Gequältes Kind im DDR-Sport: Susann Scheller – DOH hofft auf Entfristung des Doping-Opfer-Gesetzes
Berlin, 3. Mai. Das Leben der Anderen…. Immer, wenn die Doping-Opferhilfe (DOH) zu einer Pressekonferenz wie am Mittwoch einlädt, dann ist man mit dem Leben dieser Anderen in Ostdeutschland konfrontiert. In einem Sportdeutschland, wo alle menschlichen und sportlichen Werte mit Füßen getreten wurden. Wofür? Damit das DDR-Regime über den Sport internationale Anerkennung fand. Als Diplomaten in Trainingsanzügen waren sie unterwegs, das schönste Gesicht des Sozialismus, die erfolgreiche Eiskunstläuferin Katarina Witt, lächelte für die Heimat und lobte brav in den Pressekonferenzen vor der Weltpresse den Arbeiter-und Bauernstaaat. Sie verkörperten „the bright side“ des Systems der DDR, waren die medaillenbekränzten Sonnenkinder.
Susann Scheller gehörte zu den Schattenkindern. Wenn die gebürtige Potsdamerin von ihrer Sportvergangenheit in der DDR erzählt, dann läuft dem Zuhörer ein kalter Schauer über den Rücken. Sie berichtet von regelmäßiger Blutwäsche, von fürchterlichen Schmerzen, von einem bunten Tabletten-Potpourri, das die SportlerInnen einnehmen mussten und das ihnen als Vitamine verkauft wurde. Von Demütigungen und Hunger, von unendlich langen Trainingstagen und großer Müdigkeit. Sie erzählt die Geschichte eines Kindes, das Trainern, Funktionären und Medizinern hilflos ausgeliefert war.
Auch die heute 44-jährige hat lange gebraucht, um mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.
Zerplatzter Traum
Schöne Kindheit? Von wegen. Mit neun Jahren war sie von zu Hause nach Halle, später nach Leipzig in die Kinder- und Jugendsportschule gekommen. Damals hatte sie einen Traum: Sie wollte Karriere als rhythmische Sportgymnastin machen. Aber ganz schnell war der Traum zerplatzt: Enormer Druck, Überforderung und ein rücksichtsloses, unbarmherziges Erwachsenen-Regiment machten das kindliche Leben im Sportinternat zur Hölle. Nicht nur sie, sondern „wir alle in unserer Gruppe sehnten uns nach einer langen Pause, Ruhe“. Kein Wunder bei einer 40-Stunden-Belastung pro Woche, mit vier Trainings-Einheiten pro Tag, an dem der Schmerz zum ständigen Begleiter wurde. Wie aus der Mühle rauskommen? Was ist die Lösung? Als letzten Ausweg sahen viele eine Verletzung. „Wir haben darüber nachgedacht, uns selbst zu verletzen. Den Arm zu brechen, Fieber vorzutäuschen oder uns zu schneiden“, erzählt Susann Scheller.
Bewusst war ihr lange nicht, was ihr da widerfahren ist. „Ich war nach meiner Karriere, die ich mit 17 beendet habe, traumatisiert, habe das aber überhaupt nicht registriert.“ Aber dass ihr im „tiefsten Innern irgendwas zu schaffen machte“, das fühlte sie.
Panikattacke
Knorpelschäden, Bandscheibenvorfälle, Depressionen und Panikattacken erinnern sie an ihren sportlichen Traum, der zum Albtraum wurde. „Mein kompletter Skelettapparat ist nicht mehr alltagstauglich“ sagt sie, die immer glaubte – trotz des versteckten Traumas – unheimlich stark zu sein. Eine Art unterbewusster Knoten fing an, sich zu lösen durch eine Panikattacke – und das war dann auch der Auslöser, etwas zu unternehmen. „Ich hatte fast eine Woche lang eine Panikattacke, und mir hatte jemand gesagt: Pass mal auf, du bist posttraumatisch unterwegs.“
Susann Scheller telefonierte mit ihren ehemaligen Teamkolleginnen, und stellte fest: den anderen ging es ähnlich. „Es war befreiend. Und gut zu wissen, dass man nicht alleine Probleme hat, sondern dass es den anderen auch so geht.“
Ein erster Schritt
Den Mut sich zu outen und Hilfe bei der DOH zu suchen, war der erste Schritt, ihre bis dahin unbewusste Dopingvergangenheit anzugehen. Traumatische Erlebnisse kamen zu Tage. Zusammen mit den früheren Kolleginnen aus dem Nationalteam versucht die ehemalige dreifache Vizemeisterin ihre schmerzreichen Kindheitsjahre in der Sportschule Zinnowitz zu sortieren.
