Wittgenstein am Ball und Beckenbauer wundert sich

Philosoph Gunter Gebauer bringt uns den Fußball in seinem Buch „Das Leben in 90 Minuten“ mal ganz anders näher

Berlin, 9. Juni. Anstoß zur EURO 2016. Vor dieser Fußball-Europameisterschaft ist in mehrfacher Hinsicht vieles anders: Hausgemachte Skandale im internationalen und nationalen Fußball trüben den Spaß am Spiel. Aber viel gravierender ist die politische Lage: Der internationale Terrorismus hat die Welt aus den Angeln gehoben. Flüchtlinge, die sich vor Terror und Krieg ins sichere Europa retten wollen, müssen feststellen, dass sie hier nicht überall willkommen sind, die Europäer zerstritten sind und der Koloss EU sich als unbeweglich, zaudernd, wankelmütig und lösungsunfähig erweist. Unbeschwerte Vorfreude auf die Spiele kann es deshalb kaum geben.

Gastgeberland Frankreich, von Terroranschlägen schwer getroffen und derzeit von Streiks zwischendurch lahmgelegt, versucht dennoch unter immensen Sicherheitsvorkehrungen, die EM gelassen über die Bühne zu bringen. Und Terror und Angst zu trotzen, sich Lebensfreude und Zuversicht nicht nehmen zu lassen.

Und da wir wissen, dass die Wahrheit auf dem Platz liegt, auch das Leben (manchmal) ein Spiel ist, mal ein anderer Einstieg in das vierwöchige Fußball-Spektakel – bevor es heißt „Allez les bleus“.

Münchener Olympiastadion. Auf der einen Seite die deutsche Nationalmannschaft. Mit Gottfried Leibniz im Tor, Immanuel Kant, Kapitän Georg „Nobby“ Hegel, Arthur Schopenhauer, Friedrich Schelling, Franz Beckenbauer, Karl Jaspers, Friedrich Schlegel, Ludwig Wittgenstein, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger.

Sie treten heute im Finale gegen das Nationalteam aus Griechenland an, Platon steht im Tor, vor ihm Epiktet, Aristoteles, „Chopper“ Sophokles, Empedokles von Akragas, Plotin, Epikur, Heraklit, Demokrit, Kapitän Sokrates, Archimedes.

Gelb für Nietzsche

Anpfiff durch Schiedsrichter Konfuzius. Die Teams tasten sich erst einmal ab, schreiten im Kreis mit gesenktem Haupt, gehen aufeinander zu – Achtung – Köpfe… Nietzsche erhält die gelbe Karte, weil er Konfuzius bezichtigt, er habe keinen freien Willen, Karl Marx kommt für Wittgenstein – warum eigentlich? Archimedes ruft in der 90. Minute „Heureka!“, und den Griechen geht endlich ein Licht auf , wozu ein Ball auf dem Platz herumkullert. Archimedes schnappt sich das runde Ding – Flanke auf Sokrates, und der verwandelt per Kopf…Tor, Tor, Tor!

Nur einer, der sowieso nicht weiß, was er hier soll, kommt aus der Tiefe des Raums getrabt und wirkt verwirrt: Lichtgestalt Beckenbauer ist verunsichert, während die anderen Deutschen über das Tor debattieren. Hegel redet über die Realität, Kant über den kategorischen Imperativ usw., usw….

Das Fußballspiel der Philosophen“ ist zu Ende, ohne Aufklärung Beckenbauers.1972 brachte in diesem köstlichen Film-Sketch die Komikertruppe Monty Python Fußball und Philosophie zusammen und alle Freunde skurrilen Humors zum Lachen.

Fan trifft Philosophen

Philosophie und Fußball. Manche Kicker oder Trainer bleiben durch ihre sehr eigene „Fußball-Philosophie“ wie „Zuerst hatten wir kein Glück, dann kam auch noch Pech dazu“ (Fußballer Jürgen Wegmann), „Mal verliert man, mal gewinnen die anderen“ (Otto Rehagel), oder „Es gibt nur eine Möglichkeit: Sieg, Unentschieden oder Niederlage“ ( Franz Beckenbauer) auch nach ihrem persönlichen Karriereende immer noch im Gespräch – obwohl nicht alle begnadete Rasenflitzer waren.

In dem Buch „Das Leben in 90 Minuten – Eine Philosophie des Fußballs“ geht es aber um wirkliche Philosophie. Diskurs-Ort ist auch diesmal nicht der Olivenhain mit Zikaden und Gerüchen mediterraner Kräuter. Sondern da treffen sich auf dem Spielfeld an der Mittellinie der Fan und der Philosoph Gunter Gebauer, und sie spielen sich im dialektischen Frage- und Antwortspiel über das Leben im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen die Bälle zu. Schwere Kost an manchen Stellen, aber köstlich und interessant – kurzweilige 90 Minuten mit spannenden Szenen, viel Leidenschaft und Wissen.

Nur Maradona darf das

Haben Sie sich schon mal gefragt, warum man im Fußball nicht die Hände benutzen darf, es sei denn man heißt Maradona? Warum muss man also mit den Füßen, die nun auch nicht immer so wollen wie der Kopf, der bei Kickern durchschnittlich 1,80 m über ihnen thront, kommunizieren?

Das beantwortet Gebauer, einer der profiliertesten (Sport-)philosophen und Soziologen, genauso klar wie etwa die Frage, warum sich auf den Rängen plötzlich wildfremde Menschen in den Armen liegen und sich und die Mannschaft nach einem Sieg feiern.

