Berliner „Firlefanz“ ist preisverdächtig

LSB-Kindertagesstätte für Deutschen Kitapreis nominiert – Bemerkenswertes Sprach- und Bewegungskonzept

Berlin, 22. November. Seit 2005 betreiben der Landessportbund und die Sportjugend Berlin in einer eigenen gemeinnützigen Trägergesellschaft Kindertagesstätten, die sich besonders durch ein pädagogisches Profil in der Bewegungsförderung auszeichnen.  LSB eigene  Kitas –  das ist bundesweit einmalig. Als 2003 der damalige Jugend-Abteilungsleiter und jetzt scheidende Sportdirektor Heiner Brandi mit der Idee kam, selbst Kitas zu übernehmen, hielten zunächst vor allem die Landes-PolitikerInnen das für eine Schnapsidee. Brandi überzeugte sie – auch seinen späteren Präsidenten Klaus Böger, damals sportpolitischer Sprecher der SPD im Senat. Der Erfolg gab Brandi Recht. 13 Jahre später gehören die mittlerweile 22 LSB-Kitas zu den besten und gefragtesten in der Stadt. Und sind preisverdächtig wie die Kindertagesstätte „Firlefanz“ im Problemviertel Soldiner Kiez. Sie ist nominiert für den Deutschen Kitapreis unter dem Motto: „Qualität hat viele Gesicnhter“. Der Preis wird im Mai 2019 vergeben.

Der Name der Kita allein wäre schon ein Hinweis auf das Programm. Mit „Firlefanz“ bezeichnete man im ursprünglichen Sinn einen lustigen Springtanz. Und tatsächlich: Alles ist in Bewegung, es geht rauf und runter über drei Etagen. In der Rotunde wird „gekreiselt“ – Laufen im Kreis, bis man richtig pustet. Draußen am Klettergerüst wollen die einen schnell hoch hinaus, andere hangeln sich bedächtig nach oben. Mutproben und Bewegungskreativität: Mädchen und Jungen in der Kita „Firlefanz“ sind hellwach und schon schwer in Aktion am frühen Morgen.

Jeder Tag in der Kita ist ein Start in ein neues Abenteuer. Da bremst und verunsichert die Kinder bei ihren Selbsterkundungskursen kein besorgter Elternteil mit Zurufen: „Tu dir nicht weh!“, oder: „Pass auf, dass Du nicht runterfällst.“ Und auch ErzieherInnen lassen die kleinen Klettermaxen, Läufer oder Rollbrettkünstler einfach machen.

Das gehört zur Philosophie dieser Kindertagesstätte: Kinder machen lassen, ihnen vertrauen, ihre Selbstständigkeit und Selbstvertrauen stärken. „Wir greifen nicht ein, die Kinder versuchen sich – und meistens schaffen sie auch das, was sie sich selbst zutrauen“, erklärt Kita-Leiterin Barbara Burdorf. „Da hebt die Kollegin kein Kind hoch aufs Klettergerüst, oder es wird den Kindern nicht verboten zu klettern, weil sie zu klein oder jung sind.“

Alles ausprobieren

Dieses Bewegungskonzept ist in den Tagesablauf eingebunden. „Die Kinder können sich in allem ausprobieren und selbst entscheiden, was sie machen wollen“, so Burdorf weiter.

Hört sich nach Anarchie an!? Nein, natürlich nicht. Die sechs bis sieben ErzieherInnen, die sich auf den einzelnen Etagen um etwa 40 Kinder kümmern, greifen dann ein, wenn es notwendig ist. Ansonsten haben sie die Kinder stets im Blick, sind immer ansprechbar, wenn ein Junge oder Mädchen sie braucht. „Jedes Kind hat eine feste Bezugserzieherin, die immer für sie da ist.“

Toben, auspowern. Und dann auch mal zur Ruhe kommen. Dafür gibt es Leseecken oder Ruheräume. Aber natürlich wird wie in andern Kindergärten auch gemeinsam gebastelt oder gesungen und gespielt. Geist und Körper gefordert und gefördert – ganzheitliche Erziehung im besten Sinne.

Besondere Kombination

Was die Kita “Firlefanz” zu etwas Besonderem und deshalb preisverdächtig macht, ist das pädagogische Konzept aus der Kombination Bewegung und Sprache. Und Spracherziehung ist in einem Problembezirk ein zukunftsentscheidender Ansatz.

Die Tagesstätte ist in einem der schwächsten Kieze Berlins zuhause. 68 Prozent der Kinder hier leben in Hartz-IV-Familien. 74 Prozent der Kinder, die die Kindertagesstätte besuchen, haben einen Migrationshintergrund.

24 Sprachen sprechen diese Kinder. Babylonische Sprachverwirrung? „Das ist kein Problem. Die Kinder müssen untereinander Deutsch sprechen, um sich zu verstehen“, sagt Barbara Burdorf. Deshalb achtet die Leiterin darauf, dass nicht zu viele Kinder derselben Herkunft in einer Gruppe zusammen sind. Trotzdem sollen native speakers auch zusammen spielen, damit sie ihre Muttersprache richtig lernen. Denn das sei eine Grundvoraussetzung, um später auch richtig Deutsch zu beherrschen.

