppelt:
„Das wird den Trainern eingehämmert und die Trainer hämmern es den Athleten ein. Die Athleten denken deshalb gar nicht, wenn sie verbotene Präparate einnehmen, dass sie etwas Unrechtes tun.“ Und weiter: „Die Trainer nehmen ein beliebiges Mädchen, füttern sie mit Tabletten und sie läuft dann. Und morgen wird sie gesperrt und dann sagen sie, wir finden ein neues. Sie füttern sie und sagen: ‚Ja, nehmt das, alle nehmen das. Nimm diese Substanzen.’ Und wenn einer erwischt wird, schmeißen sie den Sportler weg und nehmen einen neuen.“
Zusammen mit ihrem Mann Witali, der für die RUSADA, die russische Antidoping-Agentur arbeitete, die Betrugssysteme dort kennen lernte und ein Dopinggegner war, wandten sie sich an die WADA, die World Anti Doping Agentur.
„Sie wollten natürlich wissen, wie der Betrug in Russland funktioniert. Wir haben ihnen die Wahrheit gesagt. Aber das waren nur Worte und keine Beweise. Das Erste, was die Leute von der Wada sagten, war: Sorgt dafür, dass ihr in Sicherheit seid. Doping ist Doping, aber schadet euch nicht selbst. Ich wusste, dass ich beweisen muss, was ich sage.“
Das war die Zeit, in der das Ehepaar Stepanowa begann, Beweise zu sammeln und aktiv zu beschaffen.
Sie fassten den Beschluss, die Situation öffentlich zu machen und sie filmten die Top-Funktionäre Melnikow und Portugalow, wie sie Ihnen Ratschläge und Dopingmittel gaben. Es waren erschütternde Beweise.
Nach Einblick in diese dokumentierten Abläufe und gesammelten Beweise erklärte der Präsident des russischen Verbandes, Walentin Balachnitschew, das seien alles Lügen und der Verband werde die Stepanowas verklagen.
Das war eine existentielle Drohung. Es war die Zeit, wo es kein Zurück mehr gab und wo Julia und Witali klar wurde, dass nur noch die internationale Presse und das IOC helfen konnten.
Die Stepanowas übergaben ihr Material Hajo Seppelt und standen der Presse außerhalb Russlands Rede und Antwort. Sie wurden damit zu Staatsfeinden und flohen mit ihrem kleinen Sohn ins Ausland.
Weil sie nicht länger lügen wollten, nahmen sie die Auseinandersetzung mit einer Weltmacht auf, opferten ihre Heimat, nahmen ein Leben in der Fremde auf sich, beständig konfrontiert mit Drohungen, die sie um ihr Leben fürchten liessen.
Aber sie führten dabei einen einzigartigen Kampf für Ehrlichkeit im Wettkampf und lieferten IOC und Öffentlichkeit den detaillierten Beweis für staatlich organisierten Betrug an allen anständigen Sportlern der Welt durch eine der wichtigsten Sportnationen der Welt.
Doch Julia Stepanowa wurde am Ende, wohlgemerkt, nach der Verbüßung ihrer Dopingsperre, vom IOC, dem vorgeblichen Bewahrer und Hüter des sauberen Weltsports, auf besondere Art belohnt.
Mit Demütigung, moralischer Verurteilung und Ausstoßung.
Bei der Eröffnungsfeier in Rio hatte der IOC-Präsident die olympischen Werte beschworen, pries sie sogar als Antwort auf die großen Krisen der Welt und die Probleme der Menschen.
Die Athleten rief er auf: „Achtet die Werte, dank derer die Olympischen Spiele so einzigartig sind. In dieser olympischen Welt gibt es nur ein weltumspannendes Recht für jedermann, in dieser olympischen Welt sind wir alle gleich.“
Mitglieder des IOC haben vor ihrer Aufnahme in das Gremium einen Eid abzulegen. Er lautet so:
„Der Ehre teilhaftig geworden, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees zu werden, und im Bewusstsein der Verantwortung, die mir diese Stellung auferlegt, verpflichte ich mich, mich nicht von politischen oder geschäftlichen Einflüssen und von rassischen oder religiösen Erwägungen leiten zu lassen.“
Auch Thomas Bach hat dieses Gelöbnis abgelegt. In Rio fand er einen Weg, die ureigene Verantwortung des IOC für eine Sanktionierung der Vorgänge in Russland auf die hilflosen Fachverbände abzuschieben. Er vermied so jegliche Bestrafung russischer Doper oder Doping-Unterstützer im Funktionärsamt.
Er setzte sich über die Aufforderung von 17 nationalen Anti-Doping-Agenturen hinweg, Russland in Rio nicht starten zu lassen. Aber er nutzte die vom IOC selbst kontrollierte sogenannte Ethik-Kommission und deren angebliche Empfehlung – diese Kommission hat nach der Charta kein Entscheidungs- sondern nur ein Vorschlags-Recht – , er nutzte sie, um Julia Stepanowa die ethische Qualifikation für einen Start bei den Olympics abzusprechen, während unter seinen Augen Doper anderer Länder, die ihre Strafe verbüsst hatten, starten durften.