Jetzt vor dem Beginn der EM in Frankreich wäre vielleicht für den einen oder anderen Fan die Lektüre hilfreich, um nicht nur das Spiel, sondern auch sich, seine Eigenheiten und Reaktionen als Fan und Mensch besser zu verstehen: Etwa, wenn ein kleiner Fehler auf dem Rasen nicht nur das Spiel, sondern auch die eigene Stimmung kippen lassen kann. Oder der Schiedsrichter die Drohung „Schiri, wir wissen, wo Dein Auto steht“, ernst nehmen sollte. Oder, wenn Gebauer an große Spiele und Spieler erinnert, die durch ihren individuellen Einsatz alles zum Guten wendeten – obwohl es 89 Minuten lang nicht danach aussah.

Bemühen wir in diesem Zusammenhang einen Trainer-Philosophen: „Ein Spiel hat 90 Minuten“, hatte schon Bundestrainer Sepp Herberger erkannt und damit indirekt die Spieler aufgefordert: Nicht aufgeben, weitermachen bis zum bitteren Ende.

Gebauer sagt, er habe das Buch auch deshalb geschrieben, weil sich viele Deutsche für Philosophie interessieren. Stimmt. Und auch für Fußball. Stimmt. Und so liegt es eigentlich nahe, das Leben in Verbindung mit dem Fußball zu betrachten. Oder umgekehrt. Fußball ist unser Leben, heißt es doch schon in so einem uralten nervenden WM-Lied.

Prinzip Fußball- Zufall

Haben Sie zum Beispiel wirklich schon mal über das Spielfeld oder die Rolle des Balles im Fußball nachgedacht? Natürlich werden Sie nun sagen: Ohne Ball kann man nicht kicken. Klar, aber weiter gedacht: Der Ball macht das Prinzip Zufall zu einem entscheidenden Faktor des Spieles: Ist die Interaktion zwischen Fuß und Ball optimal, kann das auch zu einem Tor führen. Aber verliert man den Ball, stimmt der Winkel nicht, rutscht der Ball von der Sohle ab, ist das Zuspiel schlecht – ist die Chance vertan. Das spanische Tiki-Taka-Spiel, das schnelle Kurzpass-Spiel, die eleganten Ballstaffetten begeistern. Und ermüden zugleich. Oder die Dribbelkünstler und ihre Ballverliebtheit, die auch zum Desaster werden kann, wenn man sich nicht früh genug vom Leder trennt, fordern schon manchmal den Unmut der Fans heraus.

Man, das heißt, Teams können auch manchmal vor lauter Ästhetik und Schönheit des Spiels in demselben untergehen. Vor allem, wenn der Gegner ohne Geschnörkel-Lametta auf das Tor zustürmt.

Mensch-Sein

An vielen Beispielen erklärt Gebauer Fußball und, was der Fußball für unser Mensch-Sein bedeutet. Und besonders auch für uns Deutsche, die sich in einen wahren Fußballrausch steigern können. „Der Mythos des Fußballs trägt in Deutschland seit dem `Sommermärchen´dazu bei, das Nationalgefühl zu konsolidieren und gegenüber Skeptikern akzeptabel zu machen.“

Und Fußball ist gesellschaftsfähig – quer durch alle Schichten identifizieren sich Fans und Gelegenheitsfans, Eventsüchtige und Bürger und Bürgerinnen mit der Nationalmannschaft. Und wehe, es wettert einer gegen die Jungs. Ein Shitstorm ist ihm sicher. Selbst die Kanzlerin lässt sich heute zwischen verschwitzten Nationalspielern in der Umkleidekabine fotografieren und ist gerne zum personifizierten Glücksbringer des Teams geworden.

Riff-Piraten plündern den Fußball

Der Autor blendet auch die Auswüchse des Fußballs und des Drumherums nicht aus: Die korrupten Funktionärsgilden in nationalen und internationalen Verbänden, die das Spiel und den Fußball wie „gefährliche Riff-Piraten“ ausplündern. Die keine Skrupel haben, die Gesundheit der Spieler zu riskieren, nur um Geld zu machen – die WM in Katar lässt grüßen. Die Rolle der Medien.

Aber – wie schon an anderer Stelle darüber nachgedacht – im Fußball hängt viel vom Zufall ab – es ist eben kein Strategiespiel: Der Feldherr (Trainer) kann im Vorfeld die Wege seiner Truppe planen, aber nicht ihre physische Form und Kampfmoral. Gegner und Ball sind nur bedingt zu kontrollieren, schreibt Gebauer.

Deshalb muss man gelungene Spielzüge im Fußball als kleine Wunder betrachten, „die uns zeigen, dass eine Gruppe von Menschen es zumindest immer wieder fertig bringen kann. Sie sind keine Verheißung eines höheren Könnens oder einer besseren Welt. Sie öffnen aber einen kurzen Moment lang den Raum der Möglichkeiten für das eigentlich Unmögliche.“ Fazit des Philosophen.

Die 90 Buch-Minuten sind um. Abpfiff. Es gäbe aber da noch die eine oder andere Frage.

Dann eben ein Lese-Wiederholungsspiel. Nicht nur für Fans oder Freizeitphilosophen, sondern für alle, die sich für das Leben und für Fußball interessieren. Für Mitglieder und Funktionäre des Deutschen Fußballbundes sollte es Pflichtlektüre sein. Als DFB-Geschenk geeignet ist es nicht nur unterm Weihnachtsbaum oder als Trainingseinheit für die Sommer/Winterpause.

Gunter Gebauer: Das Leben in 90 Minuten – Eine Philosophie des Fußballs, Pantheon, 320 Seiten, 14.99 Euro, ISBN 978-3 -570 -55266-7