Eine imageträchtige UNESCO-Auszeichnung bleibt im deutschen Sport ungenutzt
Berlin, 5.Juni. Der organisierte deutsche Sport erhielt mitten in der Pandemie eine Auszeichnung. Genauer gesagt: Am 19. März 2021 flatterte dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) in den tristen Corona-Zeiten eine positive Nachricht ins Haus, eine Art Ritterschlag, um den sich andere erfolglos bemühen und ihn beneiden: Die „Gemeinwohlorientierte Sportvereinskultur“ wurde in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen. Von der prestigeträchtigen Ehrung haben die meisten, für die sie eigentlich gedacht ist, bis heute nichts mitbekommen.
„Wussten Sie, dass Sportvereine zum Immateriellen Kulturerbe erklärt wurden?“ Auf die Frage bei Vereinsmitgliedern und Vorständen bei einer kleinen, nicht repräsentativen Umfrage sind die Reaktionen: heftiges Kopfschütteln, ungläubiges Staunen und irritierte Rückfragen: „Wann ist das denn passiert? Was heißt das für uns jetzt?“
Gute Fragen. Der sich noch eine weitere anschließt: Warum ist der DOSB, der doch jede Gelegenheit für positive Selbstdarstellung gerne wahrnimmt da so passiv? Man könnte ja auch nach drei Jahren aktiv werden. Nun mag der eine oder andere sagen: Die haben genug mit sich und ihren ungelösten Problemen zu tun. Was soll man da mit der Auszeichnung?
Hilfe bei Fördermitteln
Vielleicht hätte man mal wieder positive Schlagzeilen. Und was sonst noch? Der Pressesprecher der Deutschen UNESCO-Kommission in Bonn, Timm Schulze, antwortet auf die Frage so: „Grundsätzlich zeigt das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes exemplarisch, welche lebendigen, kulturellen Traditionen und Ausdrucksformen in Deutschland praktiziert und weitergegeben werden. Es würdigt kreative und inklusive immaterielle Kulturformen und deren Schatz an Erfahrungswissen. In der Regel weisen Trägergemeinschaften bei ihren Aktivitäten auf ihren Eintrag im Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes hin, meist in Kombination mit dem Logo. Auch zur Einwerbung von Fördermitteln erweist sich der Verweis auf die Einschreibung häufig als hilfreich, ebenso in Bezug auf die Nachwuchsförderung und die Öffentlichkeitsarbeit.“ Da klingelt es doch bei „Einwerbung von Fördermitteln, Nachwuchsarbeit“ mehrfach in den Ohren.
Diese Auszeichnung nicht nur in den eigenen Reihen zu propagieren, würde doch dazu beitragen, das ramponierte Image etwa der Dachorganisation aufzubessern, und wäre in Zeiten klammer Bundes- und Länderhaushalte eine gute Argumentationshilfe, um Unterstützung aller Art zu werben sowie ressortübergreifend in Entscheidungsgremien einbezogen zu werden.
Verein made in Germany (West)
Chancen wie diese Kulturerbe-Auszeichnung hat sich der Sport früher nicht entgehen lassen. Ganz im Gegenteil. Wenn gerne mal am deutschen Vereinswesen rumgemäkelt wurde – alte Zöpfe müssen ab, verstaubte Piefke-Mentalität muss weggeblasen und rechthaberische Vereinsmeier abgeschafft werden – verwiesen deutsche Sportfunktionäre nicht nur immer wieder darauf, dass man sich ständig selbst erneuert und modernisiert, sondern auch darauf, dass Deutschland um sein Vereinswesen weltweit beneidet werde. Manche Protagonisten waren so vom Vereinswesen made in Germany (West) berauscht, dass sie es zum entwicklungshelfenden Exportschlager machen wollten. Obwohl diejenigen, die damit beglückt werden sollten, herzlich wenig damit anfangen konnten. Aber ausländische Delegationen, die über Land an Sportstätten gekarrt wurden, waren und sind immer noch beeindruckt von Vereinsstrukturen und Vereinsleben.
