Anhörung zum Kinder- und Jugendsportbericht im Bundestags-Sportausschuss
Berlin, 14.April. Man hätte sich die VertreterInnen des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) in den letzten Jahrzehnten gerne öfter so emotional und laut wie den Vizepräsidenten Andreas Silbersack am Mittwoch gewünscht, wenn es um Kinder und Jugendliche ging. Silbersack, der Zuständige für Sportentwicklung, sprach im Sportausschuss des Deutschen Bundestags, der auf Antrag der Linken zu einer Anhörung zum Vierten Kinder- und Jugendsportbericht geladen hatte. Zum ersten Mal wurde dieser Bericht, wie der Obmann der Linken, André Hahn, feststellte, im Sportausschuss behandelt.
Kinder- und Jugendberichte gibt der Bund regelmäßig in Auftrag. Da spielt der Sport aber kaum eine Rolle. Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung nahm sich dieses Themas 2003 an und finanzierte erst einmal einen deutschen Kinder- und Jugendsportbericht. Es folgten 2008, 2015 und nun 2020 weitere Berichte. (Sport-) WissenschaftlerInnen tragen in ihren Beiträgen den aktuellen Forschungsstand zusammen und formulieren Handlungsempfehlungen.
Hilferuf
In Sonntagsreden werden Kinder immer gerne als die Zukunft gefeiert, aber im Grunde haben sie keine Lobby. Es sei denn, eine Pandemie bricht aus. Das donnernde Plädoyer Silbersacks, das er als „Hilferuf“ verstehen wollte, schrie er maskenlos ins Mikrofon: Der DOSB werde die Kinder und Jugendlichen nicht allein lassen. Und das müsse sich nun schon in dem zu verabschiedenden neuen Infektionsschutzgesetz des Bundes zeigen, wo Kindern und Jugendlichen Bewegungs-Freiraum gewährt werden müsse. Ein Drittel der DOSB-Mitglieder seien Kinder- und Jugendliche, von denen wegen der Pandemie viele „abgehakt seien“ – sprich: nicht mehr im Verein sind.
Das Virus sorgt dafür, dass in der Republik nun plötzlich Themen diskutiert werden, für die sich jahrzehntelang keiner so richtig interessierte. Jetzt, da genervte und geplagte Eltern im Homeoffice sitzen und Homeschooling machen müssen, umgeimpfte SchulleiterInnen und LehrerInnen sich täglich mit neuen Unterrichtsvarianten herumschlagen und diese organisieren müssen, ist Schule ein täglicher Aufreger.
Seit Jahrzehnten experimentieren KultusministerInnen mit dem Bereich Schule auf Kosten von SchülerInnen und Lehrkräften häufig erfolglos herum. Und nun werden durch die Pandemie viele Problemfelder noch deutlicher als vorher. Und die Unfähigkeit politisch Handelnder deutlicher denn je.
Kinder- und Jugendsport – auch da beteuern Kultusminister und SportministerInnen, wie wichtig Bewegung für soziales und gesundes Leben sei, aber am Beispiel Schulsport zeigt sich, dass es nur Lippenbekenntnisse sind: Seit über 40 Jahren ist der Schulsport immer noch ein Stiefkind, das man gerne zur Seite schiebt: Hohe Ausfallstunden, fachfremder Unterricht, schlechte Ausbildung von Lehrkräften oder fehlende zeitgemäße Curricula. Und noch immer ist an vielen Schulen Sport das erste Fach, das man gerne zugunsten anderer Fächer opfert.
Nichts Neues
Dass Kinder und Jugendliche in Deutschland immer weniger Sport treiben, viele Kinder zu dick sind, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Stoffwechselprobleme zunehmen, ist nichts Neues. Auch nicht neu ist, dass die motorischen Fähigkeiten nachlassen, wozu auch überängstliche Eltern beitragen, die für sich einen sportiven Lebensstil in Anspruch nehmen, aber ihren Kindern nichts zutrauen.
Weniger Leistungsbereitschaft
Auch die Leistungsorientierung und -bereitschaft etwa im Vereinssport lässt nach, was nicht nur daran liegt, dass regelmäßiges Training oder Spiele am Wochenende nicht mehr in den Familienalltag passen.Viele Interessen kreuzen sich. Oder viele Hobbys oder Freizeitgestaltungen können sich Kinder aus bildungsfernen Schichten gar nicht leisten. Sören Dallmeyer von der DSHS Köln hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, was Sport für Kinder und Jugendliche heute kostet. Besonders für Familien mit geringerem Einkommen kann das eine Barriere für die Teilnahme am Sport sein.
Der Kinder- und Jugendsportbericht, den Christoph Breuer von der Sporthochschule Köln koordinierte, sorgt für ein déjà-vu. Auch bei Benny Folkmann,dem Zweiten Vorsitzenden der Deutschen Sportjugend (dsj). „Viele Themen, die in dem Bericht zusammengefasst sind, sind nicht neu. Ich brauchte jetzt für die Anhörung keine spezielle Vorbereitung.“
dsj erprobter Sachwalter
Seit Jahrzehnten ist die Sportjugend Sachwalter für Kinder und Jugendliche. Sie war schon immer bei gesellschaftspolitischen, aber auch sportfachlichen Themen der Seismograph des deutschen Sports. Hatte die Erwachsenenorganisation noch nicht mal ein Thema erahnt, war die Jugendtruppe schon an der Umsetzung. Nicht umsonst gilt die dsj noch immer als das gute Gewissen des Sports.