In Deutschland assistierte DOSB-Präsident Alfons Hörmann in einem Interview des Deutschlandfunks. Er bot keine Tatsachen oder Sachargumente an, sondern übte sich in übler Nachrede und dunklen Andeutungen:
„Wer die Hintergründe kennt oder ansatzweise erfährt, wie die Ethik-Kommission-Befragung mit Stepanowa gelaufen ist, wie die Vergangenheit dieser Frau aussieht, der kann verstehen, dass eine Ethik-Kommission des IOC zu einer abschlägigen Entscheidung kommt.“
Auch er sprach irreführend von „Entscheidung“.
Meine Damen und Herren, der Welt ist klar geworden, dass sich in großen Sportverbänden Korruption, Geldgier und nackter Opportunismus eingeschlichen haben. Die Aufdeckung der kriminellen Systeme in der FIFA spätestens haben der ganzen Welt die Augen geöffnet.
Die Ereignisse in Rio aber haben in den freien Ländern der Welt zu einer nie dagewesenen, emotionalen und von Verachtung und Entsetzen geprägten Verurteilung der handelnden Personen geführt.
Denn wenige Tage vor der Entscheidung, den des System-Dopings überführten russischen Sport und seine Funktionäre ohne jede Sanktion zu lassen, wohl aber jene Julia Stepanowa zu bestrafen, die ihr Leben aufs Spiel setzte um den Doping-Lügen ein Ende zu bereiten, hatte Thomas Bach wörtlich erklärt:
„Die Ergebnisse des McLaren-Berichts zeigen einen erschreckenden und beispiellosen Angriff auf die Integrität des Sports und der Olympischen Spiele. Daher wird das IOC nicht zögern, die härtesten Sanktionen gegen jede beteiligte Person oder Organisation zu treffen.“
Die total entgegengesetzte Entscheidung des IOC nur drei Tage später war einer der Gründe dafür, dass sich über die Führer des Weltsports eine Flut von Hohn und Kritik ergoss. Nicht nur wegen der empörenden Entscheidungen, sondern auch in der Erkenntnis, dass die Idee des Sports nun von höchster Stelle mit Füßen getreten worden war.
„Bach hätte ein starkes Signal an alle Nationen senden können, die genauso dreist betrügen wie Russland. Aber er hat versagt. Als Anführer. Als Stimme für den sauberen Sport. Als jemand, der sein Wort hält“, schrieb die New York Times, und die Londoner Times kommentierte: „Es gab bereits einige beschämende Episoden in der langen Geschichte des IOC, aber keine war so feige wie die Entscheidung, Russland den Start bei den Olympischen Spielen in Rio zu erlauben.“
„Marca“ aus Spanien formulierte: „Das IOC hisst die Fahne Russlands!“
US TODAY, die größte Zeitung der USA, schrieb so: „Das IOC hat seine Seele verkauft. Schlimmer noch: Es hat all jene sauberen Athleten verkauft, die sich nach Rückendeckung in schwierigen Zeiten sehnen. Und mit ihnen gemeinsam auch die Frau, die mutig genug war, Russlands schmutzige Geheimnisse aufzudecken.“
„The Guardian“ in London: „Das IOC hinterlässt das ungute Gefühl, dass die vielleicht wichtigste Whistleblowerin in der Geschichte des Sports geopfert wurde, um Wladimir Putin zu besänftigen.“
„El Mundo“, Spanien: „Man kann sich vorstellen, welchem Druck das IOC ausgesetzt war, damit die russische Hymne bei den Spielen erklingt.“ Die spanische Zeitung berührt einen Kernpunkt der Probleme. Denn nach Rio stellt sich eine harte Frage:
Wie abhängig von politischer Macht und wirtschaftlichen Einflüssen muss ein IOC sein, dass es solche Entscheidungen vertritt und wenige Wochen später die Welt sogar vorbereitet auf die Möglichkeit olympischer Spiele in Katar, jenem Staat, der den Sport weltweit kauft und mit seinem Geld überrollt?
Meine Damen und Herren, hinter der weltweiten Empörung stehen aber nicht nur Empörung über die Urteile in Sachen Russland und Julia Stepanowa, sondern auch Trauer und Zorn darüber, dass das IOC, das sich selbst als die Hüterin der Prinzipien von Anstand, Fairplay und Sport ausgibt, die moralische Legitimation für diesen Anspruch nun so schamlos und auf so drastische Weise verwirkt.
Das IOC hat Respekt, Achtung und Autorität verloren, der Sport hat keine moralische Instanz mehr.
Nun ist die Empörung der internationalen Sportpresse und das Unverständnis von Sportfans in aller Welt eine Sache, das Verhalten der Sportführer in den Demokratien und ihre Spitzensport-Planungen eine andere.
Gerade auch in Deutschland.
Die deutsche Sportführung fügt sich kritiklos den Denkweisen und Vorstellungen ihres ehemaligen Chefs Thomas Bach, und DOSB-Präsident Hörmann hat seine Beschreibung der IOC-Entscheidungen als „fair und gerecht“ bis heute nicht zurückgenommen oder relativiert.
