Olympia 2036: Keine historischen Bedenken

Sporthistoriker Teichler über Berlin als Bewerber, das IOC und Spiele in Paris

Berlin, 27. Juli. In gut einem Jahr beginnen die Olympischen Spiele in Paris. Die Organisatoren und große Teile auch der deutschen Sportfamilie überschlagen sich jetzt schon vor Begeisterung über das geplante Spektakel an der Seine. Ob die Franzosen und besonders die Pariser wirklich schon im Olympiataumel sind, ist aufgrund der innenpolitischen Gemengelage, aber auch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und mögliche Boykottfolgen eher fraglich.

Was für Spiele werden das? Sportspitze sprach mit dem renommierten Sporthistoriker Hans Joachim Teichler über die politische Weltlage und den Stand der internationalen Sportbeziehungen, eine mögliche deutsche Bewerbung mit Berlin für 2036. Im letzten Jahr veröffentlichte Teichler eine aktualisierte und erweiterte Auflage seines umfangreichen Buches „Internationale Sportpolitik im Dritten Reich“ mit dem Höhepunkt der Berliner Spiele 1936.Der Professor, 1946 im brandenburgischen Finsterwalde geboren, studierte in Bonn bei Hajo Bernett und Dietrich Bracher Sport- und Sozialwissenschaft, war von 1994 bis 2011 Professor für Zeitgeschichte am Institut für Sportwissenschaft der Universität Potsdam. Vorher war er unter anderem für drei Jahre Sportreferent der SPD-Bundestagsfraktion. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören der Arbeitersport, die Sportpolitik im Dritten Reich, die politisch-gesellschaftliche Rolle des Sports in der DDR und die Erinnerungskultur im deutschen Sport.

Herr Professor Teichler, wie steht es derzeit um die internationale Sportpolitik, besonders angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine?

Teichler: Wenn sich das Prinzip der Ächtung eines Angriffskrieges durch einen Sportboykott gegen Russland durchsetzt, gut; wenn einige Länder und Verbände den Sportverkehr mit Russland trotz des Angriffskrieges fortsetzen, schlecht.

Waren die internationalen Sportbeziehungen vorher besser, anders?

Teichler: Auch früher waren internationale Sportbeziehungen von der politischen Großwetterlage abhängig. Ich erinnere an die Boykotte der Olympischen Spiele von Moskau 1980 und Los Angeles 1984. Dabei hatten diese Sportboykotte nur eine symbolische Bedeutung: Die Sportler wurden bestraft, die wirtschaftlichen Beziehungen liefen weiter. Olympia wurde zur Bühne des System-Wettstreits. Der Tiefpunkt des internationalen Sportverkehrs wurde 1939 durch das IOC erreicht, als es im Juni 1939 auf seiner Sitzung in London einstimmig St. Moritz wegen eines Streits mit der FIS die Winterspiele 1940 entzog und erneut an Garmisch-Partenkirchen vergab, obwohl es im November 1938 antisemitische Pogrome in Deutschland gegeben hatte und deutsche Truppen im Frühjahr 1939 Prag besetzt hatten.

Wie sehen Sie die Rolle des IOC, das ja oft den Anschein erweckt, nur dann Sport als politisch zu sehen, wenn es gerade passt, sich aber, wenn die Fragen unangenehm werden, selbst als neutral einzustufen?

Teichler: Das IOC hat schon immer pragmatisch daran festgehalten, die Spiele unter allen Umständen durchzuführen. Selbst als Japan Krieg in China führte, hielt das IOC an Tokio fest, bis die Japaner die Spiele selbst zurückgaben. Trotz des Angriffskrieges auf Polen 1939 hielt das IOC an Garmisch-Partenkirchen fest, bis die Deutschen die Spiele zurückgaben. In der IOC-Charta fehlt bis heute die Ächtung von Angriffskriegen, mit der es dem NOK eines einen Angriffskrieg führenden Landes untersagt, an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Dieser Pragmatismus grenzt an Skrupellosigkeit, wenn man die sonst so proklamierten olympischen Werte betrachtet.

