Eine unheilige Allianz und „Wunderwaffen“ des DDR-Sports

Symposium in Schwerin über staatliches Doping und die gesundheitlichen Folgen für die Athleten

Berlin, 28. Oktober. Staatsplan 14.25: Unter dieser Bezeichnung wurde 1974 in der Deutschen Demokratischen Republik der Grundstein zum flächendeckenden Doping gelegt. Mit mehr Geld für gezielte Dopingforschung sollte der DDR-Spitzensport mit Athleten und Medaillenglanz für das sorgen, was der damaligen Staatsführung so wichtig war: Weltweites Ansehen des Arbeiter- und Bauernstaats. Welchen Preis Sportler und Sportlerinnen dafür zahlen mussten, wie menschenverachtend mit ihnen umgegangen wurde, darüber gibt es mittlerweile Einblicke – dank mutiger Betroffener, dank des Dopingopferhilfevereins (DOH) und seiner Vorsitzenden Ines Geipel mit ihrem Team. Und dank Wissenschaftlern wie Professor Harald Freyberger von der Uni Greifswald und Doktor Jochen-Friedrich  Buhrmann, Chefarzt der Psychosomatik der Helios Kliniken in Schwerin. Diese luden nun zu einer Veranstaltung „Staatliches Doping in der DDR – Kenntnisstand und gesundheitliche Folgen“ ein.

Die Unruhe unter den Zuschauern ist sichtbar und spürbar in dem gläsernen Tagungsraum der Schweriner Industrie- und Handelskammer. Was Ines Geipel eben berichtet, löst Kopfschütteln und Ungläubigkeit aus. Die ehemalige Leichathletin, ein Kind der DDR, hat Doping, dessen Verweigerung und die Folgen selbst erfahren müssen. Auch in diesem Moment scheint es, als drängte sich ihr deshalb unausweichlich somit der Kampf gegen Doping und die Aufklärung des DDR-Staatsdopings als Lebensaufgabe auf. Sie ist die Stimme und das Gesicht für die Opfer, von denen immer mehr immer mutiger werden, sich der Vergangenheit im DDR-Sport und ihrem Leben heute stellen.

Ines Geipel sitzt derzeit wieder viele Stunden in einem Archiv. Diesmal in Freiburg, wo sie Akten wälzt. Und – trotz aller Unsäglichkeiten, die im Laufe der Jahre im Staatssport der DDR schon aufgedeckt wurden, findet sich immer wieder etwas in den Dokumenten, was man bisher nicht für möglich gehalten hätte. Selbst für hartgesottene und auf diesem Gebiet erfahrene Menschen sind manche neuen Erkenntnisse wieder ein Schlag in die Magengrube, bei dem mal kurz die Luft wegbleibt. Wie mag sich das Lesen von  Verdrängtem und Vergangenen dann erst für die Betroffenen anfühlen?

Militär und Sport

Diesmal sind es Belege dafür, wie Militär und Sport in der DDR, speziell auch die Sportmedizin im Forschungsbereich zusammengearbeitet haben. Rücksichts- und skrupellos wurden Menschen zur Feldstudie: An Babys, Schwangeren, Gefangenen und eben Sportlern wurde nicht nur mit anabolen Steroiden herumexperimentiert. Zynisch sind Wendungen, die sich etwa in einem Forschungsauftrag wiederfinden wie „leistungsorientierte Verwendung von Frauen“. Ines Geipel spricht von „Leistungs-Eugenik“ einer modernen Diktatur.

Was den Sportlern und Sportlerinnen verabreicht wurde, das sollten sie nicht erfahren. IM „Technik“ alias Doktor Manfred Höppner, Chefinitiator des DDR-Staatsopings, hielt das für die Staatssicherheit fest. Wenn in der „Arbeitsgruppe unterstützende Mittel“ über neue chemische „Wunderwaffen“, die man auch aus dem Westen teuer importierte – etwa das Wachtumshormon Somatropin – und deren Einsatz diskutierte, schrieb der IM fleißig für die Stasi Berichte.

