Othello muss warten – Müller darf spielen

Ein Wannseegespräch mit Volker Hassemer von der „Stiftung Zukunft Berlin“ über Kultur und Sport in und nach Coronazeiten 

Berlin, 12.Oktober. Theaterbühnen, Konzerthallen, Kabarettbrettl, Museen sind weltweit geschlossen. Das Coronavirus hat auch den Kulturbetrieb ausgeknockt. Im Sport tummelt sich die Profi-Fußball-Elite zwar wieder in den Stadien, aber vor wenig Publikum. Andere Profisportarten und Spitzensportler versuchen wieder ins Spiel zu kommen, doch sie werden vom Foulspiel des Coronavirus – Hygienekonzepte hin oder her – immer wieder gestoppt. Viele Breitensportler blieben in Bewegung als Solisten oder dank vieler kreativer Vereinsmenschen, die zeigten, dass einiges möglich ist, wenn man nur will.

Um Sport und Kultur in Coronazeiten geht es im Wannseegespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der gemeinnützigen „Stiftung Zukunft Berlin“ Dr. Volker Hassemer. Der gelernte Jurist war Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz in der Regierung Diepgen. Außerdem war er auch einmal für das Referat der Stadt für kulturelle Angelegenheiten zuständig.

Wie sich eine Stadt oder das gesamte Land entwickelt, vor allem das Leben miteinander unter verschärften Bedingungen, dafür ist die Coronazeit ein Lehrstück. In den letzten Wochen reden viele über Verantwortung, Solidarität, Miteinander. Nahezu täglich appellieren PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und Behörden an die Vernunft der BürgerInnen. Doch manche Zeitgenossen wollen sich nicht weiter einschränken lassen, rebellieren trotz steigender Fallzahlen, weil sie ihr „Leben leben wollen“ wie eine Berliner Klubbesucherin ihren „Widerstand“ als Partygängerin erklärt.

Zusammenhalt

Wie also bringt man Verweigerer, Querdenker, Provokateure, Gedankenlose, Egomanen und Mitläufer dazu, dass sie sich besinnen und Schutzmaßnahmen einhalten, damit wir die elende Plage Corona schnell und möglichst schadlos für alle hinter uns bringen?

Zusammenhalt und bürgerliche Mitverantwortung sind Themen, die sich die „Stiftung Zukunft Berlin“ als Ziele gesetzt hat. Sie will Bürgerschaft, Politiker und Entscheider zusammenbringen, sieht ihre Rolle als eine Art „Dienstleister“ und bietet Veranstaltungen und Plattformen zum Meinungsaustausch.

Volker Hassemer schafft es, die unterschiedlichsten Leute für die Projekte zu interessieren. Hier treffen sich gesellschaftliche Gruppen, die sich sonst vermutlich nur von ferne, sehr oberflächlich oder gar nicht begegnen würden. Geschweige denn ins Gespräch kämen. Was in Coronazeiten wichtiger denn je ist. Rund 500 BürgerInnen arbeiten in verschiedenen Initiativen bei der Stiftung mit. Zum Beispiel in einer AG Kultur und Sport. Da sitzen neben VertreterInnen der Berliner Bundesliga-Spitzensportvereine auch der Präsident des Landessportbundes Thomas Härtel, der Philosoph und Sozialwissenschaftler Gunter Gebauer, Schauspieler Ulrich Matthes, der Intendant des Deutschen Theaters Ulrich Khuon, der künstlerische Direktor der Schaubühne Tobias Veit oder Alice Stöver, Grünenpolitikerin und Geschäftsführerin der Freien Volksbühne e.V. um nur einige zu nennen.

Intellektuelle und Künstler haben schon immer eine Affinität zum Sport, besonders zum Fußball oder Boxen. Auch Bertolt Brecht, bekennender Boxfan, setzte sich mit Sport als Kulturgut 1928 unter dem Titel „Die Krise des Sports“ auseinander und kam zu folgendem Schluss: „Ich bin gegen alle Bemühungen, den Sport zu einem Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese Gesellschaft mit Kulturgütern alles treibt, und der Sport dazu wirklich zu schade ist. Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.“

Zu Hause bleiben

Folgt man Brecht, dann sind Ausnahmeregeln für den Sport im Ausnahmezustand eine logische Entwicklung: Während zum Beispiel im Profi-Fußball schon wieder vieles möglich ist, müssen viele Kulturschaffende immer noch zu Hause bleiben. Da drängen sich dann schon so Gedanken auf, dass vor allem die Politik nachsichtiger reagiert bei denen, die am lautesten schreien. Wenn Othello Monate lang nicht die Bühne betreten kann, dann ist das offensichtlich nicht so tragisch. Wenn aber die Bayern gegen die Borussen aus Dortmund nicht antreten können, dann setzen PolitikerInnen alle Hebel in Bewegung, damit Müller & Co. kicken können. Wird da der Sport nicht wieder mal bevorzugt?

