Vor 75 Jahren in Bonn gegründet/Start mit vielen Hindernissen
Berlin, 19. September. Auch für den deutschen Sport ist das Jahr 2024 ein Erinnerungsjahr an einen Neustart nach dem Nazi-Regime, das vom damals organisierten Sport in seiner Mehrheit mit Feuereifer unterstützt und mitgetragen wurde. Vor 75 Jahren, am 24. September 1949, wurde im Festsaal des Museums Alexander König in Bonn das „Nationale Olympische Komitee von Deutschland“ (NOK) im Rahmen einer „Bundesfeier der deutschen Jugend und des deutschen Sports“ nach schweren Geburtswehen gegründet. Bundespräsident Theodor Heuss, gerade mal zwölf Tage als erstes Staatsoberhaupt der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland im Amt, hatte angeregt, dass NOK im Rahmen der Bundesfeier zu installieren.
Das NOK schrieb 57 Jahre Geschichte – und ist mittlerweile Geschichte: 2006 fusionierte es mit dem Deutschen Sportbund (DSB), und beide verschmolzen zum großen trägen Tanker Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB). Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern vor allem, weil der Sport mit „einer Stimme sprechen und Kräfte bündeln soll“, wurde der bis zuletzt umstrittene Zusammenschluss vollzogen.
Dieses Ansinnen – eine Stimme und gesammelte Power – klappte eher nicht. Der letzte DSB-Präsident Manfred von Richthofen, ein Befürworter der Fusion, gestand später ein, dass er dem ehemaligen NOK-Präsidenten Walther Tröger, der ein großer Skeptiker der Vereinigung war, Recht geben musste. Harald Pieper, weit über 30 Jahre als Pressesprecher erst bei der Deutschen Sportjugend, dann beim DSB tätig und somit ein Zeitzeuge, erinnert sich: „Manfred von Richthofen war nach kurzer Zeit sehr unzufrieden, wie dieses neue DOSB-Schiff dahindümpelte. Er hatte sich von der Fusion mehr versprochen – vor allem auch eine gesellschaftspolitische, gewichtige Stimme nicht nur für den olympischen Spitzensport, sondern auch für den Breitensport.“
Vertrauen verdienen
Doch zurück zu den Anfängen: Auch der deutsche Sport musste sich in der Weltgemeinschaft wieder Vertrauen verdienen. Besonders die Alliierten schauten mit Argwohn auf den Sport, der sich ja schon 1933 – damals noch ohne Anordnung – von „unliebsamen“ Mitgliedern trennte, heißt: Man warf nicht-arische Menschen aus dem Verein, den sie teilweise mit aufgebaut hatten.
Am 10. Oktober 1945 hatte der Alliierte Kontrollrat im Gesetz Nr. 2 mit den Bestimmungen über die Auflösung und Liquidierung der Nazi-Organisationen unter Punkt 43 auch den „NS-Reichsbund für Leibesübungen“ aufgelöst. Die einzelnen Zonen-Befehlshaber hatten aber sehr unterschiedliche Bestimmungen erlassen, wie denn nun die „Normalisierung des sportlichen Lebens“ erfolgen könnte. So hatten Briten und Franzosen schon im Dezember 1945 die Bildung von Sportvereinen ermöglicht, kamen deshalb mit einer neuen Direktive des Kontrollrats wenig später in Schwierigkeiten. Die Direktive 23 verlangte „Beschränkung und Entmilitarisierung des Sportwesens in Deutschland.“ Die Initiative dafür war vom sowjetischen Repräsentanten ausgegangen.
