NOV-Vorsitzender Stegemann über die Arbeit der Zukunfts-Gestalter
Berlin, 24.Juli.- In den letzten Jahren fühlten sich die Nichtolympischen Verbände (NOV) vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) nicht gut behandelt und auch nicht ernst genommen. Das soll nun anders werden. An einem Neuanfang des DOSB möchte auch der Präsident des Deutschen Sportakrobatikbundes (DSAB), Oliver Stegemann, mitarbeiten. Als Vorsitzender für die Interessengemeinschaft (IG) der NOV sitzt der 49-jährige in der AG „Inhalt“, die neben der AG Personal und AG Struktur ein Konzept erarbeiten soll. Während in Tokio die Olympischen Spiele laufen, wird zuhause in Sachen DOSB gebastelt. Mit Stegemann, der beruflich als Interessenvertreter der MitarbeiterInnen der SPD-Fraktion arbeitet, sprach sportspitze unter anderem über die Zukunftsfähigkeit der Dachorganisation, die Rolle der Mitgliedsversammlung, die Neuwahlen und die Forderungen der NOV.
Sportspitze: Herr Stegemann, Helmut Schmidt hat mal gesagt, wer Visionen hat, braucht einen Arzt. Aber ohne Visionen, wo man im organisierten deutschen Sport in Zukunft hin will, wird ein Neuanfang im DOSB ja nicht gelingen. Was sind Ihre Visionen, wie muss sich der deutsche Sport und besonders der DOSB aufstellen, um zukunftsfähig zu sein?
Stegemann: Mir fehlt der tiefere Einblick in das Arbeiten und Wirken des DOSB. Ich habe aber den Eindruck, dass der DOSB in einem ähnlichen Dilemma steckt, wie ich als Präsident eines kleinen nicht-olympischen Verbandes: Unser Überleben als Leistungssportverband hing und hängt an den Fördermitteln des Bundes. Der Bund fördert aber nur den Leistungssport. Seit einigen Jahren bekomme ich zunehmend Kritik im DSAB zu hören, dass wir uns nur auf den Leistungssport konzentrieren, um Fördergeld zu erhalten. Was bedeuten würde: Wenn die Ergebnisse im Leistungssportbereich stimmen, geht es dem Verband gut. Das ist aber selbst in meinem Verband ein Trugschluss. Im DOSB sind 99 Prozent der Sporttreibenden Breitensportler. Deshalb darf sich kein Verband und erst recht kein Dachverband darauf reduzieren, sich hauptsächlich nur um Spitzensport zu kümmern, denn dann wird er der übergroßen Mehrheit der Mitglieder nicht gerecht.
Sportspitze: Wenn Sie jetzt eine To-do-Liste aufstellen müssten, welche Top-Five-Punkte müssten als erstes erledigt werden?
Stegemann: Eine To-do-Liste habe ich nicht parat. Der DOSB wäre aber mit seinen gut hundert Mitgliedsorganisationen gut beraten, wieder einen stärkeren Pluralismus zuzulassen.
„E pluribus unum – aus vielem Eines“ war aus meiner Sicht die Idee der Fusion von Deutschem Sportbund und Nationalem Olympischen Komitee. Damit sollte der Sport gestärkt werden. Das ist ein hehrer Ansatz und hat sicher Vorteile. Aber wenn aus den vielen Stimmen nur noch eine wird, gehen Nuancen, abweichende Meinungen und die Stimme der Minderheit – also die Vielfalt verloren. Dann spricht der Sport zwar mit einer Stimme –aber eben nicht für alle.
Was das für Folgen hat, sehen wir ja nun seit einigen Jahren im DOSB: Irgendwann ist die Einheit des Sports nicht mehr so wichtig, wenn man sich nicht oder nicht mehr repräsentiert fühlt. Und dann scheren eben Mitglieder aus – es kommt zur Gründung eigener Vereine, der Einrichtung von eigenen Geschäftsstellen. Dann gehen die Unzufriedenen eben eigene Wege.
Insofern steht dem/der neuen PräsidentIn eine außerordentlich schwierige Aufgabe bevor, nämlich die Vielstimmigkeit zuzulassen und die Einheit zu wahren.
