Matias Rietig und sein deutscher Blick auf seine Wahlheimat und Olympiagastgeber Paris
Paris, 10. Juni. Eigentlich sind die Pariser nun auf die olympische Zielgerade eingebogen,, da wurde ihnen die ohnehin eher verhaltene Vorfreude auf die Olympischen und Paralympischen Spiele durch die Europawahlen und den Paukenschlag von Staatspräsident Emmanuel Macron, der nach dem niederschmetternden Ergebnis für seine Partei Neuwahlen ausrief, so ziemlich verhagelt. Das Land steht unter Schock. Und nun rückt der Wahlkampf in den Fokus. Am 30. Juni soll ein neues Parlament gewählt werden, am 7. Juli wird es Stichwahlen geben. Olympia (26. Juli- 11.August) rückt da etwas in den Hintergrund. obwohl… Unser Sohn Matias lebt und arbeitet nach seinem Studium seit fünf Jahren in Paris. Er berichtet vom Alltag in der Olympiastadt, die Mühen wegen olympischer Baustellen und Absperrzäunen und bewundert den Pragmatismus der Pariser, wenn es um Irrungen und Wirrungen geht. Der Franzose sitzt im Café, beobachtet das Treiben um ihn herum und zuckt die Schultern: C’est la vie. Matias‘ kleine Hommage an seine Wahlheimat Paris.
Der Place de la Concorde im Herzen von Paris, auf halbem Weg zwischen Louvre und Triumphbogen gelegen, war bis vor kurzer Zeit Teil meines Fußwegs zur Arbeit. An diesem historischen Platz, wo einst französische Herrscher ihr blutiges Ende an der Guillotine fanden, war es in den drei Jahren, während derer ich ihn Tag für Tag überquerte, keine Seltenheit auch mal Umwege machen zu müssen. Ob Tour de France, Fashion Week, Rugby-Weltmeisterschaft, der 14. Juli (Frankreichs Nationalfeiertag) – jedes erdenkliche Großereignis führt zu einer ebenso großen, temporären Baustelle, die wiederum zu einem einzigartigen Verkehrschaos und täglichen Hupkonzerten führt. Dieses Mal aber, ist etwas anders. Der Platz ist seit etwa vier Monaten beinahe gänzlich unpassierbar, und die Autos, die sich an der letzten verbliebenen freien Straße am Ufer der Seine vorbeizwängen, sind in eine für Pariser Verhältnisse ungewohnte, resignierende Stille verfallen. An dieser Baustelle allein – sie ist eine von vielen im Zentrum der französischen Hauptstadt –, merkt man, dass mit den olympischen Spielen ein anderes Kaliber ins Haus steht.
Klar, es ist sehr deutsch von mir, einen Text über Olympia in Paris mit einer Beschreibung von Verkehrsproblemen durch Baustellen einzuleiten. Gleichzeitig ist dies ein Spiegelbild davon, wie die Menschen in meiner Wahlheimat dem anstehenden Sportevent gegenüberstehen: Pragmatisch.
Schon vor über einem Jahr hat so gut wie jeder Arbeitgeber in der Stadt, der dazu in der Lage ist, den Angestellten angekündigt, dass diese im Juli und August nicht ins Büro kommen müssen (sollen!), wegen der erwarteten Überlastung der Pariser U-Bahn. In meinem Bekanntenkreis gibt es wahrscheinlich nicht eine Person, die nicht schon händereibend mit Aussicht auf Wuchereinnahmen durch Untermieten während der Spiele ihre Frührente geplant hatte (letzten Endes kenne ich niemanden, der tatsächlich einen armen Touristen zum Ausbeuten gefunden hat).
Neben ihrem Pragmatismus sind Pariser (zumindest in Frankreich) bekannt als notorische Nörgler – wer sich in den letzten Monaten hier in die sozialen Medien verirrt hat, wird vielleicht über einen beliebten Hashtag gestolpert sein: #VivementLesJO. Sinngemäß bedeutet das in etwa „Kann Olympia (JO = Jeux Olympiques) kaum abwarten!“. Zwar ist das auch der Slogan einer großen Supermarktkette dieses Jahr, im Internet findet man den Satz aber meist ironisch in Verbindung mit Videos von überfüllten Metrostopps, lärmenden Baustellen, oder umgestoßenen Mülltonnen.
Überfüllte U-Bahnen, nüchterner Pragmatismus – ist das alles, was Olympia für Franzosen in ihrer Stadt bedeutet? „Ich bin stolz, dass wir Olympia ausrichten. Wir sind zynisch, weil wir nicht zugeben wollen, dass wir an unsere Ambitionen glauben“, sagte mir kürzlich ein guter Freund und gebürtiger Pariser – was für ein treffender (und überraschend nicht-zynischer) Kommentar über die Mentalität der Landsleute. Selten erschien mir das von den Pandemiejahren gebeutelte Paris herausgeputzter, oder zumindest willig, sich herauszuputzen; selten habe ich erlebt, dass ein Ereignis eine ganze Stadt dermaßen elektrisiert, es vergeht kein Tag, an dem man keine Kommentare über die Spiele hört, auch auf den Straßen ist es unmöglich, den Bannern, Flaggen und Wegweisern im – meiner Meinung nach durchaus stimmigen – Olympia-Branding aus dem Weg zu gehen. Selten schienen normalerweise so laut nörgelnde Autos so einverstanden mit Baustellen auf dem Place de la Concorde. Vivement les JO!