Unbelastetes Personal
Nicht nur die politische Gemengelage, so ist in Archiven nachzulesen, bildete hohe Hürden für die Reorganisation des deutschen Sports. Auch wer diesen deutschen Sport neu organisieren sollte, war umstritten. Wie konnte man Männern (und Frauen) vertrauen, die im NS-Sport an führender Stelle saßen, die Olympischen Spiele 1936 maßgeblich mitgestalteten und somit einen gelungenen Propagandacoup der Nazis mittrugen? Nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch eine brisante Frage. Nicht nur bei Spitzenkräften wie dem ersten NOK-Präsidenten Adolf Friedrich von Mecklenburg, der Beisitzer im NOK bei den Spielen 1936 war, sondern auch bei dem Namen Carl Diem, zuckten viele zusammen. „Es war natürlich nicht einfach, nach dem Krieg im Sport Verwaltungsleute mit Erfahrung zu finden, die unbelastet waren“, sagt Ulrich Schulze Forsthövel, Historiker und lange Leiter des DOSB-Projekts „Gedächtnis des Sports“ in der Frankfurter Otto Fleck-Schneise.
Deutsche (und die einst verbündeten Japaner) waren beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und bei den ersten Spielen nach dem Krieg – 1948 in London – unerwünscht. Aber alte Freundschaften, Seilschaften und Verbindungen, funktionierten dann doch.
Den US-Amerikaner Avery Brundage (von 1952 bis 1972 IOC-Präsident) und den Deutschen Karl Ritter von Halt, von 1951 bis 1961 NOK-Präsident, verband eine lange Freundschaft, seit sie bei den Spielen 1912 in Stockholm als Mehrkämpfer angetreten waren. Auch Diem, schon vor den Nazis ein „Sportmacher“, auf den sich die Nazis dann als OK-Generalsekretär der Olympischen Spiele 1936 verließen, der als Schriftführer NOK-Gründungsmitglied war und die Deutsche Sporthochschule in Köln gründete, hatte ins IOC nach wie vor gute Verbindungen. Es gab aber noch erhebliche Hindernisse.
Zur Entschuldigung nicht in der Lage
Das IOC erwartete von den Deutschen eine Entschuldigung für die vom NS-Regime begangenen Gewaltverbrechen. Eine Delegation, die Ende August 1950 diese in Lausanne vorbringen sollte, fand weder die Zustimmung des Hohen Kommissars General John McCloy noch sah sie sich zunächst imstande, eine Entschuldigung vorzutragen.
Die kam aber dann doch, als Verfasser wird Diem vermutet, und lautete so: „Die deutsche Sportjugend mißbilligt zutiefst die von den Verbrechen des Nazi-Regimes begangenen Grausamkeiten, die fast über die ganze Welt so viel Leid gebracht haben. Sie drückt hiermit ihr tiefstes Bedauern darüber aus. Sie hofft, dass es ihr bald gestattet wird, sich mit der Sportjugend der ganzen Welt zu vereinen, um beweisen zu können, dass sie willens ist mitzuarbeiten am Aufbau des Friedens, dem die Bemühungen des Wohltäters der Menschheit, Baron Pierre des Coubertin, vor allem galten.“
Und so schafften die Deutschen es, dass sie 1952 – nach langen und politisch schwierigen Verhandlungen wieder in die olympische Familie zurückkehren durften.
Die doppelten Deutschen
Politik begleitete das NOK seit der ersten Stunde: Die doppelten Deutschen waren stets Grund für Auseinandersetzungen zwischen den Funktionären aus Ost und West – und nach dem Mauerbau und in Zeiten des Kalten Krieges nahezu immer auf der Agenda des IOC. 1964 setzte sich Avery Brundage zum letzten Mal – nach über 100 Verhandlungstagen zwischen den beiden deutschen Delegationen und dem IOC – durch: Eine gesamtdeutsche Mannschaft ging in Innsbruck und Tokio nochmal an den Start. Später erinnerte sich Willi Daume, der 1961 NOK-Präsident wurde, an das entscheidende Gespräch und den Abgesang auf das gemeinsame Team so: „Links saß die eine Seite, rechts die andere deutsche Seite. Brundage fragte die einen: „Seid ihr Deutsche?“, dann fragte er die anderen: „Seid ihr Deutsche?“ Beide sagten ja, und so entschied er: „Na gut, dann wollen wir im Sport – zumindest im olympischen Sport – diese Gemeinsamkeit aufrechterhalten.“ Er verstand das als humanitäre Leistung des IOC. Und das IOC ist irgendwie auch heute noch stolz darauf.