Hassemer: „Beide Bereiche, wie überhaupt die ganze Gesellschaft werden im Augenblick großzügig vom Staat unterstützt, und diese Unterstützung, die sie nun erleben, sollten beide Bereiche als eine gesellschaftliche Anerkennung verstehen.“

Also sind Fußball und Spitzensport sowas wie die Hoch-Kultur des Menschen im 21. Jahrhundert? Ist Sport nun doch ein Kulturgut? Sind wir vom Land der Dichter und Denker zum Land der Kicker und Biker mutiert ?

Hassemer: „Das ist ein Thema, das natürlich weit über Corona hinausgeht. Es ist ein Manko, dass sich der Sport in der Vergangenheit nicht ausreichend positioniert hat als Teil unserer kulturellen Wirklichkeit. Er war eher Wettkampfsport oder individuelle Körperertüchtigung, allenfalls das Interesse an der Gesundheit der Gesamtgesellschaft. Das ist der Grund, warum wir hier in der Stiftung Sport und Kultur gemeinsam betrachten, weil wir deutlich machen müssen, da sind zwei Pfeiler des gesamtgesellschaftlichen Wesens, die bisher in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nicht ausreichend gewürdigt und auch genutzt wurden.“

Und warum ist das so?

Hassemer: „Gerade beim Sport drängt sich das operative Geschäft so in den Vordergrund, dass die grundsätzliche Analyse zu kurz kommt. Aber es liegt auch am Sport selbst, dass er diesen Anspruch in der Vergangenheit nicht gestellt hat. Ein Beispiel: Alle freuen sich, dass es jetzt in Coronazeiten mehr Zusammenhalt gibt. Dass kulturelles Leben und Sport ohne Zusammenhalt nicht möglich wären, ist vielen nicht klar. Werte des Zusammenhalts wie Teamgeist, Fairness, das Miteinander werden im Sport alltäglich gelebt – wenn es gut läuft – und würden auch der Gesellschaft insgesamt gut anstehen. Bisher ist das viel zu wenig. Vielleicht verleiht Corona in der Hinsicht der Gesellschaft einen positiven Schub in die Richtung.“

Neues Projekt

Zusammenhalt ist ein Wort, das sich durch das gesamte Gespräch zieht. Kennenlernen und zusammenbringen, Ideen und Ressourcen bündeln – so könnte man ein neues Projekt der Stiftung beschreiben. In einem Hangar in Tempelhof treffen sich Chöre, Kirchleute und Sportmenschen. „Wir sorgen für die Rahmenbedingungen, und nun müssen die Beteiligten etwas daraus machen“, sagt Hassemer.

Zusammenhalt und Zusammenarbeit sind auf regionaler oder lokaler Ebene vermutlich einfacher zu erreichen als auf den großen Sport- und Kulturbühnen. Da sind die Protagonisten im Sport oft zur sehr auf den Spitzensport und dessen Erfolgs – und Imagestrategien fokussiert, nicht zuletzt deshalb, weil davon ja auch die Förderung mit öffentlichen Mitteln abhängt.

Medaillen sind die Währung

Frage also: „Da Medaillen für die meisten PolitikerInnen und FunktionärInnen – trotz anderslautender Bekundungen – noch immer die entscheidende Währung im Sport sind, rücken andere inhaltliche und gesellschaftliche Argumente schon in Ansätzen an das Ende der Prioritätenliste. Wie sehen Sie das?“

