Die Seine als Star der Ouvertüre / Spiele unter besonderen politischen Vorzeichen
Berlin/Paris 25. Juli. Eigentlich beginnen die Olympischen Spiele erst am Freitag (26.Juli bis 11. August) offiziell, aber die ersten Athleten und Athletinnen im Fußball und Handball sind schon seit Donnerstag auf den Spielfeldern in Aktion, weil sie sonst mit ihrem Spielplan zeitlich nicht klar kommen würden. Der Countdown läuft. Und eins ist schon vorher sicher: Paris, das nach 1900 und 1924 zum dritten Mal Olympische Spiele ausrichtet, wird in mancherlei Hinsicht ein Wendepunkt in der olympischen Historie sein.
„Bonne Chance“, möchte man sagen – viel Glück Paris, dass alles gut über die Bühne geht. Denen, die nun wieder von friedenstiftenden Spielen, dem olympischen Frieden (den es nie gab) schwafeln, antwortet der US-amerikanische Politikwissenschaftler, IOC- und Sportkenner Jules Boykoff: „ Das IOC lebt in einer Phantasiewelt, in der Politik nicht existiert.“ Und nicht nur das IOC, sondern viele SportvertreterInnen tauchen nun gerne für etwas über zwei Wochen unter der künstlichen Glaskuppel Olympia in ihre heile Sportwelt ab.
„Bonne Chance Paris“, möchte man sagen, angesichts der innenpolitischen Probleme, die mit den überraschenden Neuwahlen nicht geringer geworden sind, dann der weltpolitischen Gesamtlage, deren eventuellen Folgen man nun mit einem martialischen Sicherheitsaufgebot entgegentreten muss. Schon das zeigt, wie absurd und aus der Zeit gefallen Olympische Spiele mittlerweile sind. Die Jugend der Welt feiert sich und ihre Leistungen, während Altersgenossen in Kriegen, an Fronten und Gefängnissen von machtgeilen Diktatoren ihr Leben lassen.
Heinrich Heines Traumstadt
„Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die vielen Boulevards von Paris“, beschrieb der Dichter Heinrich Heine, der die Hälfte seines Lebens in der Stadt „seiner Träume“ verbrachte, einmal das bunte Treiben in den Straßen, „ein Pantheon der Lebenden.“ Und dort auch 1856 starb und auf dem Friedhof Montmartre begraben liegt.
Paris, damals zu Heines Zeiten – wie auch heute zu Olympiazeiten, war und ist ein Zufluchtsort. Aber auch hier ist die Welt rauer geworden. Auch in Frankreich weht ein extrem rechter wie linker nationalistischer Gegenwind dem unerwünschten Fremden entgegen.
Als der gebürtige Düsseldorfer Heine, 33 Jahre alt, am 1. Mai 1831 mit großen Erwartungen nach Paris reiste, war das nicht freiwillig: Als geborener Jude, intellektueller Rebell, dem wegen „demagogischer Umtriebe“ eine Verhaftung drohte, sah er keine sichere Zukunft in Deutschland – und machte sich auf den Weg – mit vielen anderen deutschen Künstlern, Schriftstellern, Publizisten, aber besonders auch Handwerkern und Arbeitslosen in die französische Hauptstadt. Schon damals war dort das Motto: „Leben und leben lassen…“
Eine elegante Inszenierung
Nun also, wenn Gott sich langweilen sollte, wird ihm am Freitag ein „superbes“ Spektakel mit der Eröffnungsfeier geboten werden. Denn eines können die Franzosen und die Pariser ganz besonders: Die Inszenierung – nicht nur auf politischer Bühne. Mit einer Prise Pathos und Esprit, einem Schuss Kreativität und französischem Chic, höchst selten in der Nähe von Kitschzutaten, mixen sie ein Menü exzellent. Und das wird die Vorstellung auf der Seine ganz bestimmt, wo das historische wie das moderne Frankreich und seine Hauptstadt in eleganter Balance ihre Botschaften an die Welt senden werden.