Bestürzt

Viele Zuschauer, die hier sitzen, können nicht fassen, was sie da hören – wie sich das Sport-System intern mit anderen staatlichen Systemen verknotete, schalten und walten konnte – menschliche Kollateralschäden wohl kakuliert. „Ich kann nicht glauben, dass sich Ärzte für so etwas hergeben“, sagt ein Medizinstudent aus dem Publikum in der Pause. „Ich beschäftige mich zum ersten Mal mit der Thematik – ich bin bestürzt.“

Und dieses Gefühl verstärken die Wissenschaftler durch ihre Forschungs-Ergebnisse: Dopingopfer sind 2,7 Mal so oft krank wie ein Durchschnittsmensch. Sie tragen ein fünffaches Risiko Krebs, Herz-Kreislauf- oder Magen-Darm-Krankeiten zu bekommen. Ihre Lebenserwartung ist zehn bis 15 Jahre verkürzt.

Sie leiden an Depressionen und Essstörungen, ausgelöst durch enormen Leistungsdruck, Misshandlungen und Missbrauch. Nicht zuletzt wegen diesen Befindlichkeiten sind viele auch zwangsläufig arbeitslos oder arbeitsunfähig. In ihrem bisher einmaligen Forschungsprojekt haben Freyberger und Buhrmann die Datenbank des Dopingopfer-Hilfevereins und mehrere 100 Fragebögen, von denen 1000 verschickt wurden, und Gutachtergespräche mit den Betroffenen ausgewertet.

Von der Hölle in die Hölle

Daten, die auch Lebensgeschichten beinhalten. Geschichten, wie die eines heute 52-jährigen ehemaligen Leichtathleten, die Buhrmann erzählt: Die Geschichte von einem Jungen, der meinte, aus der Hölle zu Hause zu entkommen, wo er von seinem Vater verprügelt wurde. In der Jugend- und Sportschule käme er ins Paradies, glaubte er. Und stellte schnell fest: Das Paradies war noch schlimmer als die Hölle. Und aus der ist er bis heute nicht entkommen – das fremdbestimmte Leben von einst mündete in das verkorkste Leben und daraus resultierenden Lebens-Krisen von heute. Das versucht er nun zu verstehen. Der ehemalige Kugelstoßer wurde von seinem 13. bis 17. Lebensjahr mit Dopingmitteln vollgestopft. Davon erfuhr er erst 2016 kurz vor einer Operation wegen Problemen mit dem Skelettapperat. Heute ist er ein Pflegefall – Stufe zwei.

„Ich kreuze immer das Schlimmste an, aber das Schlimmste steht gar nicht daruf“, schreibt ein Dopingopfer auf den Fragebogen des DOH – und drückt das aus, was wohl viele unter den 15 000 potentiellen Betroffenen empfinden.

Die Spätfolgen des staatlich verordneten Zwangsdopings in der DDR haben ein deutlich größeres Ausmaß als bisher angenommen. So das bisherige Fazit der Studie, die 2015 gestartet wurde und noch bis Mitte 2018 laufen soll. Und die erste in diesem Umfang ist. Bei den 60 ehemaligen DDR-Leistungssportlern, die Traumaforscher Freyberger untersuchte, wurden in allen Fällen Schädigungen festgestellt. Die meisten haben mit Skelettschäden zu kämpfen, Folgen einer Überlastung in der Wachstumsphase. Die damals Heranwachsenden mussten ständig Schmerzmittel einwerfen und weiter trainieren. Pause, schonen, auskurieren – Fremdwörter für Trainer und Zuchtmeister des DDR-Sportregimes.

Schon im Alter von sieben bis zehn Jahren, so die Forscher, seien Kinder für den Leistungssport rekrutiert worden. Und auch ihnen sei Testosteron als Dopingmittel in hohen Dosen verabreicht worden. Bis zu 60 Milligramm wurde Athleten gegeben. Im klinischen Bereich seien ein bis zwei Milligramm pro Tag üblich.