 

Wenn der Krieg weitergeht, was für Spiele erwarten uns dann in Paris?

Teichler: Entweder keine russischen Sportler in Paris, und wenn doch, dann erwarte ich ukrainische Individual-Boykotte gegen russische Gegner.

Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) unternimmt einen achten Anlauf seit den Münchener Spielen 1972, unterstützt vom für Sport zuständigen Bundesinnenministerium, sich um Olympische Spiele zu bewerben. Zunächst: Halten Sie das angesichts der gesamtpolitischen und gesellschaftlichen Situation für den richtigen Zeitpunkt?

Teichler: Dem deutschen Sport täte eine Olympiabewerbung gut. Angesichts der Fremdenfeindlichkeit eines Teils der deutschen Bevölkerung und des rechten Spektrums der Parteienlandschaft könnte die Internationalität des olympischen Sports ein wirksames Gegenmittel sein. Die gegenwärtige Strategie des DOSB, erst die Stimmung der Bevölkerung abzufragen, bevor man sich bewirbt, erscheint mir als die richtige Reihenfolge.

Teichler, Hans Joachim: Internationale Sportpolitik im Dritten Reich. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage 2022, 546 S., geb., 114,– €, ISBN 978-3-98572-028-6. www.nomos-shop.de/isbn/978-3-98572-028-6

Es gibt ja viele Städte, die nun als potentielle Bewerber-Kandidaten genannt werden, aber Berlin 2036 ist ein Vorschlag, der nicht nur der amtierenden Bundesinnenministerin Nancy Faeser gefällt, sondern auch dem DOSB-Präsidenten Thomas Weikert. Was halten Sie von der Idee, 100 Jahre nach den Nazispielen in der Hauptstadt wieder Spiele auszutragen?

Teichler: Da muss ich Ihnen widersprechen. Es waren keine Nazispiele. Es waren Olympische Spiele in Nazi-Deutschland. Sie wirkten so politisch, weil sie im Kern so unpolitisch und sportlich einwandfrei durchgeführt worden sind. Natürlich dienten sie politischen Zwecken, die u.a. von mir herausgearbeitet worden sind: Tarnung der Aufrüstung, Vortäuschung der Friedfertigkeit des Regimes, Entfernung der judenfeindlichen Schilder und Parolen in der Nähe der olympischen Wettkampfstätten, Aufforderung an die NS-Verbände, nicht in Uniform, sondern in ziviler Kleidung ins Stadion zu kommen, keine Marschmusik im Radio sind nur einige Bestandteile des Bemühens der nationalsozialistischen Führung, im Sommer 1936 ein friedliebendes, nicht-rassistisches Deutschland zu präsentieren. Diese Selbstverharmlosung wurde zu Recht von der New York Times als „The greatest propaganda stunt in history“ bezeichnet. Die Begeisterung der deutschen Zuschauer für Hitler im Olympiastadion wurde von den ausländischen Zuschauern mit Neid, aber auch mit Besorgnis registriert.

Das ändert nichts an der Tatsache, das Berlin 1936 wesentliche Elemente des olympischen Zeremoniells hervorgebracht hat, die auch heute noch gültig sind: Das fängt beim Fackel-Staffellauf vom antiken Olympia zur Eröffnungsfeier ins Olympiastadion an und hört auf mit der Neunten Symphonie von Beethoven bei der Abschluss-Veranstaltung, die Carl Diem – einem Wunsch Coubertins folgend, gegen Goebbels durchsetzte, dem dieses Kunstwerk deutscher Musik zu schade für eine profane Sportveranstaltung war.

Für mich steht daher einer erneuten Bewerbung Berlins – am besten im Doppelpack mit München – nichts im Wege.

Warum fänden Sie Spiele in Berlin gut?

Teichler: Berlin 1936 war baulich, organisatorisch, sportlich und medial die Verwirklichung von Coubertins Ideen und brachte bleibende Innovationen hervor. Es hat in der Reihe der Olympischen Spiele daher einen besonderen Stellenwert. Daran ändert auch die frühe Verehrung für Hitler durch den greisen Coubertin nichts.