Die Seine, der Star bei dieser Ouvertüre, wurde für diese Spiele besonders herausgeputzt. Der Fluss gilt als die Toilette von Paris, in die die Abwasser der Millionenstadt geleitet werden. Die „Saubere Seine“ wurde zum Prestigeprojekt von Staatspräsident Emmanuel Macron und der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo: 1,4 Milliarden Euro investierten Stadt und Staat in Kläranlagen, Auffangbecken und neue Kanalisation. Ob es am Ende wirklich ein nachhaltiges olympisches Erbe sein wird, an dem alle PariserInnen ihre Freude haben werden? Die Politik sagt ja. In die ökologisch saubere Seine sollen die BürgerInnen ab 2025 wieder hineinspringen dürfen und im Wassersportzentrum schwimmen.
Nun sollen erst mal SpitzenschwimmerInnen ihre Wettbewerbe im Fluss austragen. Die allerdings rümpfen die Nase und trauen der Versicherung nicht, man könne sich gefahrlos im Seine-Wasser tummeln. Und überzeugt hat sie weder der Hechtsprung der französischen Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra zum Bad in der Seine vor zwei Wochen noch das vorsichtige Hineingleiten der Bürgermeisterin Hildago einige Tage später. Die Skepsis ist berechtigt, denn nach heftigem Regen sind die gemessenen Bakterienwerte stets sehr hoch gewesen.
Gott sieht Trainingsanzüge
Gott wird derzeit viel Ungewöhnliches auf den Boulevards entdecken: Trainingsanzüge und sportliche Kleidung dominieren in den Straßen. Und noch mehr schwer bewaffnete Soldaten und Polizisten und Sicherheitsleute patroullieren. Absperrgitter erschweren den Weg zu den Sehenswürdigkeiten, weil dort Wettkämpfe ausgetragen werden. Und selbst Menschen, die dort wohnen, kommen nur mit Passierschein (Code) nach Hause. Das Hôtel de Ville – das Pariser Rathaus – ist mit olympischen Plakaten behängt, manche sagen: verunstaltet. Am Eiffelturm leuchten die Olympischen Ringe. Auf Schritt und Tritt ist Olympia präsent. Das Sport-Großevent hat die Stadt übernommen, ja gekapert – seine Einwohner eher nicht.
Die meisten, so heißt es, haben die Stadt verlassen, um an der Atlantik- oder Mittelmeerküste die Sommerferien zu genießen. Oder auch dort zu arbeiten:Ferienhäuser sollen zu Co-working Spaces geworden sein. Paris, schon in normalen Zeiten von Touristen überflutet, nun mit erwarteten zwölf Millionen Sporttouristen. Das wollten viele sich nicht antun und ergriffen die Flucht. Andere, die bleiben müssen, wurden von den Arbeitgebern aufgefordert, Home office zu machen, soweit es möglich ist.
Spiele für alle
Staatspräsident Macron hatte nach dem Zuschlag 2017 versprochen, es sollten „Spiele für alle“ werden. Aber so richtig Stimmung unter den Einheimischen? Naja. Pariser gelten als schwierig. Ihnen wird das Lebensmotto zugeschrieben: „Ich mag nichts, ich bin Pariser.“ Solange also die Kreise des Parisien – etwa der tägliche Besuch im Café oder Bistro mit Kaffee und Zeitungslektüre – nicht gestört werden, ist alles okay. Sollen die mal machen.
„Jetzt sind die Spiele hier, jetzt müssen wir damit umgehen. C’est la vie“, sagt der 87-jährige Laurent, ehemals Literaturprofessor, den nichts mehr erschüttern kann, was in seiner Stadt passiert. Obwohl: Was ihn – und nicht nur ihn – sehr aufregt ist, dass man Menschen aus der Stadt verbannt hat, denen es sowieso nicht gut geht: Obdachlose und Geflüchtete. „Le revers de la médaille“, eine Organisation, die sich für Obdachlose und vor allem auch Jugendliche einsetzt, spricht von „sozialer Säuberung“. Es habe sich keiner wirklich gekümmert – Anlaufstellen für Hilfsbedürftige wurden an die Peripherie verlegt, Camps und Turnhallen, wo Geflüchtete untergebracht waren, wurden geräumt, weil man die für die Spiele brauchte.