Und ausgerechnet in einer Zeit, in der der DOSB den Ansehensverlusten des Sports scheinbar ohne jedes Konzept gegenübersteht, hat er sich entschlossen, auf die Karte „Mehr Medaillen“ zu setzen. Er stärkt damit den Eindruck in der breiten Öffentlichkeit n, dass es im Sport vor allem um Siege und Erfolgszahlen geht.
Und um die Akquise von Steuergeldern, beides zu kaufen.
Eine bessere, transparentere und gerechtere Spitzensportförderung ist notwendig und seit Jahren überfällig, diese Reform aber mit der Überschrift zu versehen: Mehr Gold bei Olympia, das ist ein zweifelhafter Dienst am Sport.
Die Konzentration aller Anstrengungen und Fördergelder auf Medaillengewinne bei Olympischen Spielen folgt einem Denkmuster, das in der DDR weite Bereiche des Breitensports hat verkümmern lassen und in dem die Bedeutung des Breitensports als essenzielle Basis der Elite und als soziales Kapital für das Land vernachlässigt wird.
Die Investition von Steuergeldern in den Hochleistungssport ist nützlich, weil Athleten mit Haltung und Persönlichkeit – denken Sie an Namen wie Steffi Graf, Dirk Nowitzki, Boris Becker, Timo Boll oder Bernhard Langer – den Ruf Deutschlands weltweit positiv beeinflussen. Sie muss aber vor allem durch den Umstand politisch legitimiert werden, dass der Leistungssport der Wenigen den für die innere Stabilität des Landes entscheidend wichtigen Breitensport der Millionen in den rund 90.000 deutschen Sportvereinen beflügelt.
Diese Vereins- und Breitensport-Strukturen sind vermutlich die wichtigsten gesellschaftspolitischen Stabilisatoren in einer der Toleranz und dem Miteinander verpflichteten Republik. Diese Vereine stehen wie nichts anderes für soziales Miteinander und lebendige Kommunikation. Sie sind das stärkste Bollwerk gegen die Verachtung anderer Rassen und Kulturen, auch gegen die schleichende Selbstisolierung der Jugend und den Verlust an zwischenmenschlichen Kontakten, der durch ihre immer intensivere Beschäftigung mit Computern, Smartphones und der elektronischen Medienwelt beschleunigt wird.
Der DOSB aber, unter dessen Dach sich die Millionen des Breitensports versammeln, scheint nicht zu verstehen, wie er den Imageverfall des Sports stoppen kann, wo sein Kapital liegt und mit welchem Kapital er wuchern müsste, um seinen Ruf zu verbessern und in einem dem Spitzensport gegenüber immer kritischeren Umfeld die Forderung nach Steuergeld zu legitimieren.
Er erweckt den Eindruck, leider mit Unterstützung der Bundesregierung, die Jagd auf Medaillen sei ein Selbstzweck , forciert dadurch indirekt die unnatürliche Trennung von Spitzen- und Breitensport, gefährdet die Zukunftsfähigkeit von Sportarten, die gerade nicht medaillenträchtig sind, und erhöht am Ende den Druck auf die Athleten, die nun, auch im Interesse und zum finanziellen Überleben ihrer Fachverbände, gewinnen müssen, um politischen Erwartungen zu genügen.
Wird das die Versuchung zu dopen reduzieren?
Wird es die Geschicke der Bundesrepublik wirklich beeinflussen, ob Deutschland in einer olympischen Medaillen-Rangliste Dritter, Vierter oder Fünfter ist?
Der DOSB könnte mithelfen, die Prinzipien des Sports, nämlich den Wettkampf nach Regeln in Respekt vor dem anderen, als ein Leitbild für die ganze Gesellschaft zu beschreiben.
Er könnte, nein, er müsste zu einer Marke werden, die Werte transportiert.
Wenn man aber durch die heutige Sieg-Zahlen-Politik den Eindruck vermittelt, dass Medaillengewinne der letzte Sinn des Sports sind, dann stülpt man dem Millionenheer ganz normaler Amateur- und Wettkampfsportler auch das zwielichtige Image jener Sportarten über, deren Affairen die Medien beherrschen und die so das Bild des Sports immer mehr verdunkeln.
Gerade im Rückblick auf die deprimierenden Ereignisse in Rio werden wir also dafür kämpfen müssen, ein Bild des Sports zu erhalten, das seinen tatsächlichen Wert widerspiegelt und seine tatsächliche Bedeutung für ein positives soziales Miteinander in unserem Land.
Es wird Kraft kosten, diesen Weg zu gehen, und es wird die unbedingte Überzeugung erfordern, dass nur Respekt vor den Regeln, Fairplay und Anstand diesen Weg freimachen können.
Julia Stepanowa, nach Jahren des Irrtums, hat den Mut aufgebracht, hat diesen Weg beschritten.
Sie hat im Kampf gegen Schmutz und Betrug im Sport unter schwersten persönlichen Opfern ein weltweites Zeichen der Hoffnung gesetzt.
Frau Stepanowa, wir und die Welt des Sports haben Ihnen zu danken.