„Zwischen Stolz und Alarmismus”

Professor Thieme über den Sportverein in und nach der Pandemie

Berlin, 26. Januar. Seit über 200 Jahren gibt es den deutschen Sportverein, seit nahezu 50 Jahren ist er ein Forschungsobjekt. Sein Untergang wurde schon öfter vorhergesagt, Krisenszenarien wurden herbeigeredet – den Verein gibt es noch immer. Nun hat die Pandemie eine weltweite Krise ausgelöst, die Probleme für alle mit sich bringt. Auch für die Vereine. Wer in diesen Tagen mit Vereinsverantwortlichen spricht, dem begegnet einerseits Wut, weil die Untergangsstimmung, die da von manchen Sportverantwortlichen verbreitet wird, sie nervt. Anderseits  sind sie voll Tatendrang, halten auch im Lockdown Kontakt zu ihren Mitgliedern mit Onlinekursen oder Telefonaten. Und bereiten sich schon mal auf die Zeit nach dem Lockdown vor. „Wir brauchen Zuversicht und gute Ideen – und sollten Krisen nicht größer machen als sie sind“  sagt Professor Lutz Thieme  von der Hochschule Koblenz . Er forscht auch zum Thema Sportverein seit Jahren. Mit ihm sprach Sportspitze.de über den Verein in Zeiten der Pandemie und die Zeiten danach.

Herr Professor Thieme, Sie haben den deutschen Verein als sehr „robust“ beschrieben. Zeigt er sich auch gegenüber der Pandemie widerstandsfähig?

Thieme: Ja, auch in dieser Ausnahmesituation hat sich der Verein als Organisationsform gut geschlagen. Spurlos wird die Pandemie aber auch an den Sportvereinen nicht vorbeigehen.

Es werden jetzt viele Hochrechnungen und Studien – mal mehr, mal weniger seriös – zum Thema Verein und Covid-Folgen vorgelegt, die der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, wenn nicht Milliarden Steuergeld in den deutschen Sport gebuttert werden, dann gehen in „Sport-Deutschland” die Lichter aus. Gibt es wirklich belastbare Zahlen, die diesen Schluss zulassen?

Thieme: Ich habe solche Zahlen jedenfalls noch nicht gesehen. Auch in den Hilfsprogrammen der Bundesländer scheint ja noch Luft zu sein, so dass diese vielerorts verlängert wurden. Klar ist aber, dass auch die Schwierigkeiten für die Vereine mit der Länge des ausgesetzten Sportbetriebs steigen.

Ein Problem, das für die Existenzbedrohung genannt wird, ist die Mitgliederentwicklung. In normalen Zeiten halten sich Vereinsaus- und -eintritte immer so die Waage. Nun gibt es die Befürchtung, dass zu viele austreten und keiner mehr eintritt. Wie sehen Sie das?

Thieme:Aus den Sportvereinen treten je nach Größe jedes Jahr zwischen 5 und 15 Prozent der Mitglieder aus. Die vorliegenden unsystematischen Informationen deuten eher darauf hin, dass es 2020 keine bedeutsam höheren Austritte aus Sportvereinen gab. Allerdings fehlen die neuen Mitglieder, die sonst die Austritte kompensieren. Belastbare Daten dürften erst die Mitgliedsmeldungen der Vereine erbringen, die die Zahlen mit Stand 01.01.2021 widerspiegeln. Ich bin gespannt, mit welcher Botschaft der organisierte Sport diese Zahlen veröffentlicht. Zwischen Stolz darauf, wie gut sich die Vereine geschlagen haben und Alarmismus einschließlich des Rufs nach mehr öffentlichen Mitteln ist ja alles möglich.

Auf die 90 000 Sportvereine mit 27 Millionen Mitgliedern verweisen SportfunktionärInnen ja immer gerne – vor allem in Sonntagsreden. In den Einlassungen zur Pandemie wird deutlich, dass Sportverantwortliche vor allem auf mehr Wachstum setzen. Oder zumindest den Status quo erhalten wollen. In den meisten LSB stagnieren die Mitgliederzahlen. Könnte nach der Pandemie ein Zuwachsboom im organisierten Sport folgen? Und wenn ja, in welchen Bereichen?

