Spitzensport: „Lieber ein Volk von Sportlern als von Weltmeistern…“

DOSB versucht mit neuem Eckpunktepapier Leistungsport auf die Erfolgsspur zu bringen

Berlin, 7. August.– Wie es im deutschen Spitzensport weitergehen soll, nachdem sich fast sechs Jahre seit der Verabschiedung eines Reformprogramms nichts Wesentliches verändert hat außer einer großen Fördermittelaufstockung – das ist bisher nicht beantwortet worden. Weder vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) noch vom zuständigen Bundesministerium des Innern und für Heimat. Am 16. August will nun der DOSB in München, wo sich die Sport-Gremien aus Anlass der European Championships vom 11. bis 21. August treffen, sein neues Eckpunktepapier zum Spitzensport vorstellen. Auch der Politik. „Die SMK (Sportministerkonferenz, Red.) hat uns für ihre Sitzung am Rande der Championships um einen Sachstandsbericht gebeten“ so die Antwort des DOSB auf die Frage, wer das neue Papier vorgelegt bekommt.

Der DOSB-Vorstand für Leistungssport, Dirk Schimmelpfennig, und seine Abteilung sind gefordert. Einen Vorgeschmack, wie die Endfassung des neuen Konzeptes aussehen könnte, gibt die Ergebnis-Präsentation der Projektgruppen. „Die zentrale Zielstellung des deutschen Leistungssports ist die kontinuierliche Entwicklung von Weltspitzenleistungen in einer größtmöglichen Vielfalt von Sportarten, unterstützt durch eine konsequente potentialorientierte Förderung“, wird da formuliert. Das soll sich in den Ergebnissen von „Team D“ in den Medaillenspiegeln der Olympischen Spiele (Sommer Platz 5, Winter Platz 3) widerspiegeln. Bisher waren die Bemühungen wenig erfolgreich.

Never ending story

Man wähnt sich also in der x-ten Fortsetzung des Films „Never ending story – German Spitzensportreform“. Wer sich in die Ergebnisse der sechs Projektgruppen einliest, die an dem neuesten Papier mitgearbeitet haben, findet wenig Überraschendes. Die Lektüre löst aber an manchen Stellen Irritationen und die Frage aus: Wie steht es wirklich um den Veränderungswillen im deutschen Sport – nicht nur im Dachverband, sondern vor allem auch bei den Mitgliedsorganisationen? Die zusammengetragenen Eckpunkte zeigen: Man dreht sich im Kreis, alte Probleme sind immer noch da – und täglich kommen angesichts der Krisenlage neue dazu, die noch gar nicht berücksichtigt wurden.

So sinniert nun wieder eine Gruppe über die gesellschaftliche Bedeutung und Relevanz des Sports. Die gelte es nun „faktenbasisch“ zu diskutieren, was die Frage herausfordert: Auf welcher Basis hat man bisher diskutiert? Hat man ins Blaue geredet, die eigene Rolle passend interpretiert? Worauf der Satz schließen lässt: „Der organisierte Sport verbindet wie kein anderes Kulturgut in unserer Gesellschaft das Leistungsprinzip mit dem der Solidarität und ist damit ein unvergleichlicher Ort der Wertevermittlung.“ Ist das wirklich noch so im (Spitzen-) Sport? Wird Solidarität zwischen Verbänden und Vereinen geübt? Unter AthletInnen? Können die noch uneingeschränkt Vorbilder sein? Wertevermittlung? Da denkt man auch an die Funktionärskaste, von der einige Mitglieder, national wie international, sicher nicht dazu taugen.

Trendstudie

Fakten. Die soll nun eine wissenschaftliche Studie eruieren. „Dabei gilt es sowohl Akzeptanz, Erwartungen und Vorbehalte aus Sicht der Bevölkerung als auch aus Sicht der SportlerInnen in einer Befragung der beiden Gruppen zu betrachten“, heißt es im Papier. Aus alten Forschungsergebnissen und Analysen soll dann, verbunden mit der neuen Befragung, eine „Trendstudie kontextualisiert“ werden. Umfragen dieser Art gab es schon eine Reihe, aber weder Befindlichkeiten noch gepflegte Vorurteile bringen den Spitzensport weiter.

Und das soll der wegweisende Ansatz sein, um den Spitzensport nach vorne zu bringen, das Geschäftsmodell umzusetzen und mit Events wie Olympischen Spielen Begeisterung in der Republik auszulösen?