Als Eltern schwer geprüft

Als Kinder zwangsgedopt, als Erwachsene krank und depressiv. Und auch als Eltern werden manche Dopingopfer nochmals schwer geprüft: Manche ihrer Kinder haben Behinderungen. Deshalb wollen sich nach Abschluss der jetzigen Studie die Ärzte den Kindern der Doping-Opfer widmen. Die Fragestellung lautet: Gibt es einen möglichen Transfer körperlicher und psychischer Schäden in die nächste Generation der Dopinggeschädigten? Für die Betroffenen ist es schwer auszuhalten, dass auch ihre Kinder noch Opfer des DDR-Regimes geworden sein können. Manche geben sich selbst die Schuld.

Entschuldigungen dagegen wären schon lange angebracht. Bis heute ist das nicht passiert. Das sei besonders schlimm für die Dopingopfer, sagt Freyberger. Genauso wie das Schweigen der Trainer. Oder von Top-Athleten. „Würden DDR-Medaillengewinner anfangen, über das Zwangsdoping zu sprechen, dann hätte das eine große Signalwirkung.“ Doch damit ist nicht zu rechnen – sie machen Karriere und zucken nicht mit der Wimper, wenn sie sich vor dem Fernsehzuschauer zum Beispiel über aktuelle Dopingvorfälle empören. Sie lebten offensichtlich in einer anderen Republik in einem anderen Sport – und gehören nicht zu denen, denen man ihre Kindheit und ihr gesamtes Leben ruiniert hat.

Noch immer auf Distanz

Auf Distanz gehen mit den Dopingopfern made in DDR war nach der Vereinigung lange Methode des westdeutschen Sports, der selbst viele leere Pillenschachteln und gebrauchte Spritzen vor der eigenen Tür wegzukehren hat(te). Distanz hält auch nach wie vor der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), der sich aber nun immerhin durchgerungen hat, finanziell eine DOH-Geschäftstelle zu unterstützen.

2016 verabschiedete die Politik das Dopinghopferhilfegesetz (DOHG). Anerkannte DDR-Dopingopfer erhalten seitdem vom Bund eine Einmalzahlung von 10 500 Euro aus dem 10,5 Millionen-Fonds. Um allerdings als Dopingopfer anerkannt zu werden, müssen die Schädigungen zu über 50 Prozent als Folge des Dopings belegbar sein. Oft ein weiteres Dilemma: Für die Opfer ist es schwierig, an beweiskräftige Akten und Gutachten zu kommen. Da fehlt die Unterstützung von Landessportbünden und Ärzten.

Eine wirkliche Dopingaufarbeitung – und zwar für Ost und West – ist deshalb nach wie vor Fehlanzeige und liegt in weiter Ferne. „Die Forschung zum DDR-Sport steckt seit 20 Jahren fest“, so das nüchterne Urteil von Ines Geipel. Obwohl sie gerade dringender denn je wäre.

Re-Import des DDR-Sports

Schließlich bastelt man ja an einer Leistungssportreform, die zum Medaillenerfolg führen soll. Die Reform-Macher weisen mit Empörung die Kritik zurück, dass vieles in dem Konzept an den Staatssport in der DDR erinnert. Völlig falsch – man habe sich am Sportsystem im Vereinigten Königreich orientiert. Der nun wiederum hat sich, wie Experten von der Insel gerne bestätigen – den DDR-Sport zum Vorbild genommen. Und somit haben wir den Re-Import des DDR-Sports. Welche Ironie!

Die nur noch durch den verstorbenen ehemaligen Präsidenten des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR, Manfred Ewald, zu toppen ist: Der verlangte bei einer Besprechung, ausgegebene Dokumente zu Dopingbeschlüssen lieber wieder einzusammeln. Denn, so berichtet IM Technik alias Dr. Höppner am 5. November 1974, Ewald habe das damit begründet, „es sei besser, wenn über diese spezielle Frage kein unnötiges Material vorhanden ist, man könne ja nicht wissen, wie alles kommt“. Manchmal können solche Vorahnungen schon komisch rüberkommen – zumindest für die Nachwelt.