Thieme: Die Zahl der Mitgliedschaften in allen Vereinen des organisierten Sports liegt seit mehr als 15 Jahren bei rund 27 Millionen. Mal gewinnt der eine Fachverband Mitglieder, dafür verliert der andere. In der Summe kann also von Wachstum keine Rede sein. Sportverbände und Vereine folgen zudem einer unterschiedlichen Wachstumslogik.

Was meinen Sie damit?

Thieme: Ein durchschnittlicher Sportverband lebt von Mitgliedsbeiträgen und öffentlichen Zuschüssen. Je mehr Mitglieder, desto höher das Budget und die gesellschafts- und sportpolitische Bedeutung und damit auch der Umfang der Fördermittel. Das Budget eines durchschnittlichen Vereins besteht aber nicht nur aus Geld, sondern – sogar in Großsportvereinen – wesentlich aus ehrenamtlicher Arbeit. Allein mit den Mitgliedsbeiträgen könnten Vereine ihre Angebote nicht stemmen. Daraus folgt, dass das durchschnittliche Vereinsmitglied nicht nur den Mitgliedsbeitrag, sondern eben auch ehrenamtliche Arbeit in den Verein einbringen muss. Der Verein hat sein Mitgliedspotenzial ausgeschöpft, wenn er in seinem Einzugsbereich alle Interessenten erreicht hat, die in der Summe die Mitgliedsbeiträge und das notwendige Maß an ehrenamtlicher Arbeit in den Verein einbringen. Mitglieder, die nur den Mitgliedsbeitrag zahlen wollen, entziehen dem Verein Ressourcen.

Infolgedessen spielt sich in den Übungs- und Trainingsgruppen und im Gesamtverein ein soziales Gleichgewicht ein, das zu einem Optimum an Mitgliedern, nicht aber zu einem Maximum führt. Setzen Vereine auf Angebote, die sich auch ohne Ehrenamt tragen, erodiert ihr innerer Zusammenhalt. Sie werden von Interessenorganisationen zu Arbeitsorganisationen und mit anderen Dienstleistungsanbietern austauschbar.

Welche Vereine haben denn derzeit die meisten Probleme: Kleine Vereine oder eher größere, die nicht nur von Mitgliedsbeiträgen, sondern zum Beispiel Kursangeboten leben?

Thieme: Finanzielle Probleme haben vor allem die Vereine, die eigene Sportstätten oder andere Infrastrukturen unterhalten, Vereine, die sehr stark auf hauptamtliche Mitarbeiter angewiesen sind und Vereine, die Einnahmen erzielt haben, die unmittelbar an Beteiligung – sei es als Zuschauer oder in Kursen – geknüpft sind. Zudem dürften es Vereine schwerer als andere haben, die in den letzten Jahren mit Blick auf eine positive Mitgliederentwicklung Investitionen getätigt hatten.

Über Geld wird derzeit sehr viel geredet, über soziale Folgen, und wie man die nach der Pandemie aufarbeitet, relativ wenig. Was kommt aus Ihrer Sicht auf die Vereine zu, um wieder- sagen wir – auf Betriebstemperatur zu kommen?

Thieme: Wie schon gesagt: Die Sportvereine dürften im vergangenen Jahr durchschnittlich etwa 10 – 15 Prozent ihrer Mitglieder verloren haben. Die spannende Frage ist nun, ob die fehlenden Neueintritte nach der Pandemie kompensiert werden können.

Oder ob potenzielle Vereinsneulinge bereits andere Sportgewohnheiten angenommen haben. Gleiches gilt prinzipiell auch für die Mitglieder, die ihren Sport im Verein kaum ausüben konnten, wobei für die in Mannschaftssportarten gebundenen Mitglieder eine sehr hohe Rückkehrrate zu erwarten ist.

Vereinsvorstände hatten auch während der Pandemie gut zu tun. Bei vielen ehrenamtlichen Übungsleitern und Trainern war das anders – sie hatten plötzlich freie Zeit, keine regelmäßige Verpflichtung. Inwieweit sie sich dran gewöhnt haben und ihr Ehrenamt aufgeben, lässt sich sehr schwer prognostizieren.