Ab 1968 in Grenoble ging man dann getrennte Wege. Dennoch – man blieb mehr oder weniger im Gespräch. Je nach politischer Großwetterlage gab es es einen innerdeutschen Sportverkehr auf dem Platz und in der Halle, aber auch am grünen Tisch. Dass am Ende die doppelten Deutschen wieder vereint sein würden, daran glaubte in Zeiten, als sich die Blöcke des Ostens und des Westens hochgerüstet gegenüberstanden, niemand.
Ultimatum und Boykott
Am 23. Oktober 1974 unterbrach Radio Moskau sein Programm mit einer Sondermeldung: „Achtung! Soeben ist die Meldung eingegangen, dass die 75. Tagung des Internationalen Olympischen Komitees in Wien beschlossen hat,die Austragung der XXII. Olympischen Sommerspiele an Moskau, die Hauptstadt der UdSSR, zu vergeben.“
Was so stolz verkündet wurde, endete mit einem Boykott: US-Präsident Jimmy Carter stellte den Russen, die im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert waren, ein Utimatum, sich aus dem Land zurückzuziehen – mit der Boykottandrohung der Spiele. Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag forderten das NOK für Deutschland auf, sich dem Boykott anzuschließen. Das NOK entschied sich dann am 15. Mai 1980 in Düsseldorf mit 59 zu 40 Stimmen, nicht nach Moskau zu fahren.
Willi Daume, der wie kaum ein anderer den deutschen Sport der Nachkriegszeit und das NOK prägte, sprach wenige Tage später in seinem Büro in Frankenthal, immer noch gezeichnet von der Entscheidung, die ihm auch alle Chancen nahm, neuer IOC-Präsident zu werden (das wurde dann der Spanier Juan Antonio Samaranch), von „einer sinnlosen Maßnahme auf Kosten des Sports“. Vier Jahre später folgte der Gegenboykott bei den Spielen in Los Angeles.
Daume als Glücksfall
Freund wie Feind sind sich einig in der Beurteilung: Willi Daume war ein Glücksfall für den deutschen Sport. Seine Funktionärs-Karriere fing erst nach 1945 an. Der ehemalige Hand- und Basketballer, Olympiateilnehmer 1936, war Unternehmer und besaß eine Eisengießerei in Dortmund. Er galt als nicht belastet, erst Jahrzehnte später wurde er mit seiner Mitgliedschaft in der NSDAP konfrontiert. 1949 wurde er Präsident des neu gegründeten Deutschen Handballbundes und ein Jahr später erster Präsident des Deutschen Sportbundes.
Es war der Beginn einer ungewöhnlichen Laufbahn. Am Anfang nahm man den Ruhrpottler nicht ernst, bezeichnete den jungen Mann als „Däumling“, der später zum „Eisen-Daume“ mutierte, an dem im deutschen Sport keiner mehr vorbeikam. Er nahm die Dinge in Angriff. „Es war eine Mammutaufgabe, die aufgespaltene Sportbewegung mit all ihren verschiedenen Strömungen nach dem Krieg zu einer Bewegung zu machen“, sagt Schulze Forsthövel. Arbeitersport, bürgerlicher Sport, konfessioneller Sport – alle mussten unter ein Dach.