Das gemeinsame Aufarbeiten, unterstützt von der DOH-Vorsitzenden Ines Geipel, half den etwa zwanzig Gymnastinnen von einst. „Wir unterstützen uns, helfen einander mit Ratschlägen, wenn es mal nicht so gut ist“, sagt Scheller. Denn emotionale und depressive Einbrüche gibt es immer wieder.
Susann Scheller ist eine von 1000 Betroffenen, die beim DOH Hilfe suchten. Sie ist mittlerweile auch anerkanntes Dopingopfer. Etwa 15 000 Athletinnen und Athleten waren in das Leistungssportsystem der DDR eingebunden.
Seit zwei Jahrzehnten
Ines Geipel, selbst anerkanntes Doping-Opfer, kämpft seit fast zwei Jahrzehnten für die Rechte der Geschädigten. Neben den bislang bekannten Spätfolgen wie schweren Organschädigungen, Herzerkrankungen oder Tumoren wird jetzt eine weitere Dimension des Dopings deutlich: Eine Studie untersucht auf Basis der von der DOH erhobenen Daten die Spätfolgen des Dopings. Harald Freyberger, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Greifswald ist einer der federführenden Wissenschaftler dieser Studie. Die Langzeitstudie zeigt unter anderem, dass etwa 20 Prozent der Doping-Opfer von sexueller Gewalt oder Missbrauch durch Trainer und Sportärzte betroffen und schwer traumatisiert sind. „Je früher sie integriert waren in dem System, desto schwerer sind sie traumatisiert“ sagt er in einem DLF-Gespräch.Dass das System jemand unbeschadet überstanden hat, bezweifelt Freyberger: „Für eine Medaille wurden 100 Kinder zerschlissen.“ Er ist davon überzeugt, dass auch bei Stars, die sich der Problematik nicht stellen wollen, bei einer Untersuchung Schäden gefunden würden.
Fest steht, dass mittlerweile 130 Kinder von Dopingopfern auch als Folge der so gerne verteilten unterstützenden Maßnahmen zum Opfer wurden.
Freyberger hofft, dass auch die große Masse – etwa 8000 bis 13000 der schweigenden Opfer – ermutigt werden, über ihr fremdbestimmtes Leben im DDR-Sport zu sprechen. Die Zeit drängt, denn bis zum 30. Juni dieses Jahres müssen Doping-Opfer ihre Ansprüche beim Bundesverwaltungsamt auf Entschädigung gestellt haben. Das sieht das zweite Doping-Opfergesetz vor, das im vergangenen Jahr in Kraft trat. Geipel drängt darauf, dieses Gesetz zu entfristen. Das heißt: Die Geschädigten brauchen mehr Zeit. Nicht nur, um sich zu outen, sondern dann auch noch alle Papiere zusammenzubekommen. Unter anderem ein ärztliches Gutachten, oder eher eine Bestätigung, dass ihre Erkrankung die Folgen von Doping sind. Viele Ärzte – selbst diejenigen, bei denen die Opfer lange Patienten sind – scheuen sich allerdings, eine derartige Beurteilung abzugeben. Aus Angst vor Regress. Oder manchmal auch deshalb nicht, weil man damit vielleicht auch seine eigene Lebenslüge erkennen und zugeben müsste.
Entfristung und ein Büro
Hilfe brauchen die Dopingopfer. Die Bundesregierung hat sie gewährt – mit 10,5 Millionen. Und nun hoffen die Opfer auf weitere Unterstützung für die Entfristung.
Ansonsten sind die DOH und die Betroffenen auf sich allein gestellt. Susann Scheller erzählte, dass sie den Deutschen Turnerbund, ihre ehemaligen Trainerinnen Birgit Guhr und Franziska Rawitzer sowie den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und die Nationale Antidoping-Agentur (NADA) anschrieb und um Hilfe bat. Nur die NADA antworte auf das Hilfegesuch.
Hilfe braucht auch der Doping-Opfer-Verein nun selbst. In vier Wochen steht der Verein, der bisher bei der Havemann-Stiftung untergekommen war, ohne Räumlichkeiten da. Schon seit längerem war immer mal wieder die DOH mit dem DOSB, den sie in der Pflicht sieht, deshalb im Gespräch. Vorstandsvorsitzender Michael Vesper hat ein weiteres Treffen in dieser Angelegenheit zugesagt. Ein vom DOSB finanziertes Büro wäre ja ein schönes Abschiedsgeschenk nach vielen leeren DOSB-Versprechungen, bevor er zum Jahresende in Rente geht.