Sportwissenschaftler Thieme über die Probleme zwischen DOSB und BMI
Berlin, 25. März. Öffentlich zumindest hat sich die große Aufregung beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und seinen Mitgliedsverbänden erstmal gelegt. Der Entwurf des Sportfördergesetzes, den das Bundesministerium für Inneres und Heimat (BMI) am 1.März vorgelegt hat, löste ebenso Ärger und Empörung aus wie der Entwurf eines Sportentwicklungsplanes, den das BMI nach Kritik vor allem aus den Landessportbünden und Ländern zurückzog und nun überarbeiten will. Es stellen sich viele Fragen, wie es zwischen organisiertem Sport und Geldgeber Politik weitergehen wird.
Sportspitze sprach mit Sportwissenschaftler Lutz Thieme, Professor an der Hochschule Koblenz und ausgewiesener Experte in der Sportvereins und – verbandsforschung, darüber, warum sich BMI und DOSB immer wieder in die Haare geraten, über Blauäugigkeit und Vor- und Hinterbühnen.
Herr Professor Thieme, zwischen DOSB und BMI ging es ja in den letzten Jahren in sportpolitischen Auseinandersetzungen immer mal wieder hoch her. Nun eskalierte neuer Streit: Es geht um den im BMI vorgelegten und inzwischen zurückgezogenen Entwurf eines Sportentwicklungsplans und den Entwurf des Sportfördergesetzes. Wird es am Ende dieser Legislatur ein Gesetz geben? Und einen Entwicklungsplan?
Thieme: Das ist ein ambitionierter Zeitplan, der mit Skepsis zu betrachten ist. Wir haben in diesem Jahr die Fußball-EM im eigenen Land und die Olympischen Spiele in Paris. Viele Akteure im Sport und auch der Sportpolitik dürften von beiden Ereignissen so gebunden sein, dass ein schneller Prozess schwierig wird. Das parlamentarische Verfahren wird seine Zeit dauern, und das Ende der Legislaturperiode ist ja auch schon in Sicht, der Wahlkampf wird Fahrt aufnehmen. Zudem werden die deutschen Ergebnisse der Olympischen Spiele und auch der Fußball-EM, aber auch die Gastgeberrolle Deutschlands bzw. die Repräsentanz durch die Olympiamannschaft Einfluss auf den Diskussionsverlauf nehmen.
Hat Sie der neuerliche Streit überrascht? Worin sehen Sie die Hauptursachen, dass das BMI und der DOSB sich immer in die Haare geraten?
Thieme: Mich hat es schon ein wenig überrascht, da mir im Unterschied zu früheren Reformversuchen BMI und DOSB sowohl beim Sportentwicklungsplan als auch beim Sportfördergesetz als Kern der Leistungssportreform die wesentlichen Ausgangspunkte und Ziele zu teilen schienen. Im Laufe des Prozesses wurde aber immer klarer, dass man mit dem Gleichen nicht dasselbe meinen konnte und dass die jeweiligen institutionellen Restriktionen Handlungsgrenzen, also „rote Linien“ markieren, die eine inhaltliche Einigung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich machen würden.
War das nicht zu erwarten?
Thieme: In beiden Prozessen standen keine Analysen am Beginn des Prozesses. Es scheint mir nicht systematisch gefragt worden zu sein, warum eine Entwicklung so verlaufen ist, dass sie nunmehr oder weiterhin als Problem beschrieben wird und welche empirischen Daten dazu vorliegen. Es ist doch für eine künftige Konfiguration der Leistungssportsteuerung essenziell zu fragen, warum das zusätzliche Geld für den Leistungssport zu weniger Medaillen geführt hat.
Eine solche Analyse böte natürlich auch Hinweise, welche Stellschrauben mit welchen potenziellen Wirkungen überhaupt zur Verfügung stehen. Beispielsweise hat die zunehmende Konkurrenzsituation in einigen Sportarten durch Anstrengungen anderer Länder einen Einfluss auf die Erfolgswahrscheinlichkeit deutscher Athletinnen, Athleten oder Mannschaften, ohne dass dieser Faktor durch Entscheidungen im deutschen Leistungssportsystem beeinflusst werden kann.