Sport verbindet nach wie vor, in welcher Form auch immer, fördert Werte und soziales Leben. Und dafür stehen die meisten der etwa 87.000 Sportvereine, von denen gesellschaftspolitisch heute wirklich gute, engagierte Signale ausgehen – gerade jetzt, wo der Zusammenhalt in diesem Land immer mehr bröckelt.
Dass solche Auszeichnungen animieren können, sich im Verein zu engagieren – schließlich wirbt man ja um die immer weniger werdenden Ehrenamtlichen –, damit eine wertvolle, bleibende Anerkennung überhaupt für Vereine ausgesprochen wird, scheinen im DOSB damals wie heute nicht alle erkannt zu haben.
Zwei Anläufe
Dabei hatte man im DOSB schon 2013 einen Anlauf in Richtung UNESCO gewagt – aber scheiterte. 2017 also der zweite Anlauf. Karin Fehres, damals zuständiger Vorstand für Sportentwicklung, begründete das so: „Das würde ein neues Schlaglicht richten auf das, was in den Vereinen passiert und in der Öffentlichkeit kaum zum Tragen kommt, darauf, wie sehr Vereine sozialer Kitt für die Gesellschaft sind.“
Breitensport und Vereine waren vor allem nach der Gründung des DOSB 2006 im Haus des Sports in der Otto-Fleck-Schneise in Frankfurt am Main mehr und mehr in den Hintergrund getreten: Spitzensport und Olympisches dominierten, der DOSB fiel als gesellschaftlicher Player wegen der offensichtlichen Vernachlässigung der führenden Protagonisten kaum noch auf.
Zusammen mit Ulrich Schulze Forsthövel, der bis vor einigen Jahren beim DOSB das Projekt „Gedächtnis des Sports“ leitete, unternahm Fehres mit dem Plazet des damaligen Präsidiums von Alfons Hörmann einen weiteren Versuch. Und diesmal gelang es: In einem langwierigen, vier Jahre dauernden innerstaatlichen Auswahlverfahren, zunächst durch das Land Hessen, dann durch Deutsche UNESCO Kommission und Kultusministerkonferenz wurde der Sport von der zuständigen Experten-Kommission unter die Lupe genommen. Man hatte sich als Gutachter zwei prominente „Schwergewichte“ geholt, die sich intensiv einarbeiteten und viel Zeit auf ihre Expertise verwendeten: Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und den ehemaligen Präsidenten des Goethe-Instituts, Klaus-Dieter Lehmann. Ihre Fragestellung: Welche kulturelle Kraft hat der Sport und welche kulturelle Stärke stellt er in dieser Gesellschaft dar? Für manchen in der Experten-Kommission war es überraschend, dass Sport eben mehr ist als Profisport. Mehr als Ergebnisse, Tabellen, Medaillen. Dass „Der Sport – ein Kulturgut unserer Zeit“ ist, konnten sie im Festband anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Deutschen Sportbundes nachlesen: Die Schriftsteller Jose Ortega y Gasset und Günter Grass, Politikwissenschaftler und Historiker Christian Graf von Krockow, oder der damalige Bundespräsident Roman Herzog beschrieben die unterschiedlichen Facetten des Kulturguts Sport.
