Reformer oder dunkler Lord?

Der neue IAAF-Präsident Sebastian Coe gewinnt eine Basar-Wahl und hält sich bei Problembereichen zurück

Berlin/Peking, 20. September. Was wird das nun werden? Er soll der Reformer, ja der Heilsbringer der Leichtathletik werden. Sebastian Coe, der Mann, der sich über 800 und 1500 Meter mit anderen großen Mittelstrecklern so viele spannende Rennen geliefert hat – vor allem mit seinem Landsmann Steve Ovett -, der Mann, der zweimal Olympiasieger bei den Boykottspielen in Moskau 1980 und vier Jahre später in Los Angeles wurde. Es ist nicht leicht, den 58-jährigen Briten einzuordnen, der nun in Peking zum neuen Präsidenten des Internationalen Leichtathletikverbandes IAAF gewählt wurde, denn vieles passt da auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammen.

700 000 Kilometer rund um die Welt

Da ist sein Wahlkampf, den er sich mit einem weiteren Weltklasseathleten, dem Stabhochspringer aus der Ukraine, Sergei Bubka, lieferte. Nicht in 80 Tagen, sondern fast ein Jahr lang ist er angeblich 700 000 Kilometer um die Welt gejettet, um für sich zu werben. Dass Stimmen für einen Präsidentenposten im internationalen Sport heute nicht umsonst zu bekommen sind, das wussten die beiden Kandidaten und versprachen den Delegierten mehr Entwicklungshilfe: Bubka legte vor, verdoppelte auf 30 000 Dollar pro Jahr, Coe legte noch kurz vor der Wahl 20 000 Dollar drauf. Handeln wie auf dem Basar? Befremdlich besonders für einen Life Peer, der im House of Lords sitzt und in den Titel Baron Coe of Ranmore erhoben wurde.

Spiritueller Präsident

Befremdlich auch die Aussage, die er nach seiner Wahl traf: „Lamine wird sicherlich mein spiritueller Präsident bleiben.“ Moment, er spricht von seinem Vorgänger Lamine Diack aus dem Senegal, der 16 Jahre lang als Präsident alles irgendwie laufen ließ, einen Reformstau verursachte, sich auch in fragwürdige Geschäfte verwickelte. Was heißt da spiritueller Präsident? Spezieller Voodoo-Zauber, wenn’s nicht läuft? „Ich habe die Verantwortung, die Leichtathletik stärker zu machen“, sagt er. Wie? Vielleicht so: „Ich will die Macht nicht ergreifen, sondern sie mit den Delegierten teilen.“ Phrasen. Der erfahrene Politiker Coe, der von 1992 bis 1997 für die Konservativen im House of Commons saß, weiß, was seine Klientel hören möchte, wie er sie kriegt, und wie er seine Macht festigt.

Und es erinnert an einen, der auch gerne große Sätze und Worte strapaziert – an Joseph Blatter, den Noch-FIFA-Präsident.

Fast Zwillinge

Mehr noch aber erinnert dieses gestylte Funktionärs-Gehabe an den Präsidenten des großen und ganzen Sports, Ober-Olympier Thomas Bach.

Nahezu gleich alt (drei Jahre Unterschied), taktisch und strategisch erfahren, wissend, wie man sich Mehrheiten beschafft, wirken sie fast wie Zwillinge. Und der eine hat sich sicher Rat vom anderen eingeholt, um die letzten Tricks zu erfahren, wie man die große Sportfamilie für sich gewinnt. Bach und Coe sind schon seit längerem so etwas wie Brüder im Geiste. Und repräsentieren die neue Generation von Funktionären: Knallharte Manager und Macher der Sportunternehmen, die bei der Verpackung mogeln, um die „Sportfamilie“ bei Laune zu halten.

Dass man sich mit Freunden oder Verbündeten umgeben muss, um sich und seine Idee durchzusetzen, dass wird ihm auch Bach – wenn er es denn nicht schon selber wusste – noch einmal eindringlich verklickert haben. Und so wurde hinter den IAAF-Kulissen gewirbelt, mit Geschenken und Versprechen hantiert – so wird es jedenfalls kolportiert –, um die rechten Männer an die Seite des Barons zu setzen. Ob der Kubaner Alberto Juantorena, der Kameruner Hamad Kalkaba Malboum oder Dahlan al-Hamad aus Qatar die richtigen Akteure sind, um die Leichtathletik in neue Bahnen zu lenken, das sieht nicht nur der ehemalige DLV-Präsident Helmut Digel, der nach zwei Jahrzehnten aus dem Council ausschied, skeptisch.