Reformkonzepte wurden zum Thema Spitzensport seit Mitte der 1980-er Jahre zuhauf produziert – nur hat man sie kaum realisiert. Warum: Weil die Beteiligten nicht bereit waren und sind, Macht und Befugnisse da abzugeben, wo es nötig ist, Kompromisse zu finden, um seine eigenen Aufgaben und Aufträge zu erledigen. Es hapert am Rollenverständnis – sowohl in den Sportorganisationen selbst wie auch mit externen Partnern. Es stimmt schon sehr nachdenklich, wenn in dem neuen Eckpunktepapier Begriffe wie Steuerung, Richtlinienkompetenz, Sportfachlichkeit oder Sportartspezifik definiert werden müssen. „Naja, die Begriffe werden halt nach dem eigenen Standpunkt ausgelegt“, erklären Verbandsvertreter auf Nachfrage, „deshalb ist es wichtig, dass man sich auf eine Definition einigt.“ Eine „Rollenschärfung“ ist nach Meinung von Experten unumgänglich, um künftig internen Streit, aber auch Auseinandersetzungen mit der Politik zu vermeiden.

Komplexes Partnernetzwerk

Der Leistungssport besteht aus einem komplexen Partnernetzwerk. Eine konsensuale Rollenklärung zwischen allen Netzwerkpartnern fehlt, ebenso wie eine umfängliche Darstellung des Netzwerkes“, schreibt die Projektgruppe, die sich mit der Rollenverteilung beschäftigt und bei diesem Prozess auf jeden Fall den Zuwendungsgeber – sprich Bund (und Länder?) an den Tisch haben möchte.

Der Sport pocht ja immer wieder auf seine Autonomie, verweist auch im neuen Konzept darauf und versteht sich als Impulsgeber. Der Politik gibt er „Handlungsempfehlungen“ mit auf den Weg. Ist das angemessen? Zumal dann Sätze wie dieser auftauchen, die nicht nur Journalisten ins Grübeln bringen sollten: „Der Leistungssport in seiner Vielfalt findet im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen systematisch und abgestimmt Berücksichtigung.“ Eigentlich sollte der Sport sein Konzept, seine Forderungen der Politik vorlegen, die diese dann bewertet, entscheidet und im besten Fall finanziert. Gerade hier zeigt sich, dass eine Klärung der eigenen Rolle und der zwischen Zuwendungsgeber Politik und Zuwendungsempfänger Sport nötig ist.

In anderen Ländern hat man offensichtlich diese Rollen schon lange gefunden und übernommen. Die Lösungen, die in Frankreich, Großbritannien, den nordischen Ländern, Spanien, Italien, Kanada oder den Niederlanden funktionieren – wurden von Politik, dem Sport und häufig auch von der Wirtschaft angenommen, sind politisch und gesamtgesellschaftlich akzeptiert.

Nur Edelmetall?

Die Deutschen haben ihren Weg noch nicht gefunden, weil sie mit der Frage „Welchen Spitzensport wollen wir?“ nicht ehrlich umgehen. Die ehemalige Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, Dagmar Freitag, gab nach den Spielen in Rio de Janeiro 2016 ein bemerkenswertes Interview im Deutschlandfunk, wo sie auf die Frage, ob deutsche Sportförderung künftig nur auf Edelmetall ausgerichtet sein soll, antwortete: „Welchen Spitzensport wollen wir, wollen wir nur Medaillen zählen und uns wirklich mit China und den USA messen, oder realistisch herangehen und schauen, was können wir unter sauberen Bedingungen unseren Athletinnen und Athleten abverlangen.“ Die Antwort blieb sie in dem Gespräch schuldig, wie auch die schwarz-rote Bundesregierung und der Sport selbst. Bis heute ist die Frage weder sport- noch gesellschaftspolitisch beantwortet.

Was wollen wir uns leisten?