Hassemer: „Es ist ein Fehler, die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Sports nicht im Auge zu haben. Natürlich geht es erst einmal darum, dass Spitzensport erfolgreich ist. Aber es reicht nicht, propagandamäßig nur Erfolge oder Medaillen zu feiern, sondern man muss offensiv damit umgehen, dass der Sport auch Angebote und Leistungen bietet, wenn es um Zusammenhalt oder Selbstbewusstsein geht. Durch ihre Arbeit haben große Fußballteams oder Vereine Länder auf die Weltkarte gesetzt. Sie haben Nationen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein vermittelt und somit eine soziale Leistung in die Gesellschaft getragen, die dadurch positiv – leider manchmal allerdings auch negativ – beeinflusst wird.“

Negative Einflüsse

Wer in den letzten Jahren (Spitzen-)Sport beobachtet, fühlt sich von solchen Aussagen doch herausgefordert. Denn: Die Sportwelt dominieren überwiegend negative Schlagzeilen, die von Korruption, Doping-Betrug, Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung, Rassismus etc. erzählen.

Kann man also ernsthaft diese „Sportfamilie“, wie sie sich gerne selbst bezeichnet, mit gutem Gewissen fördern und unterstützen? Müssen andere – wie etwa Ihre Stiftung, die das Positive im Sport so betonen und herausarbeiten, das tun, weil Sportfunktionäre dazu nicht in der Lage sind? Oder eben nur ein Ziel haben – wirtschaftlichen Erfolg, Macht, Image?

Hassemer: „Das ist richtig, wie und was Sie da beobachten. Wir müssen mit dem Sport zusammenarbeiten, und Zeiten wie diese sind eine Chance, etwas zu ändern. Sehen Sie, Krankenhäuser und ihr Management standen immer wieder in der Kritik. Von den Leistungen, die da erbracht werden, vor allem der ganz normalen MitarbeiterInnen, die für wenig Geld an ihre physischen und psychischen Grenzen gehen müssen, war selten die Rede. Das hat sich jetzt durch Corona geändert. Die Gesamtleistung wird nun gewürdigt und anerkannt – besonders derer, die sonst im Hintergrund arbeiten. Ich übertrage das nun mal auf Kultur und Sport. Eine große Anzahl von KünstlerInnen, SchauspielerInnen stehen im Schatten von wenigen, die da herausragen. Im Sport ist es genauso. Aber auch die vielen anderen bringen Leistung und tragen dazu bei, dass Kultur und Sport überall sind, den Alltag mitbestimmen – negativ und positiv. Sport und Kultur, das sind Lebenselixiere.“

Durch das Raster

Lebenselixier – das fehlt momentan aber vielen Kulturschaffenden: Vor allem die Soloselbstständigen unter ihnen fallen durch das Raster der staatlichen Unterstützungsprogramme. Spitzensportler haben es da leichter: Die sind entweder bei der Bundeswehr oder Polizei angestellt und versorgt. Andere, die studieren oder in Ausbildung sind, werden vom Bundesinnenministerium über die Deutsche Sporthilfe mit finanziellen Mitteln unterstützt. Ist da nicht eine Ungleichheit zu sehen: Beide tragen zur Unterhaltung bei?

Hassemer: „Da gibt es keine Abstriche für mich. Als Boris Becker seine Erfolge hatte, da löste er eine flächendeckende Bewegung aus. Wenn die Berliner Volleys spielen, dann ist das für den Volleyballsport eine Vitaminspritze. Viele Schüler und Jugendliche, die nie Profis werden, fühlen sich dadurch animiert und haben ein Vorbild. Und alle KünstlerInnen, die am Theater angestellt sind, bekommen weiter Geld. Ich sehe die Unterschiede vergleichsweise gering. Aber vor allem ist jetzt nicht die Zeit, da Unterschiede herauszuklamüsern, sondern die Synergien und das Miteinander herauszuarbeiten. Wir reden oft von der zunehmenden Bedeutung der Gesellschaft. Was ist denn Gesellschaft? Da hilft es oft, wenn man das Wort Gesellschaft buchstabiert: Da sind Sport und Kultur zwei ganz große Buchstaben. Das heißt: Beides entsteht aus der Gesellschaft, und die Gesellschaft ernährt sich aus den Leistungen, die Sport und Kultur erbringen.“

Der CDU-Politiker spricht von Werten „wie brillanten Leistungen, Vorbildhaftigkeit, Gemeinschaftssinn, Fairness und Wettbewerben“, die Sport und Kultur verbinden. „Es ist doch eindrucksvoll, wenn zwei bis an den Rand ihrer Möglichkeiten kämpfen und anschließend miteinander feiern. Egal ob sie gewonnen oder verloren haben – sie begegnen sich mit Respekt – das ist doch gesellschaftlich höchst willkommen.“

