Deutsche Sportwissenschaft: Viel zu tun und chronisch unterfinanziert
Berlin, 13. Oktober.- Wie steht es eigentlich um die Sportwissenschaft in Deutschland? Im Koalitionsvertrag ist sie explizit aufgeführt: „Sportliche Spitzenleistung erfordert exzellente Sportwissenschaft. Wir werden diese daher stärken und das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) sowie das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in die institutionelle Förderung aufnehmen. Darüber hinaus werden wir die Digitalisierung im Leistungssport vorantreiben“, heißt es da. Was sagt das über Stellenwert und Relevanz der Sportwissenschaft in der Republik, bei den Entscheidungsträgern genau aus? Denn Sportwissenschaft befasst sich ja nicht nur mit Spitzensport, sondern vor allem forscht sie über Themen, die uns alle angehen und betreffen.
„Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft.“ Mit der Lebensphilosophie des großen tschechoslowakischen Läufers Emil Zatopek kommt der moderne Sport heute nicht mehr aus. Viele verbinden mit der Sportwissenschaft oft nur eine sportpraktische Ausbildung in diversen Sportarten. Aber der größere Teil des Studiums umfasst ein breites Spektrum von Disziplinen wie Sportmedizin, Sportsoziologe und Sportökonomie, Sportgeschichte, die sich mit ihren Curricula an den Mutterwissenschaften orientieren.
In letzter Zeit werden auch Bereiche wie Politikwissenschaft immer wichtiger angesichts von Kriegen, Anti-Demokratie-Entwicklungen, wachsenden wirtschaftlichen Problemen. Der Klimawandel ist eine weitere weltweite Bedrohung. Hier in Europa sind Sozial- und Gesundheitssysteme am Kippen, nicht nur wegen der Überalterung des Kontinents, sondern auch wegen herrschenden Bewegungsmangels und sozialen Ungleichgewichts.
Also reicht es da, sich nur auf Sportwissenschaft für Spitzenleistungen zu kaprizieren wie im Koalitionsvertrag?
Nicht die Breite
Der Sportwissenschaftler und Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln, Professor Ansgar Thiel(Foto), sagt: „Der Hinweis im Koalitionsvertrag stärkt die Spitzensportförderung. Mit dem IAT und dem FES werden zwei wichtige Institutionen gefördert. Aber das spiegelt keineswegs die Breite der Sportwissenschaft.“ Es gibt über 60 Institute für Sportwissenschaft an deutschen Universitäten, die sich nicht nur um Spitzensportforschung kümmern.
Der Bund stellt dem IAT, das 1991 aus dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) hervorging und dem FES im kommenden Jahr 23,2 Millionen Euro zur Verfügung. Sie können allerdings mit ihren 140 MedizinerInnen , InformatikerInnen und BiomechanikerInnen nur einen kleinen Bereich der Sportwissenschaft abdecken.
Das bundeseigene Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) wird im kommenden Jahr 11,4 Millionen zur Verfügung haben. Das BISp wurde übrigens nach dem schwachen Abschneiden bei den Olympischen Winter- und Sommerspielen 1968 gegründet. Es sollte in Vorbereitung auf die Sommerspiele 1972 in München helfen, die deutschen AthletInnen in Spitzenform zu bringen. Das BiSp soll heute u.a. Forschungsbedarf ermitteln und Forschungsvorhaben initiieren, fördern und koordinieren, Forschungsergebnisse auswerten und dann in den Sport zielgruppenorientiert transferieren. Momentan hat das BISp keine Führung – die bisherige Direktorin Andrea Schumacher kehrte zurück ins Bundesinnenministerium. Bei der Installation einer neuen Führungskraft – aus politischem oder wissenschaftlichen Umfeld – wird sich auch ablesen lassen, in welche Richtung es weiter gehen wird mit dem BISp, das nicht immer unumstritten war – auch in den eigenen Reihen.
Unterfinanziert
Die deutsche Sportwissenschaft sei generell unterfinanziert, wie die deutschen Universitäten überhaupt im internationalen Vergleich, sagt Thiel. Und die Misere werde durch Preissteigerungen und Tariferhöhungen weiter verstärkt, zwinge zu weiteren Sparmaßnahmen, die bedrohlich werden: Wenn die Ausstattungen nicht mehr internationalen Standards entsprechen, aus Energiesparmaßnahmen Labore oder Sportanlagen nur noch temporär genutzt werden können, Personalmangel – vor allem bei Professorenstellen – zum Uni-Alltag gehören, dann ist die Qualität der Arbeit nicht mehr garantiert. Das Statistische Bundesamt schreibt 2023, dass auf eine Professur in allen Fächern im Schnitt rund 79 Studierende kommen. In der Sportwissenschaft sieht das anders aus: An der Sporthochschule in Köln hat ein/e ProfessorIn mit 179 Studierenden zu tun.