Sportspitze: Für den DOSB-Neuanfang wurden drei Gruppen gebildet, die sich mit Inhalten, Strukturen und Personal beschäftigen sollen. Die Vertreter sind alle aus Mitgliedsorganisationen des Sports – teilweise sind federführend diejenigen dabei, die an dem Dilemma, in dem sich der DOSB derzeit befindet, auch mitgewirkt haben. Wäre es deshalb nicht gut, sich auch von außen Expertise von sportunabhängigen Leuten zu holen?
Stegemann: Bisher ist nicht absehbar, ob die „Gruppe Personal“ sich nicht doch zur Einrichtung einer Findungskommission entschließen und Personen von außen in diese Kommission hinzuziehen wird. Wenn man beratende Personen von außen hinzuzieht, müssen sie Zwänge und Handlungslogiken des Sports kennen. Wir haben da ja schon mit externen Wirtschaftsberatern schlechte Erfahrungen gemacht.
Bei der Zusammensetzung der internen Gruppen sehe ich durchaus eine große Heterogenität der Ansätze und der Personen. Es sitzen hier sicher nicht Claqueure, die jetzt im Hinterzimmer kungeln. Vielmehr sind der anonyme Brief und die daraus resultierenden Prozesse ein Zeichen dafür, dass im Sportsystem angekommen ist, dass es so nicht weitergehen kann. Und jetzt sind alle gefragt, die in den letzten Jahren leise Kritik geäußert haben, sich offen einzubringen. In der Politikwissenschaft lernt man im ersten Semester, dass es in jedem System Phasen der Statik und Phasen der Dynamik gibt. Wir befinden uns gerade in der dynamischsten Phase des organisierten Sports seit der Gründung des DOSB.
Sportspitze: Besonders DOSB-Präsident Alfons Hörmann hat gerne von Klarheit Wahrheit und Transparenz gesprochen. Das wurde aber selten realisiert. Auch der neue Prozess stellt sich bisher nicht transparent dar. Warum? Hat man Angst, nicht das Ergebnis zu erzielen, das man erzielen möchte?
Stegemann: Leider sind Journalisten mittlerweile zu der Erkenntnis gekommen, dass Anträge nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) zu einem deutlich größeren Erkenntnisgewinn führen als der Beitrag und die Bereitschaft von Sportorganisationen zu informieren und aufzuklären. Das sollte zu denken geben und sich ändern.
Nachdem sich die Spitzenverbände zu einem Verfahren – nämlich die Vertrauensfrage zu stellen – geäußert hatten, gab es ja auf offener Bühne Dissens mit den Landessportbünden, weil das nicht koordiniert worden war. Nun sind alle bemüht, ein gemeinsames transparentes Verfahren zu entwickeln. Dabei sind wir auf einem guten Weg. Ich gehe davon aus, dass die Mitgliedsorganisationen umfangreich informiert werden und dass es nach den olympischen und paralympischen Spielen in Tokio auch zum Austausch auf einem Treffen mit den Mitgliedsorganisationen kommen wird.
Sportspitze: Die Mehrheit der 27 Millionen Mitgliedschaften im DOSB kommt aus dem Breitensport, bestimmen im DOSB tun aber die olympischen Verbände. Ist nicht da auch ein Umdenken von Nöten? Ohne Basis keine Spitze – der Spruch gilt immer noch, aber bei der steigenden Kommerzialisierung scheint das Säulen-Modell des Sports überholt – wie kommt man da zu einer optimalen Lösung, um vor allem dem Breitensport gerecht zu werden?
Stegemann: Da komme ich noch mal auf die Eingangsfrage: Der DOSB wird in der Öffentlichkeit als olympischer Leistungssportverband wahrgenommen. Und er selbst sieht sich wohl auch so, nach dem Motto: „Olympia gut, alles gut.“ Nochmal – das ist ein Trugschluss.
Im DOSB ist gut die Hälfte der Beschäftigten für den Bereich Leistungssport tätig; hier fließt das meiste Geld. Daran wird das Wohl und Wehe des deutschen Sports – den Fußball klammern wir hier aus – festgemacht. Die Funktionärslogik heißt: Mehr Geld für den Leistungssport hat potenziell mehr sportliche Höchstleistungen zu Folge; daraus resultiert höheres Ansehen und die Chance auf mehr Geld. Aus diesem Kreislauf auszubrechen oder sich ihn überhaupt erstmal bewusst zu machen, ist nicht so leicht.