Ein anderer möglicher negativer Effekt könnte sein, dass Kinder und Jugendliche fast ein Jahr keine neue Sportart lernen konnten. Hier entsteht eine Situation vergleichbar zu den doppelten Abiturjahrgängen nach Verkürzung der Abiturzeit: Hochschulen und Ausbildungsbetriebe mussten viele zusätzliche Studien- und Ausbildungsplätze schaffen. Für den Verein heißt das: Die erhöhte Zahl von Interessenten – denken Sie zum Beispiel an Schwimmkurse – wird nicht so einfach zu bewältigen sein, weil es an verfügbaren Sportstätten und Übungsleitern mangeln wird.

Das kann ja nun der einzelne Verein so nicht stemmen. Müsste da zum Beispiel nicht der DOSB für seine Mitgliedsorganisationen Vorarbeit leisten?

Thieme: Ja, hier beginnt dann auch die Verantwortung der Verbände bis hin zum DOSB, ihre Mitgliedsvereine bei der Vorbereitung auf einen Start parallel zum Auslaufen der Pandemie zu unterstützen. Nachdem die Sportbünde und Fachverbände den immensen Beratungsbedarf der Vereine im Zuge der Pandemie gut bewältigt haben, müsste nunmehr vermehrt das Anlaufen des Sportbetriebs, Strategien zur Bewältigung der absehbaren Folgen aus der Einstellung des Sportbetriebs sowie nachfolgend eine Diskussion der strukturellen Schwachstellen im organisierten Sport, die durch die Pandemie sichtbar wurden, in den Mittelpunkt rücken.

Sieht das Vereinsleben, das Angebot nach der Pandemie, anders aus als vorher? Und womit kann ein Verein denn neue Mitglieder gewinnen?

Thieme: Im Vereinsleben finden sich jetzt Neuerungen, die auch nach der Pandemie bleiben werden. Der Vorstand wird weiter deutlich digitaler arbeiten, Online-Sportkurse werden fester Bestandteil von Vereinsangeboten, Übungsleiter- und Traineraus- und -fortbildungen werden viel häufiger in Blended Learning Formaten stattfinden. Aus meiner Sicht sollten die Vereine ihr Augenmerk zunächst aber auf die Rückgewinnung ihrer Mitglieder und ehrenamtlich Engagierten legen und erst dann behutsam nach neuen Mitgliedern Ausschau halten.

Der Sport hatte intern und extern schon manche Krise zu meistern, aber vor allem in den letzten drei Jahrzehnten nie eine Krise als Chance genutzt, einen gesellschaftlichen Diskurs über die Rolle des (Spitzen-) Sports und seine Entwicklung in Deutschland anzugehen. Es gäbe ja unzählige Fragen zu diskutieren. Wäre die Pandemie wieder mal ein Anlass, eine Debatte anzustoßen? 1987 gab es einen Kongress „Menschen imSport 2000“ des Deutschen Sportbundes in Berlin. Wäre es nicht an der Zeit, so etwas zu wiederholen, anstatt immer nur nahezu folgenlose Statements zu veröffentlichen?

Thieme: Na ja, die Statements sind ja nicht ganz folgenlos. Sie sind Signale in Richtung der eigenen Mitglieder und der politischen Entscheidungsträger und werden von beiden Adressaten auch deshalb erwartet, weil es vergleichbare Verbände wie Kultur- oder Branchenverbände ebenso praktizieren. Letztlich folgen Zukunftskongresse einem vergleichbaren Muster. Es muss gelingen, Impulse zu erzeugen, die das Handeln der DOSB-Mitgliedsorganisationen und letztlich auch möglichst vieler Vereine beeinflussen, mindestens jedoch zu irritieren. Das bedeutet, dass aus Statements, Zukunftskongressen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und anderen Dingen Informations- und Beratungsströme generiert werden müssen, die die jeweiligen Akteure vor Ort im Sportverein ohne Paternalismus erreichen. Es ist die Problemlösungskompetenz in den Vereinen, die unterstützt werden sollte.