Nazis zerstörten jüdische Sportbewegung – Buch von Historiker Schilde auch lehrreich im Blick auf aktuelle politische Ereignisse
Berlin, 1. Mai. Der Historiker Kurt Schilde hat 1988 das Buch „Mit dem Davidstern auf der Brust – Spuren der jüdischen Sportjugend in Berlin zwischen 1898 und 1938“ veröffentlicht. Darin kann man anschaulich nachlesen, wie gesellschaftliche Gruppierungen sich begeistert einer Ideologie und deren Vertretern fügten. Gerade in diesen Tagen ist es nicht nur für sporthistorisch Interessierte eine empfehlenswerte Lektüre.
Überall in der Republik finden derzeit Gedenkfeiern zur Befreiung vom Nationalsozialismus und zum Ende des Zweiten Weltkrieges statt. Vor 40 Jahren hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai in Bonn eine der wichtigsten Reden der deutschen Nachkriegszeit. Nicht Kapitulation und Niederlage, sondern Befreiung von Krieg und nationalsozialistischer Diktatur sollten in Zukunft im Vordergrund des Gedenkens stehen. „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, sagte das Staatsoberhaupt und stellte klar, dass die Shoah nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt werden dürfe.
Die Rede des CDU-Politikers, die zunächst heftigen Widerspruch nicht nur aus den eigenen Reihen, sondern insgesamt in Deutschland hervorrief, war aus vielerlei Sicht eine Art Menetekel: In Deutschland sind antijüdische und rassistische Ausfälle und Anfeindungen wieder salonfähig. Nach langer Friedenszeit tobt wieder ein Angriffskrieg in Europa, Demokratien weltweit kommen ins Wanken, werden von Autokraten nach Gutdünken regiert und drangsaliert.
Weltmacht im Taumeln
100 Tage Präsidentschaft Donald Trump reichen, um die einst als mustergültig geltende Verfassung mit Dekreten und die Weltmacht USA ins Taumeln zu bringen. Vor keinem Gesetz, von keinem Gericht lässt sich der selbsternannte „greatest dealmaker“ aufhalten. Und seine Hofbücklinge nicken und applaudieren – manche von ihnen auch wider besseres Wissen, was alles noch schlimmer macht. Über die Demokraten und das gesamte Land, das sich als „Land of the Free“ begreift, hat sich eine bleierne Schwere gelegt: Angst, Verunsicherung, Versprechen – Donald Trump spielt eine infame Klaviatur, die bisher Widerstand verstummen läßt.
„Nie wieder“ ist der Satz, der nicht nur die Deutschen erinnern und mahnen soll, dass Krieg, Ausgrenzung, Vernichtung sich gegen jeden von uns richtet. Darüber sollen vielleicht auch jene nachdenken, die einen „Schlussstrich“ unter die deutsche Erinnerungskultur ziehen wollen, wie in einer neuen Memo-Studie der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) nachzulesen ist. 38,1 Prozent stimmten dieser These zu.
Nippe: Aus Geschichte lernen
Manfred Nippe, seit 1967 hauptamtlich im Sport tätig, u.a. ehemaliger Jugendreferent im Landessportbund Berlin, sieht das ganz anders. Aus Erinnerung und Geschichte lernen und die richtigen Schlüsse ziehen – das sind die Argumente, die ihn auch bewogen haben, zusammen mit Professor Hans Joachim Teichler das Buch „Mit dem Davidstern auf der Brust“ des Berliner Historikers Kurt Schilde neu aufzulegen, das 1988 die Berliner Sportjugend herausgegeben hat.
Gerade am Beispiel des organisierten Sports zeigt Schilde besonders eindrucksvoll, wie zuerst schleichend, aber dann immer offensichtlicher sich eine gesellschaftliche Gruppe, aber auch immer mehr Jugendliche sich den nationalsozialistischen Ideen annäherten, Gefallen daran fanden und alles andere wie Freundschaften, Nachbarschaft, Mannschaftsgeist etc. nichts mehr wert war. Der nationalsozialistische Schlund schluckte alles und immer gieriger.