Unter diesem Aspekt gibt es keine einfachen Lösungen. Ich bin sehr gespannt auf den weiteren Prozess, über dessen Erfolg entscheiden wird, ob man sich an diese strukturelle „Unwucht“ und ihre Auswirkungen heranwagt. Wenn ja, wird dies ein langfristiger Prozess mit ungewissem Ausgang. Wenn nein, drohen in der Zukunft noch mehr Streit und dauerhafte Verwerfungen.
Sportspitze: Müsste nicht die Mitgliederversammlung – quasi als Parlament des DOSB – bei der Suche nach einem Präsidenten und Personen für das Präsidium mehr einbezogen werden? Könnten Sie sich auch vorstellen, dass mehrere Kandidaten zur Wahl antreten – wäre ja sehr demokratisch?
Stegemann: Natürlich kann ich mir vorstellen, dass es mehrere KandidatInnen für das Amt gibt. Die sollten aber dann frühzeitig ihren Hut in den Ring werfen, damit man sie auch kennenlernen kann. Einen Überraschungs-Coup wie bei der letzten Wahl können und sollten wir uns nicht mehr leisten.
Auf jeden Fall sollte die Mitgliederversammlung mehr einbezogen werden. Aber bisher waren DOSB-Mitgliederversammlungen nun nicht gerade der Ort der großen Kontroversen. Die wurden – der Handlungslogik der Organisatoren folgend – am Abend vorher ausgetragen. Ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt, aber diese geübte Praxis wird man schwer von jetzt auf gleich verändern können.
Sportspitze: Wie müssen die Anforderungsprofile für einen DOSB-PräsidentIn und Präsidiumsmitglieder aus Ihrer Sicht aussehen?
Stegemann: Auf jeden Fall muss der/die PräsidentIn über eine gewisse wirtschaftliche und persönliche Unabhängigkeit verfügen, um überhaupt die zeitlichen Ressourcen zur Ausübung des Amtes zu haben. Das ist ja mittlerweile kein Job mehr, den man so nebenher machen kann.
Die IG NOV hat an das neue Präsidium „nur“ die Erwartung, dass zumindest eine Person im Präsidium aus den Reihen der nicht-olympischen Verbände kommen soll. Wir haben über Jahre auf unsere ständig sich verschlechternde Lage hingewiesen. Leider ohne nennenswerte Unterstützung vom DOSB zu bekommen. Besonders ärgerlich war der Vorwurf, wir NOV hätten ja immer die Schere im Kopf und würden die Welt in olympische und nicht-olympische Welten aufteilen, während Präsidium und Vorstand ihre Aufgabe für alle Verbände gleichermaßen wahrnehmen würden. Als die NOV mal aufgezählt haben, wo wir strukturell ausgeschlossen sind, waren DOSB-Vorstand und Präsidium doch bedröppelt. Aus unserer Sicht soll die gesamte Breite des Sports auch in den Führungsgremien vertreten sein, damit wir keine blinden Flecken haben.
Sportspitze: Bis zur Mitgliederversammlung sind noch knapp fünf Monate. Davon kann man mindestens einen Monat wegen der Spiele in Tokio abziehen, um die Mitgliederversammlung mit Neuwahlen oder vielleicht auch nur Nachwahlen vorzubereiten und geeignetes Personal zu finden. Ein ambitionierter Zeitplan. Kann dabei etwas Vernünftiges herauskommen?
Stegemann: Alfons Hörmann und Kaweh Niroomand werden nicht mehr antreten, die anderen Präsidiumsmitglieder haben sich noch nicht geäussert. In der Stellungnahme der Ethik-Kommission ist von einer Neuwahl die Rede. Das ist im Vereinsrecht nicht so einfach, denn dafür müssten alle Gewählten zurücktreten. Wenn nur eine gewählte Person – ein Kassenprüfer reicht aus – nicht zurücktritt, dann ist es eine Nachwahl und die Wahlperiode endet im Dezember 2022 – so schätze ich jedenfalls die Rechtslage ein. Das muss erst mal definitiv geklärt werden. Aus meiner Sicht wird es auf eine Nachwahl hinauslaufen, und im Dezember 2022 wird erneut gewählt. Dann hätte man auch mehr Zeit, den Neuanfang inhaltlich, strukturell und auch personell vorzubereiten.