Sie haben vor einiger Zeit bei einer Veranstaltung des Sportpolitischen Forums der Sporthochschule Köln einen interessanten Vortrag zum Thema Sportpolitik vor und hinter der Bühne gehalten. Da haben Sie beschrieben, wie es zu Entscheidungen der Protagonisten kommt.Was muss sich zwischen Politik und Sport aus Ihrer Sicht schleunigst ändern, um erfolgreich Projekte und Dinge umzusetzen?
Thieme: Die Metapher der Vorder- und Hinterbühne stammt vom Soziologen Erving Goffman und ist schon mehr als 60 Jahre alt. Auf der Vorderbühne läuft ein für das Publikum sichtbares Geschehen ab, welches von Akteuren aufgeführt wird, die sich bewusst sind, beobachtet zu werden. Die Hinterbühne ist nur für Eingeweihte einseh- oder betretbar. Hier ist die Bindung an eine Rolle geringer oder sogar aufgehoben, was Absprachen und Übereinkünfte erleichtert, die dann auf der Vorderbühne dem mitunter staunenden Publikum verkündet und bei Bedarf durch die Bündelung von Machtressourcen durchgesetzt werden.
Also alles nur Theater?
Thieme: Goffmans Metapher hat an Erklärungskraft verloren, weil die Vorbehalte gegenüber Hinterbühnen deutlich gewachsen sind, aber insbesondere die Durchsetzungsfähigkeit von Hinterbühnenabsprachen auf Vorderbühnen stark nachgelassen hat. Das hat in vielen gesellschaftlichen Bereichen und auch im Sport zur Etablierung partizipativer Verfahren geführt. Allerdings müssen die Ergebnisse solcher Verfahren immer wieder stabilisiert werden, weil selbst ein „Basta“ die Kritiker nicht verstummen lässt. Dies weiß der DOSB ebenso wie das BMI. Dennoch nehme ich nur sehr zaghafte Versuche wahr, den Diskursraum zu öffnen und zu erweitern sowie Beteiligungsformate zu erproben und zu etablieren, die nicht im Verdacht stehen, Beteiligung nur zu simulieren. Früher waren es die Türsteher zu den Hinterbühnen, die entschieden, wer rein darf und wer nicht. Dadurch konnten Entscheidungen vorgeprägt und deren Durchsetzung abgesichert werden.
Interessante Vorstellung, wer die Türsteher bei BMI und DOSB sein könnten…
Thieme: Heute kommt es immer mehr auf das Management von Beteiligungsprozessen an und wie es gelingt, in diesen Prozessen Vertrauen und Verbindlichkeit zu erzeugen. Während früher Macht, also im Sinne Max Webers die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“, an Akteure gebunden war, scheint sie mir heute viel stärker an den zur kollektiven Willensbildung organisierten Prozess gebunden zu sein.
Das Sportfördergesetz wurde im Vorfeld als Lösung aller Probleme vom Sport gefeiert. Beobachter haben sich bei der Ankündigung, dass ein solches Gesetz angestrebt wird, gefragt, ob der DOSB wirklich weiß, was er tut – die Abhängigkeit vom Staat wird noch größer, das Mitspracherecht kleiner. Waren die Sportverantwortlichen da zu blauäugig?
Thieme: Der DOSB war wohl von einer Zielkongruenz mit dem BMI ausgegangen. Für Planungssicherheit und Entbürokratisierung wäre auch ein neuer zentraler Akteur akzeptiert worden, der Entscheidungskompetenz vom DOSB, aber auch vom BMI in sich vereinen sollte. Man war nach meiner Wahrnehmung auch bereit, die eigenen Einflussmöglichkeiten auf diese unabhängige Agentur zu reduzieren, wenn dies in gleichem Maße auch von Seiten des BMI und der Sportpolitik erfolgt. Hier scheint mir die eigentliche Blauäugigkeit aller Beteiligten zu liegen. Die Haushaltsordnung des Bundes und das Zuwendungsrecht lassen nur wenig Auslegungsspielraum. Zumindest wohl deutlich weniger, als alle Beteiligten erhofft hatten.