Vereinsform ein Lernort
Das Forschen und Prüfen der Fachleute trug Früchte. „Das Expertenkomitee würdigt, dass es in Deutschland tausende Sportvereine mit zahlreichen Übungsleiterinnen und Übungsleitern gibt. Diese Vereine prägen das gesellschaftliche Leben. Sie bieten vielfältige Möglichkeiten der Partizipation bis hin zu ehrenamtlicher und zivilgesellschaftlicher Teilhabe“, hieß es in der Begründung der Deutschen UNESCO-Kommission. Besonders hoben die Experten „die breitenkulturelle Gemeinwohlorientierung des Sportvereinswesens“ hervor. „Die Vereinsform ist ein Lernort für gesellschaftliche Wertevermittlung. Sie sichert zugleich eine breite lokale Verankerung auf dem Land und in der Stadt.“ Auch das EU-Büro des Europäischen Olympischen Komitees fand anerkennende Worte. „Mit der Auszeichnung als Immaterielles Kulturerbe wird in ganz besonderer Weise die Arbeit der Millionen von ehrenamtlichen Menschen anerkannt, die tagtäglich dazu beitragen, dass die Sportvereine sich seit inzwischen mehr als 200 Jahren kontinuierlich entwickeln und allen gesellschaftlichen Umbrüchen, Kriegen, Veränderungen und Pandemien getrotzt und sie mit viel Kreativität und Innovationskraft überwunden haben. Um dieses Engagement sichtbar werden zu lassen und angemessen zu würdigen, hatte der DOSB die Bewerbung auf den Weg gebracht“, hieß es im EOC-EU-Monatsbericht März 2021.
Halali auf den Untergang
Und die Reaktion des DOSB? Der organisierte Sport war wegen des Lockdowns lahmgelegt, der DOSB-Präsident stand in Berlin auf der Matte, blies schon im Sportausschuss und den zuständigen Ministerien ein Halali auf den Untergang des deutschen Sports und rechnete der Politik ohne belegbare Fakten finanzielle Schäden vor.
Beschworener Sportweltuntergang da, Mutmacher dort durch die UNESCO-Kommission und die Ehrung. „Hoffen wir darauf, dass dieses System nun alsbald wieder aktiv werden und seine besonderen gesellschaftlichen Leistungen nachhaltig unter Beweis stellen wird“, lässt sich Hörmann zur Entscheidung in der DOSB-Presse (Ausgabe 20/21) zitieren.
Darauf verschwand der Schatz, der profitabel hätte angelegt werden können, in der Versenkung.
Dass er mit Herzblut dieses Projekt vorantrieb, ist im Gespräch mit Ulrich Schulze Forsthövel nicht zu überhören. Und auch der Ärger um die verpasste Chance nicht. Denn: Trotz mehrerer Hinweise und Nachfragen scheint auch das neue Präsidium weder Interesse daran noch Gefühl dafür zu haben, was man mit dieser Auszeichnung bewegen könnte. „Es ist schon enttäuschend, dass man den Wert dieser Auszeichnung nicht erkennt.“
Gerade nach dem gescheiterten Sportentwicklungsplan oder beim Beschaffen von Fördermitteln etwa bei Unternehmen und privaten Mäzenen wäre die Auszeichnung ein Pfund, mit dem man wuchern könnte – nicht zuletzt auch in dem riesigen Netzwerk, in dem man durch die Aufnahme in das Immaterielle Kulturerbe nun zusätzlich eingebunden ist.
Nichtnutzung folgenlos
Übrigens: Kann man auch aus dem Verzeichnis wieder gestrichen werden, wegen Untätigkeit? Oder Nichtnutzung? Antwort von der UNESCO aus Bonn: „Es gibt kein festes Verfahren zur Streichung aus dem Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes. Auch ist bislang kein Eintrag aus dem Verzeichnis gestrichen worden.“
Aber: „Als Gründe für eine Streichung sind grundsätzliche Verstöße gegen Menschenrechte oder das Grundgesetz vorstellbar. Auf den internationalen UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes gab es zuletzt 2019 eine Streichung des Eintrags Karneval von Aalst in Belgien vor allem wegen Antisemitismus-Vorwürfen, sowie die Teilstreichung 2022 der DucassedÀth in Belgien aus einem übergreifenden Eintrag von Stadtfesten wegen Rassissmus-Vorwürfen.“
Nichtnutzung und Untätigkeit sind also kein Grund für eine Streichung. Und auch Blamage nicht.
Da könnte ja der DOSB nun vielleicht doch nochmal versuchen, den Schatz zu heben und was draus zu machen – etwa auch bei den olympischen Bemühungen. Aber es ist zu befürchten, dass die Urkunde „Immaterielles Kulturerbe“ in der Schublade „Nichts verstanden!“ bleibt.