Was sie in den letzten Jahren immer wieder unter Beweis stellte, etwa bei den Themen (sexualisierte) Gewalt im Kinder- und Jugendsport, Rassismus, Homophobie oder bei der Stärkung der Demokratie besonders gegen rechts. Die dsj ist nach wie vor ganzheitlich in Bewegung und am Ball.
Doch ihr Engagement wurde den JugendvertreterInnen vor allem auch in den eigenen Reihen nicht immer leicht gemacht. Insofern sieht Folkmann in der Anhörung „einen Fortschritt. Es ist gut, dass wir nun über diesen Bericht einmal sprechen.“
Auch Nils Neuber, Professor im Arbeitsbereich Bildung und Unterricht im Sport“ am Institut für Sportwissenschaft der WWUniversität Münster, freut sich, dass man mit dieser Anhörung einen Themenbereich in die Öffentlichkeit rückt, der sonst eher unter „Ferner liefen“ abgeheftet wird. Kinder- und Jugendsport sei kein Selbstläufer und kein Allheilmittel, auch wenn 70 Prozent der SchülerInnen Sport nach wie vor als Lieblingsfach angeben, 80 Prozent Vereinsmitglied sind und 90 Prozent angeben, dass sie mindestens einmal in der Woche Sport treiben, was allerdings für Mädchen nicht in allen Altersgruppen gilt.
Im Umbruch
Für Neuber ist der Kinder- und Jugendsport im Umbruch, etwa was das individuelle Freizeitverhalten von Jugendlichen angeht, die pädagogische Ausrichtung oder die Digitalisierung von Sportangeboten. Der Münsteraner sieht nach der Pandemie die Chance für einen Neustart, der mit niederschwelligen kommunalen Angeboten zum Beispiel angeschoben werden kann. Und der Bund könnte etwa mit einer systematischen Vernetzungsstruktur unterstützen, Beratungsstrukturen etablieren und geschützte Datenstudien anschieben.
Der rheinland-pfälzische Staatssekretär Randolf Stich, der für seinen Minister Roger Lewentz, der derzeit Vorsitzender der Sportministerkonferenz (SMK) ist, an der Anhörung teilnahm, betonte – was SMK-Vertreter immer wieder gerne tun – dass Breitensport die Kernaufgabe sei und natürlich auch Kinder- und Jugendsport ihnen am Herzen läge. Die Pandemie habe nun auch den Kinder- und Jugendsport, Bewegung allgemein und soziale Kontakte eingeschränkt. Man habe das im Blick, sagte Stich, und verwies auf Stellungnahmen vom 8. und 22. Februar 2021der SMK.
Bewegter Alltag
Womit nun vermutlich nicht nur Kerstin Holze, die Vorsitzende der Deutschen Kinderturn-Stiftung, wenig anfangen kann. Kinder brauchen einen bewegten Alltag. Im besten Fall fängt der im Elternhaus an, setzt sich in der Kita und der Schule fort. Und natürlich im Verein.
Dafür sei ein qualifiziertes Angebot mit qualifizierten Fachkräften nötig. Und Bewegungsräume. „Wir brauchen keine Dreifelderturnhalle“, sagt Holze, „sondern freie Flächen.“ Sport- und Bewegungsräume müssten leicht erreichbar sein, so Holze, die etwa auch die Öffnung von Schulhöfen als Bewegungsstätte forderte: Sie brachte es auf den Nenner „Kurze Beine, kurze Wege.“
Und: „Ein Jahr Pandemie ist für uns alle lang, für Kinder aber ein großer Teil ihrer bisherigen Lebenszeit“, so Holze. Sie fordert für die Zeit nach der Pandemie eine Art „Nachhilfepaket“ auch für den Kinder- und Jugendsport.
Mit Handicap noch schwerer
Ist für Kinder und Jugendliche im Allgemeinen das kontakt- und bewegungseingeschränkte Leben schon schwer genug, so ist es für Kinder und Heranwachsende mit Behinderungen noch schwerer. Lars Pickhardt, Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend (DBSJ), verwies darauf, dass Kinder und Jugendliche mit einem Handicap alle „weggesperrt sind“, obwohl die Behinderungen unterschiedlich sind, und viele zu keiner Risikogruppe gehören. In dem Jugendbericht sind die Belange von Kindern und Jugendlichen mit Handicap noch ausbaufähig. Teilhabe am Sportleben – es gibt schon eine Reihe von Projekten, die die DBSJ angeleiert hat, aber auch da gibt es noch viel Luft nach oben.
Die Arbeit im Kinder- und Jugendsportbereich erschwert auch der „Zuständigkeitswirrwarr“, wie es Folkmann bezeichnete. Eine spezielle Anlaufstelle für den Kinder- und Jugendsport wäre ebenso eine Erleichterung, wie „verbindliche Zielvereinbarungen“ mit den politisch Verantwortlichen.
Sachverständige waren: Professor Christoph Breuer (Deutsche Sporthochschule Köln), Dr. Sören Dallmeyer (Deutsche Sporthochschule Köln), Professor Nils Neuber (Universität Münster).
Für Verbände/Organisationen sprachen: Lars Pickhardt (Deutsche Behindertensportjugend), Kerstin Holze (Deutsche Kinderturn-Stiftung), Benjamin Folkmann (Deutsche Sportjugend), Andreas Silbersack (Deutscher Olympischer Sportbund), Randolf Stich (Staatssekretär, Land Rheinland-Pfalz).
Link zum Bericht des Ausschusses: https://www.bundestag.de/sport#url=L2Rva3VtZW50ZS90ZXh0YXJjaGl2LzIwMjEva3cxNS1wYS1zcG9ydC04MzA0MTI=&mod=mod539120