Nicht Karriere fördernd
Sportwissenschaft ist gesellschaftlich relevanter denn je – und dennoch in der Krise? Wie ist das mit der Akzeptanz? „Zu Beginn meiner Uni-Laufbahn warnten mich Kollegen, mich auf Sport zu konzentrieren. Das ist karrierehemmend.“ Henk Erik Meier, Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Universität Münster, berichtete das in einem Gespräch. Da haben sich die Kollegen getäuscht: Meyer ist ein kritischer und renommierter Sportwissenschaftler, der sein Sujet mit der Unabhängigkeit erforscht, die man sich öfter wünschen würde. Manchen, die schon zu lange und zu nahe am deutschen Sport sind, fehlt es oft an Distanz – womit sich dann so manche Fehleinschätzungen und Peinlichkeiten erklären lassen. Etwa kritiklose Nibelungentreue zum Internationalen Olympischen Komitee und dessen merkwürdigen Entscheidungen.
Sportwissenschaft vereinigt
Es gibt übrigens eine Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft. e.V. (dvs), die im nächsten Jahr am 6. Oktober 50 Jahre alt wird. Sie hat rund 800 Mitglieder, die auch aus Österreich und der Schweiz kommen. So kann man internationale Zusammenarbeit auch gestalten. Und fragt man bei Wissenschaftlern in der Fremde nach der deutschen sportwissenschaftlichen Kompetenz, so bekommt man viele positive Rückmeldungen – „the Germans are at the forefront“.
Doch was gilt der Prophet im eigenen Land? Manche, die mit Lobbyismus so ihre Erfahrungen haben, sagen: Die Wissenschaft ist zu leise – Professoren müssen lauter quietschen, so wie das berühmte Rad, das genau deswegen das meiste Öl bekommt. Mit Sportwissenschaft, vor allem, wenn sie Theorie ist, tun sich noch manche in Sportführungsriegen schwer. Selbst bei sportpraktischer wissenschaftlicher Unterstützung gibt es immer noch Skeptiker. Wissenschaft sitzt oft mit an den Beratungstischen von Sport und Politik – am Ende wird sie zwar gehört, aber oft wird nicht auf sie gehört.
Teure Beratungsfirmen
Anstatt sich auf seriöse Forschungsergebnisse zu verlassen, ist es in vielen Sportorganisationen (und leider nicht nur da) Mode geworden, sich teure Beratungsfirmen ins Haus zu holen, die zwar von Betriebswirtschaft und Unternehmensführung Ahnung haben, aber ziemlich wenig vom deutschen Sport, seinen Strukturen und Eigenheiten. Die Ergebnisse dieser Art von Beratung: Hohe Rechnungen, wenig aussagekräftige Powerpoint-Präsentationen. Und sinnentleerte Schlagwörter wie „Sportdeutschland.“
Die Herausforderungen der Zukunft für Verantwortliche im Sport und in der Politik sind nicht in erster Linie Bewerbungen für Olympische Spiele oder die Unterstützung lukrativer Sportevents, an denen vor allem finanziell gut bestückte, gewinnorientierte Verbände verdienen, die aber immer noch unter der Flagge „gemeinnützig“ oder „nonprofit“ segeln.
Die Sportwissenschaft zählt ja auf, womit sich Sportorganisationen und Sportpolitik in Deutschland national und international beschäftigen müssen. Sportvereine und Sportorganisationen werden gerne als „Problem-Auffanglager“ und Reparaturwerkstatt für gesellschaftliches und institutionelles Versagen als Allheilmittel genutzt. Und der Sport hat sich in eine Rolle drängen lassen, wo er immer weiter überfordert wird, wenn man ihn allein lässt. Stichwort Bildung: Seit Jahrzehnten versagen die Kultusminister auf diesem Gebiet!
„Wir haben in Deutschland ein Bildungsproblem. Wegen immer mehr Heterogenität in den Klassen und Sprach-Problemen nehmen die Leistungen ab. Natürlich kann man mit angepassten digitalen Lernsystemen da helfen, aber da fallen dann Punkte wie Sozialverhalten oder Zeitstruktur weg. Um gute Lernprozesse abzusichern, braucht man deshalb in der Schule Sport. Unsere Welt ist eine Sitzwelt, auch in der Schule – und deshalb müssen wir da gegensteuern – mit einem bedürfnisgerechten Angebot. Es muss ja nicht immer klassischer Sportunterricht sein “ sagt Professor Thiel.