„Keine Reservate“
Viele Sportverbände hatten schon vor der politischen „Gleichschaltung“ jüdische und nicht arische, aber auch politisch unbequeme Mitglieder ausgeschlossen. Mehr oder weniger offen gingen Sportführer mit ihren Sympathien für die Nazis um, waren der NSDAP bereits beigetreten. In seinem Buch „Der Weg des Sports in die nationalsozialistische Diktatur“ schrieb der Historiker Hajo Bernett: „Der Vorgang der politischen ‚Gleichschaltung‘ – für dieses schreckliche Wort gibt es kein Synonym – hat im Dritten Reich alle gesellschaftlichen Handlungsfelder erreicht. Gegenüber dem Totalitätsanspruch der nationalsozialistischen Revolution gibt es keine Reservate. Die ‚bürgerliche‘ Turn-und Sportbewegung, die sich bis 1933 für „unpolitisch“ erklärt, wird der Radikalkur der Politisierung unterzogen. Nach Auflösung der Arbeitersportverbände stößt der geforderte Anpassungsprozess nur auf geringen Widerstand, zumal die weltanschauliche und organisatorische Formierung am langen Zügel vonstatten geht.“
„Die einzig wirklich angenehme Erinnerung“
In vielen Bereichen wurden jüdische BürgerInnen schon drangsaliert: ob an Arbeitsplatz, Schule , Universität oder im Alltags- und Freizeitbereich. Der Sport war ganz vorne dabei. Schilde zitiert die Zeitzeugin und Holocaust Überlebende Inge Deutschkron: „Vielleicht ist die Erinnerung an diese Stunde auf dem Sportplatz im Grunewald die einzig wirklich angenehme Erinnerung an meine Schulzeit. Alles Bedrückende, das auch in der Schule auf uns lastete, war dort wie weggeweht.“ Aber es war ein kurzer Moment des Durchatmens: „Wenn wir allerdings zur Rückfahrt in den S-Bahn-Zug einstiegen, war diese gelöste Atmosphäre schnell wieder verflogen“, erinnert sich Deutschkron.
Die Art des Umgangs mit jüdischen Mitgliedern in deutschen Verbänden und Vereinen hatte schon in den 1930-er Jahren dazu geführt, dass die jüdische Sportbewegung wuchs, eigene Vereine gründete wie den Turnverein Bar Kochba. Und auch eigene Sportstätten hatte. Inge Deutschkrons Sportplatz Grunewald war das Zentrum des jüdischen Sports in Berlin, das 1931/32 in Eigenleistung ausgebaut wurde.
Doch das Insel-Gefühl, die vermeintliche Sicherheit auf dem eigenen Terrain war bereits im Herbst 1933 vorbei – plötzlich waren die jüdischen SportlerInnen auf dem Platz nicht mehr willkommen. SA-Männer schikanierten nicht nur bei den deutschen Makkabi-Meisterschaften die AthletInnen. Veranstaltungen des jüdischen Jugendbundes Makkabi Hazair wurden verboten.
Erst nach den Olympischen Spielen
Es ist beklemmend zu lesen, wie infam und berechnend die Machthaber mit den jüdischen Sportlern und Sportlerinnen sowie ihren Organisationen umgingen. Es gab radikale Parteikreise, die den jüdischen Sport sofort liquidieren wollten – aber da standen ja die Olympischen Spiele 1936 ins Haus. „Die aufschiebende Wirkung der Olympischen Spiele 1936 hinsichtlich der Judenverfolgung ist vielfach belegt und dokumentiert“, schreibt in einem ergänzenden Beitrag der Sporthistoriker Teichler. Trotzdem gingen die Schikanen weiter, etwa „jüdische Schüler vom vorgeschriebenen schulischen Schwimmunterricht auszuschließen… . Das Entfernen antijüdischer Schilder (etwa Badeverbote für Juden, Red.) im Umfeld der olympischen Wettkampfstätten blieb aber vielen ausländischen Besuchern nicht verborgen“, so Schilde. Ebenso wie der Umgang mit deutschen Intellektuellen, die sich den Nazis nicht beugen wollten – die Bücherverbrennung 1933 hatte schon eine Absatzbewegung in Gang gesetzt.
Die internationale Sportwelt zeigte wenig bis gar keine Gegenwehr und reiste nach den Spielen mit einem trügerischen Bild von Deutschland in ihre Heimatländer zurück. Und der deutsche Sport hatte sich zum Handlanger von Mördern und Verbrechern gemacht.