In „Le Monde“ war zu lesen, dass auch über 3000 Studierende von Olympia schon vor Beginn die Nase voll hatten: Sie wurden aus ihren Studentenwohnheimen ausquartiert, weil die Plätze für die Unterbringung von Sicherheitspersonal, anderen öffentlichen Angestellten und Volunteers gebraucht wurden. Wer weiß, wie schwer es ist, in Paris ein bezahlbares Zimmer zu finden ist, der weiß, dass die Entschädigung von 100 Euro und zwei Olympiatickets ziemlich zynisch ist. Das Pariser Verwaltungsgericht wertete das als „angemessene Unterstützung“ beim Wohnungswechsel, nach dem es zunächst die Pläne kassiert, dann aber durchgewunken hatte.
„Unverschämt teuer“
Apropos Tickets und Spiele für alle: Nicht nur die deutsche Leichtathletin Gina Lückenkemper findet die Eintrittspreise „unverschämt teuer“. Ihre Eltern könnten nicht bei allen ihren Rennen dabei sein. Vielen geht es wie der Familie Lückenkemper. Es sind Spiele, die sich eigentlich nur besser gestellte Menschen leisten können: Horrende Ticketpreise, horrende Hotel- und Unterkunftspreise (auch wenn sie in der Zwischenzeit etwas heruntergingen). Und auch das Versprechen, dass der öffentliche Verkehr umsonst sein würde – London 2012 läßt grüßen – steht nicht mehr. Die Metro-Preise haben sich auf vier Euro für die Gäste fast verdoppelt. Aus Haushaltsgründen müsse man so entscheiden, ließ der Pariser Verkehrsverbund „Île-de-France-Mobilités“ wissen. Ob Einheimische und Touristen dann auch reibungslos dahin kommen, wo sie hin wollen, ist fraglich. Bürgermeisterin Hidalgo sorgte sich schon seit langem um eine überforderte Infrastruktur, zumal einige Strecken nicht rechtzeitig fertig sind. Und man aus Sicherheitsgründen an vielen Stationen nicht aussteigen kann. Transportkollaps nicht ausgeschlossen.
Diejenigen, die sich wirklich für Sport und Spiele begeistern, Kinder und Jugendliche aus den Banlieues, können nur davon träumen, live dabei zu sein. Für sie findet Olympia am Bildschirm statt. Beklagt wird auch, dass gerade in die Problemviertel der oft bemühte Olympic Spirit zu wenig oder gar nicht hineingetragen wird. „An uns“, so sagt der 14-jährige Abu, französisch-algerischer Abstammung, „hat keiner gedacht.“ Engagierte Sozialarbeiter, finanziell und tatkräftig unterstützt von manchem bekannten Fußballer oder Athleten aus anderen Sportarten, die auch in einer Banlieue aufgewachsen sind, organisieren dann ein Fest für die „Abgehängten“.