Kaum Rückfragen
Und wie wird das an entscheidenden Stellen wahrgenommen? Man müsste sich doch glücklich schätzen, eine der weltbesten Unis im Bereich Sport, Bewegung und Gesundheit vor der Tür zu haben, die man um Hilfe bitten könnte? „Es gibt kaum Rückfragen aus dem Schulministerium. Wenn mal eine Rückmeldung kommt, dann geht es in der Regel um den klassischen Sportunterricht und nicht darum, wie man Schule so gestalten kann, um verloren gegangene Sozialisationseffekte wieder herzustellen.“ Schule und Sport, die Kitas nicht zu vergessen, sind Orte, an denen Sport viel leisten könnte – würde man ihn denn lassen und ihm mit dem pädagogischen und politischen Ernst begegnen, den er verdient hat.
Wie sehr regelmäßige Bewegung und Sport für eine gesunde Entwicklung unterschätzt werden, war nicht nur während, sondern besonders nach der Corona-Pandemie zu sehen. Nicht nur die körperliche Inaktivität, sondern auch die fehlende zwischenmenschliche Interaktion hatten für viele Menschen schwerwiegende Folgen.
Einsamkeit machte besonders während der Pandemie den Menschen zu schaffen. „Nicht nur ältere, sondern auch junge Menschen kamen damit nicht zurecht“, sagt Thiel, der besonders darauf hinweist, dass nicht nur die Bewegung, sondern auch die Geselligkeit, das Zusammensein mit anderen eine positive Wirkung auf seelisches und körperliches Wohlbefinden hat.
Sport mit einbeziehen
Angesichts steigender Sozial- und Gesundheitskosten sollte man ja meinen, dass man den Sport als Präventionsmittel auch von Seiten der Politik nicht nur in Sonntagsreden, sondern bei Entscheidungen mit einbeziehen würde: Walken, statt Blutdrucksenker, Radfahren statt Abnehmspritze, Teamsport statt Psychositzung: Sport auf Rezept war schon mal populärer – auch bei Ärztinnen. Und billiger als teuere Arzneimittel und Therapien ist es allemal.
Manchmal denkt man: Problemlösungen sind doch so einfach. Aber auch im Sport ist das offensichtlich nicht so.
In Strukturen verkrustet
Im modernen Spitzensport wird man nicht weiterkommen, wenn man in alten Strukturen verkrustet festsitzt – und man auf jeden Fall am Status quo festhalten will. Die Bundesregierung will nun die vorliegende Spitzensportreform fortschreiben, die an Uneinigkeit und fehlender Umsetzbarkeit mehrfach scheiterte. Wie soll da was Neues kommen, wenn man – wie ja schon das Wort „Reform“ impliziert – eigentlich nichts erneuern will? Vielleicht sollte man mal jemanden außerhalb des sportorganisatorischen Dunstkreises zu Rate ziehen?
Getrennte Wege
Spitzen- und Breitensport werden, mittelfristig gesehen, ab einem bestimmten Punkt getrennte Wege gehen (müssen). Dann nämlich, wenn sich AthletInnen für den Beruf SpitzensportlerIn entscheiden. Vor allem, wenn die Kommerzialisierung weiter so fortschreitet. Von Spitzensportforschung aber profitieren alle. „Wie etwa in der Raumfahrtforschung kommen dann Experimente, Erkenntnisse und Ergebnisse etwa aus der Sportmedizin allen zugute“, so Thiel.
Ab und an fragt man sich schon, ob das auch die sportpolitischen EntscheidungsträgerInnen wissen, ob sie die Sportwissenschaft überhaupt zur Kenntnis nehmen. Die Frage, woran diese teilweise Ignoranz liegt, beantwortete ein emeritierter Professor so: „Fakten zur Kenntnis zu nehmen, heißt ja auch eventuell mal seinen eigenen Standpunkt zu überdenken und sich einer Debatte zu stellen. Das ist heute vielen zu anstrengend.“
Ein Goldener Plan
Rektor Ansgar Thiel wünscht sich aber diesen Austausch. Und noch mehr: „Einen Goldenen Plan Sportwissenschaft. Ziel wäre es, die Forschungsbedingungen der Sportwissenschaft auf internationales Niveau zu bringen, um einerseits Wissensgenierung voranzubringen und anderseits einen effizienten Transfer dieser Erkenntnisse zu sichern. Eine besser ausgestattete Sportwissenschaft könnte Antworten geben, wie durch und mit Sport und Bewegung gesellschaftliche Probleme gelöst oder verbessert werden können.“
Manch andere wünschen sich auch schon lange Goldene Pläne. Dieser Wunsch ist allerdings bisher unerfüllt geblieben und zum Warten auf Godot geworden.