Antworten geben müssen die DOSB Führung, vor allem die Fachverbände und die Bundesregierung. Was kann und will sich eine freiheitliche Gesellschaft im Spitzensport leisten? Und was will sie jungen Menschen abverlangen, die sich für eine Athletenkarriere entscheiden? „Der Anspruch der Gesellschaft ist immer, dass wir möglichst viele Medaillen holen sollen.“ Diese Einschätzung von Ruderweltmeister Oliver Zeidler ist nur teilweise richtig: Edelmetall fordern in erster Linie FunktionärInnen, weil es ihnen im deutschen Sportsystem Geld und Einfluss bringt. Und die Politik, die rechtfertigen muss, warum sie für die „freiwillige Aufgabe“ Millionen Steuergeld bewilligt. Vor allem dieser Rechtfertigungszwang, ausgelöst durch weiter wachsende Erfolglosigkeit des deutschen Spitzensports, hatte die Reform 2016 ja zur Folge. Man wollte, so vermittelte damals auch der Dachverband, den deutschen Spitzensport zu neuen Ufern führen, schlagkräftig und effizient machen. Es klappt(e) aber nicht.

Wunschtraum statt Realität

Jüngstes Beispiel: Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Eugene/Oregon. Angesichts der schwachen Leistungen stellt sich schon die Frage: Haben alle, die da geschickt wurden, dort etwas zu suchen? Und das gilt nicht nur für die Leichtathleten. Funktionäre reden gerne über Aktive mit Potenzial, die international bestehen können – was oft eher ein Wunschtraum statt Realität ist.

Der letzte Reformversuch scheiterte nicht zuletzt an der Mutlosigkeit zu eigenen Forderungen – nämlich zu Podestplätzen, was eine gezielte Förderung bestimmter Sportarten gebraucht hätte, die in Cluster nach transparenten Kriterien eingeteilt werden sollten. Die PräsidentInnen wollten alles: Medaillen, Förderung der Vielfalt nach dem Gießkannen-Prinzip.  Und vor allem mehr Geld. Also eigentlich: Weiter so wie gehabt – nur mit mehr Kohle.

Vor kurzem erzählte ein Trainer, der lange im Ausland tätig war, dass man sich dort manchmal über die deutschen Spitzensportdiskussionen lustig mache. „Typisch deutsch“ sei das. „Während die immer noch diskutieren, sind die anderen schon lange im Ziel.“

Mutlosigkeit ist das eine, Eigeninteresse, Machtstreben und Geldscheffeln der Verbände und ihrer Führungsriegen sind das andere. Beides lässt den deutschen Sport mehr auf Quantität als auf Qualität setzen. Es lässt ihn „unregierbar“, altmodisch, behäbig und im eigenen Saft schmorend erscheinen. Und er bremst sich dadurch im modernen internationalen Spitzensport selbst aus. Auszubaden haben es am Ende AthletInnen und TrainerInnen.

Opfer einer Illusion?

Vielleicht sind wir aber auch Opfer einer Illusion, die uns Fußball-Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg in den letzten Tagen in einem Interview raubte: „Wir sind einfach kein Sportland.“ Und damit mag sie recht haben. Die vom DOSB angegebenen 27 Millionen Mitgliedschaften in Deutschlands Vereinen sagen nichts oder relativ wenig über Sportbegeisterung und Sportlichkeit eines Landes aus. Ebensowenig wie im Eigeninteresse medienerzeugte Sport-Hypes bei Groß-Events. Machen wir uns nix vor.

Die Bundestrainerin – die den Sport von allen Seiten kennt – kritisiert zu Recht, dass die Probleme hausgemacht sind. „Wir sind in der Schule die Ersten, die beim Sportunterricht kürzen.“ Im Land der viel gepriesenen Dichter und Denker haben wir nicht nur viel geistiges Potenzial vernachlässigt und verloren, sondern nach wie vor ist die körperliche Verfassung und Gesundheit offensichtlich zweitrangig. Daran wird auch ein Bewegungsgipfel im September sicher nicht viel ändern. Seit Jahrzehnten ist Schulsport ein Thema, bei dem die KultusministerInnen zum steten Ärgernis werden und sich vor allem durch Sonntagsreden hervortun. Wie aber soll man Talente finden, Kinder für Sport begeistern, wenn der erste Unterricht, der ausfällt, – auch ohne Krisen – der Sportunterricht ist. Wenn LehrerInnen – oft fachfremd – Kindern schon von klein auf lebenslanges Sporttreiben und Begeisterung für Bewegung vermiesen. Wenn Eltern ihren Nachwuchs überbehüten und ihnen bloß keine körperliche Anstrengungen zumuten.