20 000 TeilnehmerInnen waren damals bei der Gründungsfeier. Und die Zusammenführung des Sports begeisterte den Bundespräsidenten: „Mag einer sagen, es sei zu viel. Ach Gott, es kann in Deutschland nach meiner Meinung nicht genug Vielfältigkeit des Lebens vorhanden sein. Wir wollen nichts mehr wissen von etwas wie einer Staatsjugend, in der ein deutscher Typus genormt werden soll.“
Daume verschaffte dem Sport und dem NOK Ansehen in der Gesellschaft, und die oft dem Sport gegenüber arrogante Kunstszene und Intellektuelle überzeugte er vom „Kulturgut“ Sport. Doch trotz vieler Erfolge: Tiefschläge wie die Boykotts musste das NOK immer wieder hinnehmen. Das schrecklichste Ereignis war das Attentat palästinensischer Terroristen bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Walther Tröger sagte Jahrzehnte später, dass ihn diese schrecklichen Tage nie wirklich losgelassen haben. „Manchmal ist die Erinnerung kaum auszuhalten.“
Ein weiterer Neuanfang für den deutschen Sport und das NOK war die deutsche Einheit. „Die Zusammenarbeit zwischen DSB und NOK war in diesen Zeiten sehr gut“, erinnert sich Pieper. Die Kritik, dass man den westdeutschen Sport den Ostdeutschen nur übergestülpt habe, ließen Daume, Tröger und der damalige DSB-Präsident Hans Hansen nicht gelten. Dass es auch hier wie damals bei der Neugründung Ärger ums Personal gab, war abzusehen. Tröger damals: „Wer glaubt, dass in allen Sport- und Führungsgremien keine Parteimitglieder und Politbüro-nahen Menschen saßen, ist weltfremd.“ Und: „Man hätte vieles besser und vielleicht auch anders machen können, aber die Zusammenführung ist im Großen und Ganzen gelungen“ sagte Tröger in der Rückschau.
Apropos gelungen: Ulrich Schulze Forsthövel, der mit Tröger in dessen letzen Lebensjahren eng zusammengearbeitet hat und dessen Archiv betreute, sagt, es sei „schon erstaunlich, wie aus einer kleinen Gruppe im Laufe der Jahre eine schlagkräftige und einflussreiche NOK-Truppe geformt wurde.“ Und dass da vor allem Daume und Tröger – so unterschiedlich sie gewesen sein mögen – dem NOK eine gute gesamtgesellschaftliche Rolle maßschneiderten. Das NOK, auch wenn es für den Olympischen Sport zuständig war, wenn man es so sagen kann, hatte immer den Breitensport mit im Blick.
Ob Daume oder Tröger: „Bildung, also Schulsport und somit Talent- und Nachwuchsförderung, aber auch Bewegungsprogramme für alle, wie etwa die Trimmaktion, unterstützten sie wohlwollend“, sagt Pieper. Und: „Auch mit dem internationalen Engagement, oft in Kooperation mit dem DSB, machte sich das NOK von Deutschland einen Namen. Und natürlich auch mit dem Zusammenspiel von Kunst und Sport.“
Auch damals war nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen. Es flogen manchmal die Fetzen, aber: Auch bei sportfachlichen Fragen war das NOK stets zum Diskurs mit dem DSB bereit. Und umgekehrt. „Man war oft unterschiedlicher Meinung, manchmal spielten auch persönliche Animositäten eine Rolle. Aber am Ende stand eine Entscheidung meistens im Sinne des Sports und der AthletInnen“, sagt Pieper.
Was wäre, wenn…?
Viele stellen sich heute die Frage: Was wäre, wenn es die Fusion nicht gegeben hätte? Würde der deutsche (Spitzen-) Sport heute besser dastehen? Hätte es eine klarere Aufgabenteilung gegeben? Bräuchte man dann eine Leistungssportagentur? Was wäre, wenn….? Die Antwort des NOK-Präsidenten Willi Daume wäre wohl damals wie heute: „Der Sport wird sein, was wir aus ihm machen. Macht die Gesellschaft wieder anständig, dann wird es der Sport auch sein.“