Olympiade Culturelle
Paris – Sport-Spiele für alle? Ganz gewiss nicht. Aber zumindest unter den etwa 700 Veranstaltungen der Olympiade Culturelle, die an die Kulturmeile bei den Spielen in München erinnert, müsste für jeden etwas dabei sein. Tanzen, Breakdance und Rap, Konzerte aller Art, Ausstellungen, Lesungen, Diskussionen, alle großen und kleinen Museen, Theater, die Sorbonne, Nationalbibliothek, die Deutschlandstiftung mit dem Heinrich-Heine-Haus – alle haben sich etwas zum Thema Sport einfallen lassen. Im Musée Marmottan Monet läuft die Ausstellung „Im Spiel! Künstler und Sport (1870-1930)“, die eindrucksvoll zeigt, wie sich nicht nur das Verhältnis von Künstlern und dem Sujet Sport verändert hat. Sondern auch der Sport – einst Zeitvertreib der Elite, später Vergnügen und Hobby für alle. Wobei gerade Olympische Spiele sich nun eher wieder in die Richtung Elitäres entwickeln, wie wir nicht nur im Bezug auf AthletInnen, den Hightech-Spitzensport und das Publikum lernen: Denn wer wird sich auf Dauer Sport treiben und Sport beklatschen in der kommerziellen und medialen Schaufensterwelt künftig weiter leisten können und wollen?
Im Park Kunst und Sport
Übrigens – die nach Kultur verrückten Pariser begegnen in diesen olympischen Tagen derselben noch mehr in den Parks. Wem nicht schon die Gärtner-Kunst zum Highlight wird, der begegnet vielen „Sport-Kunstwerken“ bildender Künstler aus aller Welt.
Paris ist weltoffen, auch wenn die Bewohner manchmal grummeln. Sie sind stolz auf ihre SchauspielerInnen, SängerInnen und und und. Und da passte der Streit um die französisch-malische Sängerin Aya Nakamura überhaupt nicht ins Bild. Staatspräsident Macron war der Meinung, dass die meist gehörte frankophone Sängerin natürlich auch bei der Eröffnungsfeier dabei sein müsse, um auch die jungen Menschen zu begeistern. Das missbilligten vor allem Rechte. Die rebellischen Texte stießen ebenso auf Widerspruch wie die Künstlerin selbst wegen ihrer Herkunft – sie erlebte Rassismus der selbsternannten„Weißkultur“.
Bleibt zu hoffen, dass das den Sportlern und Sportlerinnen erspart bleibt.
Professor Laurent erzählt, dass er mit mit Freunden aus dem Ausland, aber auch aus Frankreich, die regelmäßig nach Paris kommen, darüber diskutiert, wie sich die Stadt von Besuch zu Besuch verändert. „In manchen Arrondissements sehen sie das Leben weichen, sagen sie. Und meinen, dass durch die Gentrifizierung vieles von individueller Schönheit und Eigenheit verloren geht. Es wird weggeputzt. Das stimmt einen traurig.“
Und wie wird sich Paris nach den Spielen verändert haben? Der Professor lächelt: „Was soll anders sein? Dann sind alle aus den Sommerferien zurück, es ist voll wie immer, die Tribünen sind abgebaut, die Absperrungen weg. Die Staus und das Gehupe sind wieder da. Um es mit Balzac zu sagen: „Einer der Vorzüge der guten Stadt Paris besteht darin, dass man hier geboren werden, leben und sterben kann, ohne dass sich auch nur im mindesten einer darum kümmert.“ C’est la vie.
Nun dann in diesem Sinne nochmal: Bonne Chance Paris!
Bücher als side-kick zu Olympia
Wer sich mit Olympischen Spielen oder Paris neben dem Verfolgen der Wettbewerbe beschäftigen möchte, hier ein paar Buchvorschläge, die teilweise älter, aber immer noch aktuell sind:
Das andere Olympiabuch – Herausgegeben von der Deutschen Sportjugend, Verlag Hofmann, Schorndorf.
Olympische Gefühle oder Als Arnold Schwarzenegger zum Stechen nach Essen kam. Von Herbert Somplatzki, Megalit-Verlag.
Olympische Spiele, Gunter Gebauer, Reclam.
Die sportlich heiteren und politisch gescheiterten Olympischen Spiele von München `72, arete Verlag.
Zu Paris:
Die Erfindung des Lächelns, Tom Hillerbrand, Kiwi-Verlag.
Das Herz von Paris, Veronika Peters, Oktopus Verlag.
Treibgut, Julien Green, Hanser Verlag.