Wolkig, launige Brille

Wäre es, wenn es denn tatsächlich so wäre. Sieht man nicht durch die wolkig launige Brille, dann fallen manche Protagonisten unter den SportlerInnen -und das gilt sicher auch für den einen oder anderen Kulturschaffenden – nicht unbedingt durch Teamgeist auf. Vorbildfunktion – da steht bei manchen Akteueren ein dickes Fragezeichen. Stinkstiefel seien im Sport wie anderswo unterwegs – bei Aktiven, aber besonders unter manchem im Führungstross, sprich FunktionärInnen, sagte vor kurzem ein langjähriger Beobachter bei seinem Abschied in den Ruhestand. Natürlich geraten Aktive und Funktionäre nicht selten durch die Erwartungshaltung von innen und außen unter Druck, der dann Fehlverhalten – etwa Doping – auslösen kann. Herr Hassemer, haben Sie da nicht ein zu rosiges Bild vom Spitzensport?

Hassemer: „Ich finde, das kann man als Erziehungsmaßnahmen verstehen. Die Stinkstiefelhaftigkeit, wie Sie sagen, wird ja auch vorgeführt. Wenn sich einer fair benimmt, dann hat der Vorbildcharakter im besten Sinn. Aber wer sich daneben benimmt, der wirkt abschreckend und muss auch mit entsprechenden Emotionen von anderen rechnen. Das ist doch nicht schlecht. Allerdings: Wenn die Stinkstiefligkeit und Unfairness oder die Korruption zugedeckt wird, dann kann ich nur sagen: Man kann Probleme auch schlecht lösen. Aber auch da sind wir ja mit dem großen Wort der Transparenz etwas weiter gekommen.“

Transparenz vielzitiert

Das löst nun doch nun eher Spott beim Gegenüber aus. Die jüngsten Erfahrungen im deutschen Sport im Bezug auf Transparenz sind eher unterirdisch. Etwa in der nationalen Dachorganisation ist gerne von Transparenz, Wahrheit und Klarheit die Rede, aber die Realität sieht anders aus…

Ja, es gibt große Organisationen, die können machen, was sie wollen, sie kriegen es einfach immer noch nicht hin. Das heißt aber nicht, dass es nicht doch welche gibt, die sich bemühen. Man muss sich Ziele setzten. Hier in Berlin funktioniert die Kooperation zwischen nahezu allen Profivereinen immer besser, weil alle wissen, dass es wichtig ist, um voranzukommen“, sagt Hassemer.

Vorankommen – das wollen manche auch im Bezug auf Olympische Spiele. Und so wird Stadtentwicklung doch noch Thema am Ende des Gesprächs, obwohl Hassemer nicht so gerne öffentlich über sein altes Betätigungsfeld sprechen möchte. „Da handeln jetzt andere, das will ich nicht kommentieren.“ Aber Olympia, da fühlt er sich doch herausgefordert.

Mit Berlins olympischen Geschichten verbinden viele etwas Fatales, Tragisches, Peinliches und auch Dilettantisches. Sollte sich also Berlin nach schlechten Erfahrungen in Nach-Corona-Zeiten wieder für Spiele bewerben?

Der Stadtentwicklungssenator a.D. hat eine klare Meinung dazu: „ So wie Bewerbungen bisher gelaufen sind, wird es nicht gehen. Aber ja, man muss die Sache vom Kopf auf die Füße stellen. Das heißt: Die Stadt muss ihr eigenes Konzept und Strategie, ihre eigenen Spiele im verantwortlichen Rahmen der eigenen Möglichkeiten entwickeln. Und hat man ein auf die Stadt zugeschnittenes Konzept, dann kann sich das Internationale Olympische Komitee bewerben!“ Moment mal – das IOC soll sich bewerben? „Ja“, sagt Hassemer. Und er ist überzeugt, dass das so kommen wird. Nicht nur wegen Corona, nicht nur wegen der neuesten Kostenexplosion, des noch immer gepflegten Gigantismus oder der verschobenen Spiele in Tokio, wo übrigens an dem kulturellen Beiwerk der Eröffnungsfeier nun eingespart wird. Sondern auch, damit die Spiele überleben.