Wie müssten denn Spiele 2036 von Anfang an wissenschaftlich begleitet werden? Wen müsste man außer Historikern in Berlin – der Landessport hat sich zumindest schon mal mit Vertretern der Gedenkstätten zusammengesetzt – hinzuziehen? Beim DOSB hört man in der Beziehung nichts. Was erwarten Sie da?

Teichler: Ich erwarte im Rahmen der Bewerbung einen wissenschaftlichen Kongress zu beiden Olympischen Spielen auf deutschem Boden, insbesondere zu Berlin 1936, weil sich hier die historische Bewertung diametral geändert hat. Die DDR sprach im Vorfeld von München 1972 vom „Missbrauch der Olympischen Spiele“ und proklamierte „72 ist 2 x 36“, die angelsächsische Literatur rückte Hitler in den Mittelpunkt, während heute näher an den Fakten auf der Basis von Archivrecherchen das sportliche Ereignis in den Gesamtzusammenhang der Außenpolitik des NS-Regimes gestellt wird. Eine Einbeziehung der Gedenkstätten, z.B. bei der Gestaltung des Programms des Olympischen Jugendlagers fände ich gut.

Befreundete ausländische JournalistInnen fragen mich immer mal wieder, was denn in Deutschland los sei, ob die Nazis wieder auf dem „Vormarsch“ sind, genauso formulierte es eine Kollegin. Ich hole dann zu einer langen Erklärung aus, nicht zuletzt, weil ja auch verfassungstreue Politiker aus demokratischen Parteien mittlerweile einen Schlingerkurs in Bezug auf die AfD hinlegen, der diese noch weiter stärkt. Was ist heute anders als 1933?

Teichler: Einiges – die wirtschaftliche Lage ist eine andere als 1933. Die Wirtschaftsführer warnen heute vor Ausländerfeindlichkeit als Ansiedlungshindernis, während sie 1933 Hitler unterstützt haben. Heute gibt es keine politischen Kampfverbände auf den Straßen, aber einigermaßen funktionierende Aktionsbündnisse von Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen, wie z.B. „Tolerantes Brandenburg“ und um beim Sport zu bleiben: Wir haben an der Spitze des deutschen Sports heute eher Sozialdemokraten und keine patriotischen Militaristen wie 1933.

Was sind Olympische Spiele angesichts der weltweiten politischen Entwicklung und des Verständnisses des IOC von der olympischen Idee heute noch wert (Wert jetzt ausdrücklich nicht im monetären, sondern im ethischen Sinn)? Eher eine Chance für eine liberale und gerechte Weiterentwicklung von Staaten oder ein gewinnbringender Spielball von geld- und machthungrigen Politikerinnen und Funktionärinnen, die sich mit Hilfe des Sports/IOC ein besseres Image besorgen wollen?

Teichler: Generell stimme ich dem kürzlich verstorbenen Eike Emrich zu, der postulierte, dass man den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft an ihrer Unabhängigkeit vom olympischen Medaillenspiegel messen könne. Das ändert nichts daran, dass sportliche und vor allem olympische Erfolge als Beweis für die Überlegenheit politischer Systeme, von Nationen oder Rassen benutzt worden sind oder benutzt werden. Olympische Spiele sind sportliche Höhepunkte aber keine wertvermittelnde Institution. Sie wurden abwechselnd als „Ersatzkriege“ oder als Fest der Völkerverständigung propagiert. Die letzte Erläuterung seiner „religio athletae“ findet sich in Coubertins Aufsatz „Delphi und Olympia aus dem Jahr 1932 und beschränkt sich auf „Die Religion des Muskels“ und „Die Leidenschaft der körperlichen Anstrengung“. So auf das rein Körperliche beschränkt wurde Coubertins olympische Idee passfähig für jedes politische System.

Aus der neuheidnischen Ersatzreligion Sport zur Verehrung des jugendlichen Körpers mit Fahnen, Flammen, Fackeln, Feiern, Hymnen und Eiden ist heute eine innerlich verkümmerte Sportgroßveranstaltung zur Vermehrung des IOC- Vermögens geworden, die uns trotzdem immer wieder fasziniert.