Die BetreuerInnen nehmen sich Zeit und haben Geduld, wenn ein Kind länger braucht, um einen Satz zu formulieren. Dass die „Kopfarbeit“, Sprache korrekt zu lernen, Spaß macht, zeigt sich etwa beim Spiel „Feuer, Wasser, Luft“: Da lernen die Jungen und Mädchen ganz schnell die richtigen Präpositionen. Mit Hilfe einer Gymnastikbank: Auf, unter, neben, hinter der Bank – Präpositionen in entsprechenden Positionen dargestellt.

Und um bewegungs- und sprachauffällige Kinder kümmern sich die BetreuerInnen mit besonderen Programmen. Dabei werden Fortschritte entsprechend kommentiert.

Fachberatung und Konsultationen

Der Kita-Träger „Kinder in Bewegung gGmbbH“ (KiB) hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut München ein Praxismodell zur Kombination von Bewegungsförderung mit Förderung der Sprachentwicklung konzipiert und umgesetzt. Seit 2014 bildet der LSB gemeinsam mit dem Sozialpädagogischen Institut (SIP) in einer Fachschule „Erziehung, Bildung, Sport“ staatlich anerkannte ErzieherInnen mit sportpädagogischem Profil aus. Und außerdem arbeitet der LSB mit Professor Renate Zimmer, einer der renommiertesten Expertinnen für Bewegungs- und Sportpädagogik im Kindesalter zusammen. Die Fachfrau begleitet die verschiedenen Programme.

Mittlerweile ist die Tagesstätte zu einer Konsultations-Kita geworden: PädagogikstudentInnen, ErzieherInnen von Berliner Kitas oder aus dem Rest der Republik, aber auch aus dem Ausland sind zu Gast bei “Firlefanz”, um sich umzuschauen und Rat zu holen.

Die Besucher staunen nicht schlecht, wenn sie Räume, deren Gestaltung und Ausstattung sehen. Da es direkt vor der Haustür in den Städten oft weder Wiesen noch Grünanlagen und nur selten Kletterbäume oder Spielplätze gibt, ist eine Kita wie „Firlefanz“ für Kinder ein wahres Paradies, in dem sie sich ungezwungen ausprobieren können.

Bewegungsfreiheit

Bewegungsfreiheit – das Kernkonzept der LSB-Kitas. KIB Ko-Geschäftsführer Brandi hat auch damals nicht gezögert, Kitas zu übernehmen, weil er das als Chance sah, „Kindern Raum zu schaffen, um sich die Welt im Sinne einer intellektuellen Herausforderung erobern zu können. Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass im frühen Kindesalter fast alle Lernprozesse über Bewegung ablaufen“, sagt er. Und wundert sich, dass es immer noch Menschen in Politik und Erziehungsbereich gibt, die mit frühkindlichem Bewegen und Bildungskonzepten nichts anfangen können.

Die LSB-Kitas sind bei Eltern mittlerweile sehr gefragt. „Wir haben große Nachfrage und überall Wartelisten“, sagt Brandi. Und Barbara Burdorf ergänzt: „Viele Eltern melden sich bei uns auf Empfehlung.“ Herumgesprochen haben sich vor allem die qualitativ hohen und ansprechenden Konzepte und die Kompetenz der speziell geschulten ErzieherInnen, die schon für Einjährige ein Bewegungsprogramm anbieten.

Die Kita “Firlefanz”, die es seit 1996 gibt, hatte in der Vergangenheit wegen der vielen nicht deutschsprachigen Kinder eine höhere Personaldecke. Doch auch sie bleibt vom bundesweiten Problem nicht verschont: Fehlende ErzieherInnen. „Wir hätten Plätze für 130 Kinder, können aber zur Zeit nur 100 annehmen. Und mussten deshalb auch unsere lange Warteliste erst mal schließen“, bedauert Leiterin Burdorf, die begeistert und überzeugend von ihrer Kita erzählt. Es sei nach anfänglichen Schwierigkeiten „ein schönes Arbeiten“. Und motiviert damit BewerberInnen, „die erst einmal keine besonderen Voraussetzungen brauchen. Sie müssen nur zu unserem Team und unserer Philosophie passen.“

Apropos Team: Auf Unverständnis ist beim LSB die Entscheidung Berliner Profivereine gestoßen, nun eine eigene Kitawelt mit finanzieller Unterstützung der Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Sandra Scheeres aufzubauen. Warum, so LSB-Verantwortliche, muss man eine Parallelwelt schaffen, wenn es bereits erprobte und qualitativ anspruchsvolle Angebote gibt? Warum gegeneinander und nicht miteinander arbeiten? Mannschaftsgeist und Teamplayer wären im Sinne der Sache angebracht.

Bewegungs-Kitas sind Schatzkästlein für Kinder: Hier starten kleine Abenteurer, zu ihren Forscher-Expeditionen, die sie für das Leben in jeder Hinsicht stark machen. Und manche entwickeln schon mal kreative Berufswünsche. Nach „Tanzfee“ möchte Marie in dieser Woche „Wiesenpurzler“ werden. Die einst ängstliche und bewegungsträge Vierjährige hat in einer LSB-Kita den Spaß nicht nur am Purzelbaum entdeckt…. und rollt und rollt und rollt. Auch das ist in jeder Hinsicht preisverdächtig.