Mit den November-Pogromen 1938 zerschlugen die Nationalsozialisten den jüdischen Sport wie angekündigt: Verwaltungen, Turnhallen, Sportplätze und Jugendheime jüdischer Sportvereine wurden beschlagnahmt. Auf dem Sportplatz Grunewald wurde ein Barackenlager für ausländische Zwangsarbeiter errichtet.
Deportiert und ermordet
Viele Sportler und Sportlerinnen wurden deportiert. Die Leichtathletin Lilli Henoch wurde 1942 nahe Riga erschossen, die Turnbrüder und Olympiasieger Alfred und Gustav Flatow starben beide im Konzentrationslager Theresienstadt, Fußballnationalspieler Julius Hirsch wurde im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Die Wanderausstellung „Zwischen Erfolg und Verfolgung – jüdische Stars im deutschen Sport bis 1933 und danach“, die anläßlich der Makkabiade 2015 in Berlin vorgestellt wurde, erzählt von den Schicksalen vieler jüdischer Sportler.
NS-Aufarbeitung vom DOSB angekündigt
Der deutsche Sport, besonders die Deutsche Sportjugend, aber auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) haben sich mit diesem Thema immer mal wieder auseinandergesetzt. Der ehemalige DOSB-Präsident Alfons Hörmann hatte bei seiner Neujahrsansprache 2020 eine „aktivere Aufarbeitung der historischen Schuld des deutschen Sports im Nationalsozialismus“ angekündigt. In den folgenden hausgemachten Turbulenzen blieb das Thema allerdings auf der Strecke, obwohl es angeblich schon eine Art Konzept gegeben haben soll.
Fünf Jahre später, im Januar 2025 – 80 Jahre Befreiung – überrascht der DOSB mit einer Pressemitteilung, in der er die „NS-Aufarbeitung im DOSB und für den Sport“ erneut ankündigt. Dabei ist es bisher aber geblieben. Auf Nachfrage beim DOSB vor kurzem, ob man nun Hörmanns Versprechen einlösen will, antwortet die Pressestelle: „Wir zahlen mit dieser Forschung zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in NOK und DSB auf dieses Versprechen ein. Vor allem aber ist es der Anspruch des DOSB-Präsidiums und des DOSB-Vorstandes, sich intensiv mit der Vergangenheit auseinanderszusetzen.“
Zumindest sind schon mal zwei Wissenschaftler auserkoren, die Forschungsarbeit zu übernehmen. Dr. Jutta Braun vom Leibniz Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Dr. Berno Bahro (Departement für Sport- und Gesundheitswissenschaft der Uni Potsdam). Wie nun genau der Forschungsauftrag sein soll, darüber konnte Bahroin einem Telefonat noch keine konkrete Aussage machen. Jedenfalls wird die Stiftung Deutscher Sport des DOSB die Kosten für das Projekt übernehmen.
Die Einlassung des DOSB zur Aufgabenstellung liest sich so: „Im Fokus stehen Persönlichkeiten, die nach 1945 leitende Funktionen im deutschen Sport innehatten. Einbezogen werden hierbei die InhaberInnen von Ämtern in Präsidien und Geschäftsstellen des DSB seit 1950, die Mitglieder des NOK für Deutschland seit 1949 sowie auch die Mitglieder des NOK der DDR seit 1951 … Angesichts bereits existierender Forschungen wird es auch darum gehen, jene Personen zu identifizieren, deren Vergangenheit noch nicht Gegenstand einschlägiger Forschung war.“
Zurück zur Gegenwart, einem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und bedenklichen Entwicklungen in Demokratien wie den USA, Argentinien, Ungarn oder Slowakei oder anderen. Kurt Schildes Buch ist eine Art Plädoyer dafür, schon bei den kleinsten Anzeichen von undemokratischem, ideologisch gesteuertem Vorgehen Widerstand zu leisten.
Kurt Schilde: Mit dem Davidstern auf der Brust, Spuren der jüdischen Sportjugend. Vbb Berlin 2024
Hajo Bernett: Der Weg des Sports in die nationalsozialistische Diktatur, Verlag Karl Hofmann, Schorndorf 1983