In dem Gesetzentwurf steht, dass die geplante Agentur selbst Mittel einholen soll – also sich Sponsoren suchen soll. Das finden viele Sportvertreter eine Zumutung. Und als Schritt des Staates aus der Spitzensportförderung auszusteigen.
Thieme: Ja, dieser Abschnitt im Gesetzentwurf hat bei mir auch einige Fragezeichen ausgelöst. Man könnte zunächst vermuten, dass durch die Öffnung der Stiftung (der Sportagentur, Red) für private Geldgeber deren Unabhängigkeit gegenüber den Sportverbänden und der Sportpolitik gestärkt werden soll. Dafür müsste die Agentur jedoch über werthaltige Rechtepositionen oder über Imagedimensionen verfügen, die ein nennenswertes Engagement privater Sponsoren oder von Mäzenaten wahrscheinlich erscheinen lassen. Das kann ich nicht erkennen.
Der DOSB, die Ligen, die Sportverbände, die Stiftung Deutsche Sporthilfe und quasi jeder Sportverein sind alle auf der Suche nach Sponsoren und Mäzenaten. Die Agentur wäre ein zusätzlicher Konkurrent, deren gewünschte Position als unabhängige Steuerungsinstanz von einer Konkurrenz um Sponsoren und Mäzenaten mit Sportorganisationen, über deren Leistungssportförderung sie maßgeblich entscheiden soll, natürlich nicht unberührt bleiben wird. Vor diesem Hintergrund liegt die Interpretation als Einstieg in den Ausstieg nahe.
Der Spitzensport fällt für viele heute unter die Rubrik Unterhaltung. Ist die Forderung dann so abwegig, dass er sich selbst finanzieren soll?
Thieme: Das wäre das Aus für den Spitzensport in einer ganzen Reihe von Sportarten, darunter nahezu alle olympischen. Wenn allerdings das Ziel des Spitzensports „Unterhaltung“ wäre, dann würde er in der Tat keiner öffentlichen Förderung bedürfen. Nun ist aber im Entwurf des Sportfördergesetzes definiert, dass es das Ziel des Gesetzes ist, „in einem ganzheitlichen Ansatz den Spitzensport unter Wahrung seiner grundlegenden Werte erfolgreicher zu machen“. Es wird zwar darauf verzichtet zu bestimmen, was Erfolg konkret bedeutet, aus dem vorangegangenen Kurz- und dem Feinkonzept geht aber hervor, dass es um eine Top-3-Platzierung bei Olympischen Winterspielen und um eine Top-5-Platzierung bei Olympischen Sommerspielen in der Nationenwertung geht.
Wenn das das Ziel des Spitzensports sein soll, dann wird das nicht ohne staatliche Unterstützung erreichbar sein. Allerdings hängen die angestrebten Platzierungen in der Nationenwertung nicht nur von den Leistungen deutscher Athletinnen und Athleten und den Mannschaften ab, sondern auch immer von den Leistungen der Konkurrentinnen, Konkurrenten und den der anderen Teams.
Was folgt daraus?
Thieme: Die Relativität des sportlichen Erfolgs birgt eine Menge an Überinvestitionsanreizen, die in der Sportökonomie für Ligensysteme gut beschrieben sind. Wenn alle Länder in der Nationenwertung nach oben wollen und investieren, dann werden alle Leistungen mehr oder weniger im gleichen Verhältnis besser, der Erfolg bleibt jedoch weitestgehend gleich, so dass sich die Reihenfolge in der Nationenwertung auch nicht wesentlich ändert. Der Wirtschaftsnobelpreisträger George Akerlof hat solche Phänomene als „Rattenrennen“ bezeichnet. Für den deutschen Steuerzahler bedeutet das, dass er tendenziell mehr Geld für den gleichen Platz in der Nationenwertung aufbringen muss.