Deutsche Oberlehrer

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, warum der DLV-Präsident Clemens Prokop nicht in Coes „Parlament“, den Council, gewählt wurde, wo er doch so gut mit ihm steht, wie Prokop sagt. Ist es Prokops Antidoping-Kurs? Oder hat Prokop mit seiner Einschätzung recht, dass die Deutschen als Oberlehrer gesehen würden, die „der Welt sagen, wo die ethischen Maßstäbe im Sport hängen“? Das sehen übrigens auch manche deutsche Athleten so. Ist es eine Verschwörungstheorie, dass die Nichtwahl des Deutschen auch an den Berichten über den Doping-Sumpf in der ARD und der „Sunday Times“ liegt? Schließlich brachten die der IAAF nicht nur Ungemach, sondern sie auch ins Schleudern – zumindest bei den Ausreden. Und wieso ist freie Berichterstattung für Sebastian Coe eine „Kriegserklärung?“ Ein Reformer hätte sich vielleicht für die Hilfestellung bei der Trockenlegung des Sumpfs bedankt.

Bubka sprach das Übel an

Lord Coe wird da nickelig. Und das Thema, das ihn nun in nächster Zeit wohl intensiv beschäftigen wird, hat er bei seiner Wahlbewerbung tunlichst ausgespart. „Den schönen Schein des Seins wahren“ und „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ oder ähnliche Platitüden fallen einem da ein. Sergej Bubka hätte wissen müssen, dass er seine Chancen ziemlich reduzierte, als er das Übel vor der Wahl ansprach. Das größte Problem, das auf den Sport pralle, sei das Doping, sagte er und: „Wir müssen saubere Athleten schützen.“ Coe lässt sich nicht einmal nach seiner Wahl auf eine konkrete Antwort ein, wie er denn nun die Dopingproblematik angehen will. Das sollte er sich aber doch schon lange überlegt haben, spätestens als er zum Wahlkampf in den Startblock stieg. Aber wen interessieren schon Inhalte.

Sehr bedeckt hält er sich auch, wenn es um den Geschäftsmann Coe geht. Da verliert er auch kurz bei entsprechenden Fragen die Contenance. Denn auch er scheint sich wie etwa Monsieur Michel Platini da auf einer gefährlichen Gratwanderung zu befinden. Seine Sportmarketingagentur CSM mischt überall mit, hat zuletzt bei den umstrittenen Europaspielen in Baku heftig gewirbelt – und sicher gut verdient. Und auch für den US-amerikanischen Sportartikelriesen Nike ist er als Berater tätig. Seine Arbeit als OK-Präsident für die Spiele in London war in mehrfacher Hinsicht nicht umsonst – sie hat ihm viele gute Geschäftsverbindungen eingebracht, die aber nun auch zum Problem werden könnten – aber offensichtlich nur für bösartige Journalisten und neidische Konkurrenten.

Emotional mit Zauberstab

Wer ist da nun also gewählt worden? Der Mann, dem man nachsagte, dass sein Laufstil prosaisch sei? Der Mann, der auch mit Worten zu Emotionen rühren kann – etwa 2005 bei der Kür der Olympiastadt London, wo er den Delegierten sentimentale Entscheidungshilfe gab, als er erzählte: „Als ich zwölf Jahre alt war, saß ich mit meinen Klassenkameraden vor einem alten Schwarzweiß-Fernseher und habe die Olympischen Spiele in Mexiko gesehen. An diesem Tag öffnete sich für mich ein Fenster zu einer neuen Welt.“ Oder ist es der Mann, der trotz vielfacher Versicherung, seiner Sportart zu einem Neuanfang zu verhelfen, durch und mit der Leichtathletik hauptsächlich seine Geschäfte machen will? Der dunkle Lord schwingt den Zauberstab für sich und seine Getreuen?

Vieles – wie gesagt – passt bei dem Mann von der Insel nicht zusammen. Hinter Sätze wie „Wir brauchen ein System, das über jeden Zweifel erhaben ist, damit klar ist, dass es keinen Konflikt oder keine Komplizenschaft gibt“, muss man nach dieser Basar-Wahl ein dickes Fragezeichen setzten. Der Läufer Coe war durchschaubarer als der Funktionär Coe. Er antwortete einmal auf die Frage, ob er ein gutes Gefühl habe, wenn ein Athlet nach einer Doping-Sperre wieder in die Arena zurückkommt „Nein, ich habe kein gutes Gefühl.“ Das scheinen auch beim Funktionär Coe manche zu haben: kein gutes Gefühl.