Schulsport ein entscheidender Faktor

Er hätte „lieber ein Volk von Sportlern als ein Volk von Weltmeistern“, antwortete Willi Daume, Präsident des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees von Deutschland 1964 in einem ZDF-Interview auf die Frage von Günter Gaus, wie man den Sport in die Mitte der Gesellschaft tragen und Begeisterung auslösen könne. Schulsport nannte Daume als einen der entscheidenen Faktoren – auch im Bezug auf den Spitzensport.

Wir sind kein Sportland, wenn Sporttreiben mit sportivem Lebensstil verwechselt wird, Eltern nur auf ihre eigene Fitness achten. Und wenn der Besuch von Sportevents, den man dann auf sozialen Medien unter dem Titel: „Ich war dabei, ich bin Trendsetter“, ausreicht, als „sportbegeisterte Nation“ zu gelten. Insofern ist zumindest die neue Politik im DOSB, sich mal wieder intensiv dem Breitensport zu widmen, schon ein richtiger Ansatz.

Sport an der Basis spielte seit der Gründung des DOSB 2006 eher eine Nebenrolle. Und auch bei den Reformüberlegungen waren Themen wie Talentsichtung etwa mit entsprechenden Schul-Vereins-Kooperationen, und Nachwuchsarbeit eher erstmal sekundär. Die Umsetzung blieb mangelhaft, wohl nicht zuletzt, weil auch die politischen Partner aus den Ländern das nicht so wichtig nahmen oder es zu mühsam war, sich auf eine Linie zu einigen.

Wie überhaupt vieles an der Bund-Länder-Konstellation scheiterte. Ob die Finanzierung oder die Streichung bei der Stützpunktfrage, ob Traineranstellungen und deren Finanzierung. Die Tinte auf den Vereinbarungspapieren war kaum trocken, da gab es schon wieder irgendwelche Querschüsse. Auch aus dem Sport.

Umsetzungs-Probleme

Wie gesagt die alten Probleme sind immer noch da.  Und es regt schon fast auf, wenn man dann unter der Überschrift „Impulse des Sports“ , die in den einzelnen Arbeitsgruppen aufgeführt werden, Dinge liest, die der Sport schon längst hätte erledigen können. Etwa „Umsetzung der Inhalte des Trainerkonzeptes durch die Spitzenverbände und wo möglich durch die Olympiastützpunkte und die Landessportbünde bzw. die Landesfachverbände“. Oder „Prüfung und ggf. Anpassung der Angebotsstruktur der Führungs-Akademie und der Trainerakademie Köln in der Fort- und Weiterbildung.“

Umsetzungsprobleme. Hat man die im Sport wegen Unfähigkeit oder Unwilligkeit? Entscheiden da immer noch PräsidentInnen, die weit weg sind vom täglichen Spitzensport, anstatt ihren Sportdirektoren, die nahe dran sind, zu vertrauen und sportfachliche Entscheidungsgewalt zu übertragen? Übrigens: Es soll immer noch deutsche Sportverbände geben,  die keine/n SportdirektorIn haben – wegen angeblichen Fachkräftemangels, der auch vor dem Sport offensichtlich nicht halt macht.

Aufgaben nicht erfüllen können

Um auf das Daume-Interview vor 58 Jahren zurückzukommen: Auch da hat er zum Thema Funktionäre, von denen damals einigen Eigeninteresse vorgeworfen wurde, eine gewisse Weitsicht gehabt. „Es fehlt eher an Persönlichkeiten, die den Aufgaben gewachsen sind.“ Er problematisierte  – der DSB hatte sechs Millionen Mitglieder und die Spiele von Tokio standen vor der Tür -, dass mit weiteren Aufgaben weitere Anforderungen folgen, die einige, die im Sport führen wollen, nicht nur wegen beruflicher Belastung nicht erfüllen können.

Ist München 50 Jahre nach den Olympischen Spielen dann vielleicht der Wendepunkt, der Ort, wo für den deutschen Spitzensport endlich die entscheidenden Weichen in eine moderne Zukunft gestellt werden? Willi Daume und der damalige Oberbürgermeister Jochen Vogel haben es  damals geschafft,  dass Spitzensport – auch von Kritikern und distanzierten Intellektuellen – gesamtgesellschaftlich getragen wurde.  Times are changing – auch im deutschen Sport? Da bleiben eher Zweifel.